Der Brief an die Hebräer

Kapitel 6

Der Brief an die Hebräer

Aus dem Anfang dieses Kapitels geht hervor, was Paulus unter den Unmündigen versteht, die mit Milch ernährt werden mussten, und unter den Erwachsenen, die feste Speise vertragen konnten. Die Unmündigen waren solche, die sich unter den Satzungen und Zeremonien des Gesetzes befanden (siehe Gal 4); während die Erwachsenen die christliche Stellung nach der vollen Offenbarung der Herrlichkeit des Christus, gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe, begriffen und eingenommen hatten. Das Wort vom Anfang des Christus war die Lehre, die jener Zeit angehörte, da Christus noch nicht erschienen war. „Einen Grund legen mit der Buße von toten Werken und dem Glauben an Gott, der Lehre von Waschungen und dem Händ-Auflegen und der Toten-Auferstehung und dem ewigen Gericht“, wovon Vers 1 und 2 spricht, sind Lehrsätze, die schon vor der Ankunft des Christus bekannt waren und geglaubt wurden. Darüber wollte er reden, wenn Gott es zuließe (Vers 3), aber durch Christus waren andere und erhabenere Wahrheiten ans Licht gebracht worden, und darum war es Rückgang, diese erhabeneren Wahrheiten aus dem Auge zu verlieren und zu den ersten Grundsätzen zurückzukehren.

Die Hebräer standen in Gefahr, dies zu tun. Die schweren und andauernden Verfolgungen von seiten der Juden, denen sie ausgesetzt waren, gaben dem Teufel Anlass, sie zu versuchen. Er stellte ihnen vor, dass, wenn sie nicht so streng an ihrer Absonderung festhielten, sondern die jüdischen Gebräuche und Satzungen wieder annähmen und beobachteten, sie von der Verfolgung erlöst würden und ein ruhigeres Leben führen könnten. Für solche, die in den Zeremonien des Gesetzes mit Recht die Einsetzungen des Herrn erkannten, war diese Versuchung gefährlich und verführerisch. Hörten sie darauf, dann würden sie allmählich zum Judentum zurückkehren und so von selber zur Verwerfung des Christentums kommen. Dies würde dann die schrecklichsten Folgen nach sich ziehen. Um sie davor zu bewahren, spricht Paulus auf höchst ernstliche Weise zu ihnen und stellt ihnen die Folgen des Horchens auf die Versuchung Satans deutlich und scharf vor Augen. „Denn es ist unmöglich, diejenigen, welche einmal erleuchtet waren und geschmeckt haben die himmlische Gabe und teilhaftig geworden sind des Heiligen Geistes und geschmeckt haben das gute Wort Gottes und, die Wunderwerke des zukünftigen Zeitalters, und abgefallen sind, wiederum zur Buße zu erneuern, indem sie den Sohn Gottes für sich selbst kreuzigen und Ihn zur Schau stellen“ (Verse 4–6).

