Der verheißene König und sein Reich
Kommentar zum Matthäus-Evangelium

Kapitel 18

Der verheißene König und sein Reich

Wer ist der Größte im Reich der Himmel? (18,1–5)

„In jener Stunde traten die Jünger zu Jesus und sprachen: Wer ist denn der Größte im Reich der Himmel? Und als er ein Kind herzugerufen hatte, stellte er es in ihre Mitte und sprach: Wahrlich, ich sage euch, wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Reich der Himmel eingehen. Darum, wer irgend sich selbst erniedrigen wird wie dieses Kind, der ist der Größte im Reich der Himmel; und wer irgend ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, nimmt mich auf“ (18,1–5).

Die Jünger waren hier mit der Größe derer beschäftigt, die im Reich der Himmel sein werden. Dabei zweifelten sie keineswegs daran, dass sie selbst zu den Großen gehörten. Der Herr hat doch noch kurz vorher dem Petrus gezeigt, was für eine hohe Stellung ihm in Verbindung mit dem Herrn gegeben worden war.

Die Jünger stellten sich, wie alle Juden, das Reich nur in Verbindung mit Herrlichkeiten und irdischer Größe vor, obwohl der Messias, der König des Reiches, in völliger Erniedrigung gekommen war. Darum belehrte sie der Herr darüber, was die Menschen, die dem Reich angehören, kennzeichnen muss, solange dieses noch nicht in Herrlichkeit aufgerichtet ist.

Auf die Frage der Jünger: „Wer ist denn der Größte im Reich der Himmel?“ rief der Herr ein Kind herzu, stellte es in die Mitte und sprach: „Wahrlich ich sage euch, wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Reich der Himmel eingehen.“ Um Untertan des Reiches zu werden, schien es in den Augen der Jünger zu genügen, Jude zu sein und von Abraham abzustammen. Aber in den Augen Gottes genügt das nicht. Jeder Jude war ein Sünder und, obwohl das Volk von Gott Verheißungen empfangen hatte, reichte die Abstammung von Abraham nicht aus. Es war nötig, „umzukehren“ und sich zu bekehren, d.h. eine vollständige Sinnesänderung zu erleben, was allein durch den Empfang der neuen Natur geschehen kann. Mit einem Wort: es war nötig, wiedergeboren zu sein. Der Charakter derer, die umkehren und dadurch Angehörige des Reiches der Himmel werden, ist also der eines Kindes. Darum sagte der Herr: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder ...“

Welch ein Gegensatz zwischen den Gedanken Gottes und den Gedanken der Menschen! Um in der menschlichen Gesellschaft in Ansehen zu sein, muss man den Charakter eines Kindes abgelegt haben. Alle Kinder sehnen sich nach der Zeit, wo man sie nicht mehr als Kinder behandelt. Sie meinen, die Erwachsenen hätten viele Vorteile, die sie noch nicht haben. Diese Einschätzung der Dinge steht mit der Erde in Verbindung, mit der Ehre in dieser Welt, die doch nur Eitelkeit ist.

Aber mit den göttlichen Dingen, mit dem Reich der Herrlichkeit, mit der Ewigkeit, verhält es sich ganz anders. Da heißt es: „Stolz und Hochmut... hasse ich“ (Spr 8,13; vgl. auch Jes 2,11–17). Gott kann das stolze Selbstbewusstsein des sündigen Menschen inmitten einer verderbten Welt nicht ertragen. Um also in das Reich der Himmel einzugehen, die gegenwärtigen und die ewigen Segnungen Gottes zu genießen, ist Umkehr notwendig. Gott kann den Menschen in seinem natürlichen Zustand nicht annehmen. Der Mensch muss werden „wie die Kinder“, d.h. jeden Anspruch auf vermeintliche Rechte fahren lassen und glauben, was Gott sagt und mehr Vertrauen auf die Worte Gottes als auf sein eigenes Urteil setzen. Anstatt in der Welt groß und angesehen sein zu wollen, muss man im Gegenteil demütig werden.

Ist das nicht gerade die Gesinnung des Herrn, die Er hier geoffenbart hat? Er, der von Ewigkeit war, der alle Dinge erschaffen hat, der Gott war und ist, Er machte sich selbst zu nichts, nahm Knechtsgestalt an und war gehorsam bis zum Tod, ja, zum Tod am Kreuz (Phil 2,5–11). Und das alles tat Er für uns, um uns in sein Reich, in den Himmel selbst einzuführen. Der Charakter derer, die dem Herrn angehören, soll also den Wesenszügen ihres Herrn und Heilandes entsprechen. Solange Er verworfen ist, wird die Welt auch seine Jünger nicht anerkennen. Die Herrlichkeit des Reiches ist noch nicht da.

Im Anschluss an diesen Vergleich mit einem Kind gab dann der Herr die eigentliche Antwort auf die Frage der Jünger, wer der Größte sei: „Darum, wer irgend sich selbst erniedrigen wird wie dieses Kind, der ist der Größte im Reich der Himmel.“

Wir haben gesehen, dass es, um in das Reich einzugehen, nötig ist, umzukehren und zu werden wie die Kinder. Wer aber eingegangen ist, muss weiterhin niedrig gesinnt bleiben, wie ein Kind, um dort groß zu sein. In einer Welt voller Hochmut und Eigendünkel findet nur der bei Gott Anerkennung, der in Demut und Niedriggesinntheit vorangeht. Das kennzeichnete den Weg des Herrn selbst, so wird Er uns in Philipper 2 vorgestellt. Christus hat sich aufs tiefste erniedrigt. „Darum hat Gott ihn auch hoch erhoben und ihm den Namen gegeben, der über jeden Namen ist.“

Alle, die in der zukünftigen Herrlichkeit groß sein werden, müssen hier Christus, dem vollkommenen Vorbild in seiner Erniedrigung, Demut und Milde, folgen. Das tut man, indem man in seinen eigenen Augen nichts ist und es in Ordnung findet, bei den Menschen gering geachtet zu werden und keine andere Stellung einnehmen möchte, als wie sie der Herr in dieser Welt einnahm. Diese Charakterzüge, die der Herr bei den Seinigen sucht, sieht Er in dem „Kind“. Für sein Herz hat es großen Wert, auch wenn es vor den Menschen nichts gilt. Wer ein einziges dieser Kleinen aufnimmt im Namen des Herrn, der nimmt Ihn selbst auf. Welch schöne Gelegenheit für uns und welche Ehre, in dieser Weise den Herrn aufzunehmen! An dem Tag, da alles, was Gott wohlgefällig war, offenbar werden wird, wird nicht nur unsere demütige Hingabe an Ihn, sondern auch die Aufnahme derer, die dem Charakter der „Kinder“ entsprechen, eine herrliche und ewige Belohnung finden (Mt 10,40–42; 25,31–40).

Die Ärgernisse (18,6–9)

„Wer aber irgend einem dieser Kleinen, die an mich glauben, Anstoß gibt, für den wäre es besser, dass ein Mühlstein um seinen Hals gehängt und er in die Tiefe des Meeres versenkt würde. Wehe der Welt der Ärgernisse wegen! Denn es ist notwendig, dass die Ärgernisse kommen; doch wehe dem Menschen, durch den das Ärgernis kommt! Wenn aber deine Hand oder dein Fuß dir Anstoß gibt, so hau ihn ab und wirf ihn von dir. Es ist besser für dich, verkrüppelt oder lahm in das Leben einzugehen, als mit zwei Händen oder mit zwei Füßen in das ewige Feuer geworfen zu werden. Und wenn dein Auge dir Anstoß gibt, so reiß es aus und wirf es von dir. Es ist besser für dich, einäugig in das Leben einzugehen, als mit zwei Augen in die Hölle des Feuers geworfen zu werden“ (18,6–9).