Diese Worte sind, durch Missverständnis, für viele aufrichtige Seelen ein Hindernis geworden, und es ist unsere Berufung, laut der Schrift, dieses Hindernis wegzunehmen. Die Lösung der Schwierigkeit liegt in den Worten „abgefallen sind“. Paulus sagt nicht, „sie, die gefallen sind“, sondern sie, die „abgefallen sind“, nicht wiederum zur Buße erneuert werden können. Das ist ein himmelweiter Unterschied, wie jeder Leser bei einigem Nachdenken selbst erkennen kann. Fallen heißt, sich der einen oder andern Sünde schuldig machen; abfallen heißt, den christlichen Glauben verwerfen und Christus den Abschied geben. Hätte Paulus gesagt, dass, wer gefallen ist, nicht mehr zur Buße erneuert werden kann, dann sähe es für jeden von uns traurig aus, denn wer von uns, wer von den Gläubigen auf Erden, durch alle Zeiten hindurch, ist nicht in die eine oder andere Sünde (bei Gott ist sie weder groß noch klein) gefallen? Aber das hat Paulus glücklicherweise nicht gesagt, sondern ausdrücklich, dass, wer abgefallen ist, wer Christum verwirft und das Christentum abschwört, nicht zur Buße erneuert werden kann. Dadurch, liebe bekümmerte Seele, ist diese große Verlegenheit von deinem Angesicht weggenommen. Denn wessen du dich auch beschuldigst und anklagst, an das Verwerfen von Christus und das Verleugnen des Christentums denkst du nicht im entferntesten; im Gegenteil, du sehnst dich nach mehr Gemeinschaft mit Christus; dich verlangt nach mehr Glauben und Liebe; du betrauerst deine Sünden und rufst nach Vergebung. Bedenke auch, dass sie, die abgefallen sind und darum nicht mehr zur Buße erneuert werden können, ganz verhärtet sind und bei ihnen also keine Rede mehr sein kann von Unruhe über ihre Sünde, von Angst über ihren Unglauben und von Selbstvorwürfen über ihre Untreue. Das Gericht des Herrn über ihren Abfall ist gerecht, keine Wirkungen des Heiligen Geistes können mehr in ihrer Seele stattfinden.

Ferner ist es wichtig zu beachten, dass alles, was von denen gesagt wird, die abfallen können, vorhanden sein kann, ohne dass jemand aus Gott geboren und des Lebens teilhaftig ist. Man denke nur an Judas und an Simon, den Zauberer, um zu wissen, dass ein Mensch, ohne aus Gott geboren und des ewigen Lebens teilhaftig zu sein, erleuchtet sein, die himmlische Gabe, das gute Wort Gottes und die Kräfte des zukünftigen Zeitalters geschmeckt haben kann. Judas z. B. verkündigte das Evangelium, tat Wunder und trieb sogar Teufel aus. So geben also die Worte des Paulus gar keinen Grund zu der Irrlehre, dass es einen Abfall der Heiligen gibt, wenn wenigstens unter Heiligen Kinder Gottes, aus Gott Geborene, verstanden wird. Die Worte des Herrn in Joh 10, 27–30 sind übrigens in dieser Hinsicht entscheidend. „Meine Schafe hören Meine Stimme, und Ich kenne sie, und sie folgen Mir; und Ich gebe ihnen ewiges Leben; und sie gehen nicht verloren ewiglich, und niemand wird sie aus Meiner Hand rauben. Mein Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer als alles; und niemand kann sie aus der Hand Meines Vaters rauben. Ich und der Vater sind eins.“

Das Beispiel, das Paulus hier gebraucht, um seine Meinung deutlich zu machen, lässt uns sehen, dass er nicht an solche denkt, die durch den Heiligen Geist wiedergeboren und durch den Glauben an Christus des ewigen Lebens teilhaftig sind, sondern ausschließlich an die, welche solche Vorrechte vom Christentum empfangen haben, die das Teil jemandes sein können, der Christus angenommen hat ohne das Leben Gottes empfangen zu haben. Er sagt ja: „Denn das Land, welches den häufig über dasselbe kommenden Regen trinkt und nützliches Kraut hervorbringt für diejenigen, um derentwillen es auch bebaut wird, empfängt Segen von Gott; wenn es aber Dornen und Disteln hervorbringt, so ist es unbewährt und dem Fluch nahe, und sein Ende ist die Verbrennung“ (Verse 7–8). Die Ursache, dass das eine Land nützliches Kraut und das andere Dornen und Disteln hervorbringt, liegt im Zustand des Bodens. Das eine Land ist fruchtbar, und das andere ist unfruchtbar. Obschon beide Regen empfangen, bringt das eine nützliches Kraut und das andere Dornen und Disteln hervor. So können auch zwei Menschen unter das Evangelium kommen, der Vorrechte des Christentums teilhaftig werden und eine Zeitlang äußerlich nicht voneinander zu unterscheiden sein; aber der eine, der aus Gott geboren ist, trägt Frucht, während der andere, keine Frucht tragend, zum Abfall kommen kann.