Die Kinder, die an den Herrn Jesus glauben, haben für sein Herz einen solchen Wert, dass Er denen, die ihnen zum Fallstrick oder Ärgernis sind, ein überaus schweres Gericht ankündigt. „Für den wäre es besser, dass ein Mühlstein um seinen Hals gehängt und er in die Tiefe des Meeres versenkt würde.“ Seitdem der Herr Jesus diese Worte ausgesprochen hat, versuchen die Menschen stets – heute mehr denn je zuvor – die „Kleinen“, die an Ihn glauben, aber auch alle Gläubigen irrezuführen, indem sie ihnen durch geschickte Behauptungen zu beweisen suchen, dass die Bibel nicht das Wort Gottes sei, oder wenigstens nicht in allen Teilen. Sie behaupten, dass der Herr Jesus nicht der Sohn Gottes sei, oder Er habe gar nicht auf der Erde gelebt. Man müsse nur das glauben, was man begreifen könne. Das Ansehen der menschlichen Wissenschaft und Vernunft wird benutzt, um Große und Kleine vom einfältigen Glauben abzuwenden. Der Ausdruck „Ärgernis“ bedeutet im Neuen Testament nicht immer nur Anstoß, häufig hat er die Bedeutung von: zu einer bösen Tat verleiten, zu Fall bringen, von Gott abwendig machen, den Glauben erwecken, als sei das, was Gott gesagt hat, falsch.

Hüten wir uns doch alle, solchen Vernunftschlüssen unser Ohr zu leihen! Wir sollen nicht in erster Linie verstehen, sondern glauben. Es sollte uns genügen, dass Gott gesprochen hat. Durch den Glauben an Ihn und sein Wort besitzen wir die Vergebung unserer Sünden, den Frieden mit Gott, die Freude, von Ihm geliebt zu werden, einen Platz in seiner ewigen Herrlichkeit, wenn die ganze, scheinbar herrliche Größe dieser Welt untergegangen sein wird. Den „Bösen“, die nicht an Gott geglaubt, die einen „Kleinen“, der sein Vertrauen auf den Herrn gesetzt hat, zu Fall gebracht haben, die ihrem eigenen Wissen und Glauben mehr Wert beimaßen, als dem Wort Gottes, die den Menschen mehr Ehre erwiesen als Gott: ihnen bleibt in Ewigkeit die glückselige Herrlichkeit verschlossen, die das Wort denen verheißt, die da glauben. Ihr Teil ist dann die ewige Qual, denn „der Rauch ihrer Qual steigt auf von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (Off 14,11).

Der Herr warnt auch vor den Dingen, die Ursache zu einem Fall werden können. Er warnt davor, andere zum Sündigen zu verleiten und andere davon abzuhalten, das ewige Leben zu erlangen. Die Hand kann die Sünde tun, indem sie böse Dinge verübt. Der Fuß kann zu Orten führen, wo man von der Wahrheit weggezogen wird und wo sich das Böse ungehindert entfalten kann. Das Auge ist das Organ, durch das alle Arten von Lüsten in das Herz gelangen und dort weiter genährt werden. Wenn diese Glieder zur Sünde verleiten, wenn man nicht die Kraft hat, böse Gewohnheiten zu lassen, so ist es besser, sie „abzuhauen“ oder „auszureißen“, d.h. völlig auf das zu verzichten, was die Glieder uns ermöglichen. „Wirf sie von dir!“ sagt der Herr, weit weg, damit sie dir nicht erreichbar sind, wenn das Herz sie begehrt, und sie dich nicht erneut zum Bösen verleiten. Das ewige Leben könnte auf dem Spiel stehen, „denn der Lohn der Sünde ist der Tod“ (Röm 6,23), „danach aber das Gericht“ (Heb 9,27). Schon in der Jugend sollten wir, im Bild gesprochen, diese Operationen an uns vornehmen, indem wir uns vor natürlichen Neigungen hüten, die auf die Dauer zu Leidenschaften werden können. Wir würden sonst leicht zu ihren Sklaven werden und durch diese schrecklichen Tyrannen in das ewige Feuer hineingerissen werden.

Der Herr möge jedem die Gnade geben, zu prüfen, bei welchen Meinungen und Gefahren er wachsam sein muss.