Die Hebräer nun, an die Paulus schreibt, gehörten zu den ersten. Sie waren aus Gott geboren, denn sie hatten Frucht getragen. Paulus ist dessen gewiss. Er sagt zu ihnen: „Wir sind in Bezug auf euch, Geliebte, von bessern und mit der Seligkeit verbundenen Dingen überzeugt, wenn wir auch also reden. Denn Gott ist nicht ungerecht, eures Werkes zu vergessen und der Liebe, die ihr gegen Seinen Namen bewiesen, da ihr den Heiligen gedient habt und dient“ (Verse 9–10). Die ernsten Ermahnungen, die er an sie richtete, sollten nicht dazu dienen, seinen Zweifel an ihrer Gemeinschaft mit Christus auszudrücken, sondern, um sie auf die schrecklichen Folgen des Horchens auf die Versuchung Satans hinzuweisen und sie zurückzuhalten vom Begehen eines Pfades, dessen Ende Abfall und ewiges Verderben sein würde.

Man könnte nun noch die Frage stellen, ob es auch jetzt noch solche Abgefallene gibt, von denen Paulus redet. Wenn wir seine Worte buchstäblich nehmen, dann sicher nicht. Der Apostel redet doch von Hebräern, die das Judentum verlassen und Christus als ihren Heiland und Herrn angenommen hatten, und die, wenn sie abfielen, für sich den Sohn Gottes kreuzigten und der Schmach preisgaben (Vers 6). Indem sie das Judentum verließen und das Christentum annahmen, hatten sie sich an der Verwerfung und dem Tod des Christus schuldig erklärt. Indem sie das Christentum abschwuren und zum Judentum zurückkehrten, würden sie den Tod des Christus als gerechtfertigt erklären und deshalb den Sohn Gottes für sich kreuzigen und zur Schau stellen, da sie Ihn dann für einen Gotteslästerer und Betrüger halten würden. Obschon dies auf unsere gegenwärtigen Zustände nicht zutrifft, so ist doch jeder, der das Christentum abschwört und Christus öffentlich verwirft, im Grund des Abfalls schuldig; und in den letzten Tagen der christlichen Kirche auf Erden werden Tausende, indem sie sich in die Arme des Antichrists werfen, sich dieser schrecklichen Sünde schuldig machen, über die dann das Gericht der Verhärtung und schließlich Gottes Rache kommen wird. (Siehe 2. Thes 2, 11. 12; 1, 7–9.)

Die gläubigen Hebräer hatten durch ihren Dienst an den Heiligen und durch ihre guten Werke ihre Liebe für den Namen Jesu bewiesen; Paulus ermahnt sie deshalb, nicht nachzulassen, sondern auf demselben Weg bis ans Ende auszuharren. „Wir wünschen aber sehr, dass ein jeder von euch denselben Fleiß beweise zur vollen Gewissheit der Hoffnung bis ans Ende, dass ihr nicht träge werdet, sondern Nachahmer derer, welche durch Glauben und Ausharren die Verheißungen ererben“ (Vers 11–12).

Dies führt ihn von selber zur Erinnerung an die Grundsätze, nach welchen der Vater der Gläubigen und des jüdischen Volkes gewandelt war, und an die unaussprechliche Barmherzigkeit Gottes, der seinen Glauben auf wunderbare Weise gestärkt hatte. Gott hatte Abraham die Verheißung gegeben und in Seiner herablassenden Güte Seine Verheißung auch mit einem Eid bekräftigt. Und Abraham hatte der Verheißung geglaubt, obschon er 25 Jahre auf die Erfüllung warten musste und indem er so viel Langmut bewies, hat er die Verheißung erhalten. Die Hebräer befanden sich hinsichtlich der himmlischen Ruhe und der himmlischen Herrlichkeit im gleichen Zustand. „Gott ist, da Er den Erben der Verheißung die Unwandelbarkeit Seines Ratschlusses überschwenglich beweisen wollte, mit einem Eid ins Mittel getreten, dass wir durch zwei unveränderliche, Dinge, wobei es unmöglich war, dass Gott lügen sollte, einen starken Trost hätten“ (Verse 17–18). Diese zwei unveränderlichen Dinge sind: die Verheißung und der Eidschwur. Wenn Gott, der nicht lügen kann, etwas verheißt, dann muss das für den Glauben genügend sein; aber Gott, der Herr, der die Schwäche des Glaubens kennt, hat in Seiner herablassenden Güte Seine Verheißung mit einem Eid bekräftigt, da schon zwischen den Menschen der Eid ein Ende alles Widerspruchs ist zur Bestätigung. Diese Güte Gottes ist also für uns, die Erben der Verheißung sind, ein starker Trost. Gottes Verheißungen, wie lange sie auch hinausgeschoben scheinen, scheitern nicht. Wir können mit ihrer Erfüllung rechnen, da ja Gott bei sich selber geschworen hat, dass Seine Verheißungen bestimmt in Erfüllung gehen werden. Tun wir wie Abraham, dann zweifeln wir nicht an Gottes Verheißungen durch Unglauben und werden durch Glauben und Ausharren die Verheißungen ererben.

Doch diese Gewissheit der Gläubigen über die Unfehlbarkeit der Verheißungen Gottes hat noch eine viel größere Bestätigung erhalten. Wir, die Erben der Verheißung, haben „Zuflucht genommen zum Ergreifen der vor uns liegenden Hoffnung, welche wir als einen sichern und festen Anker der Seele haben, der auch in das Innere des Vorhangs hineingeht, wohin Jesus als Vorläufer für uns eingegangen ist, welcher Hoherpriester geworden in Ewigkeit nach der Ordnung Melchisedeks“ (Verse 18–20). Jesus ist in das Innere des Vorhangs, in das himmlische Heiligtum eingegangen als unser Vorläufer. Hieraus folgt, dass das himmlische Heiligtum der Ort unserer Bestimmung ist. Denn wo ein Vorläufer ist, da müssen auch welche sein, die folgen. Ist Jesus unser Vorläufer in das himmlische Heiligtum geworden, dann folgen wir Ihm dorthin. Das ist die vor uns liegende Hoffnung, die wir ergriffen haben. Diese Hoffnung ist wie ein Anker der Seele. Ein Schiff, das im Strom liegt, wird durch den Anker festgehalten. Dieser Anker muss sicher in festem Boden liegen, nicht im Triebsand, sonst werden Anker und Schiff vom Strom mitgerissen. Unser Anker, die vor uns liegende Hoffnung, liegt sicher und fest im Innern des Vorhangs, im himmlischen Heiligtum. Die vor uns liegende Hoffnung ist der Anker unserer Seele; unsere Seele geht ins Innere des Vorhangs und schaut dort Jesus als unsern Vorläufer. Unser Glaube hat also nicht nur Gottes Verheißung und Gottes Eid, sondern überdies in Jesus einen Bürgen für die Erfüllung dieser Verheißungen.

Lasst uns zugleich beachten, dass der doppelte Charakter des Segens, auf den dieser Brief hinweist, hier dargestellt wird in Verbindung mit dem Messias. Jesus ist als Vorläufer für uns in den Himmel eingegangen, und Er ist dort, für die gegenwärtige Zeit, unser Hoherpriester. Wir gehören also zum Himmel und haben dort einen Hohenpriester. Aber es ist ein Hohepriestertum nach der Ordnung Melchisedeks, wodurch das aaronitische Priestertum ganz auf die Seite gestellt ist, das aber zugleich unsern Blick auf die Zukunft Israels richtet und auf das Königtum des Christus, das noch nicht offenbart ist. Die himmlischen Segnungen der Erben der Verheißung, die eine himmlische Berufung haben, und die irdischen Segnungen für das Volk Israel, von den Propheten verheißen, sind beide mit dem Glauben an Jesus, den Messias und Sohn Gottes, verbunden.

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