Der Wert eines dieser „Kleinen“ (18,10–14)

„Gebt Acht, dass ihr nicht eins dieser Kleinen verachtet; denn ich sage euch, dass ihre Engel in den Himmeln allezeit das Angesicht meines Vaters schauen, der in den Himmeln ist. [Denn der Sohn des Menschen ist gekommen, das Verlorene zu erretten.] Was meint ihr? Wenn ein Mensch hundert Schafe hätte und eins von ihnen sich verirrte, lässt er nicht die neunundneunzig auf den Bergen und geht hin und sucht das umherirrende?
[13] Und wenn es geschieht, dass er es findet, wahrlich, ich sage euch: Er freut sich mehr über dieses als über die neunundneunzig, die nicht verirrt sind. Ebenso ist es nicht der Wille eures Vaters, der in den Himmeln ist, dass eins dieser Kleinen verloren gehe“ (18,10–14).

Welchen Wert die Kinder für das Herz des Herrn haben, geht vor allem aus seinen folgenden Worten hervor: „Gebt acht, dass ihr nicht eins dieser Kleinen verachtet; denn ich sage euch, dass ihre Engel in den Himmeln allezeit das Angesicht meines Vaters schauen, der in den Himmeln ist.“ Wir sollten sie nach den Gedanken des himmlischen Vaters einschätzen und nicht nach denen der Menschen, für die ein Großer in dieser Welt weit wichtiger erscheint als ein Kind. Hier ist nicht nur von den Kindern, die an Gott glauben, die Rede, sondern von allen kleinen Kindern.

„Der Sohn des Menschen ist gekommen, das Verlorene zu erretten.“ So kostbar ist ein Kind für Gott. Der Wert eines Gegenstandes wird dadurch bestimmt, was für einen Preis man dafür bezahlt. Der für das Heil eines einzigen Kindes bezahlte Preis ist das eigene Leben des Sohnes des Menschen, der gekommen ist, es zu erretten. Mit welcher Liebe Er sich hingegeben hat, selbst für ein Kind, das vielleicht nur wenige Augenblicke gelebt hat, zeigt das folgende Gleichnis vom guten Hirten, das wir auch in Lukas 15 finden. Der Hirte verlässt die ganze große Herde, um eines dieser Kleinen zu retten. Und welche Freude hat Er dann über das Gerettete! „Ebenso ist es nicht der Wille eures Vaters, der in den Himmeln ist, dass eins dieser Kleinen verloren gehe.“

Wenn ein kleines Kind stirbt, wird die Welt im Allgemeinen von der Trauernachricht weniger berührt, als wenn es sich um einen Erwachsenen handelt. Man macht dann nicht eine so große Trauerfeier. Und doch kann der Erwachsene ein Ungläubiger gewesen sein, der in seinen Sünden gestorben ist, weil er die Gnade verachtet hat. Für ihn wird daher keine „Freude im Himmel“ sein (Lk 15,7). Das Kind dagegen ist ein Gegenstand ewiger Freude für den, der gekommen ist, um es zu erretten. Unsere Gedanken sollten auch in dieser Beziehung denen des Herrn entsprechen. Lasst uns deshalb die Kinder nicht gering achten, denn wir wissen, dass alle Kinder, die im frühesten Alter sterben, bei dem Herrn sind. Er hat sich für sie hingegeben, indem Er den Willen seines Vaters tat, der nicht will, dass „eins dieser Kleinen verloren gehe“. „Ihre Engel in den Himmeln“, sagt der Herr, „schauen allezeit das Angesicht meines Vaters, der in den Himmeln ist.“

Alle diese Unterweisungen des Herrn zeigen uns mit aller Deutlichkeit, was die, die dem Reich angehören, kennzeichnen soll: Niedriggesinntheit und Demut sowie die Gnade, die in der Person Jesu erschienen ist.

„Wenn dein Bruder gegen dich sündigt“ (18,15–17)

„Wenn aber dein Bruder gegen dich sündigt, so geh hin, überführe ihn zwischen dir und ihm allein. Wenn er auf dich hört, hast du deinen Bruder gewonnen. Wenn er aber nicht hört, so nimm noch einen oder zwei mit dir, damit durch den Mund von zwei oder drei Zeugen jede Sache bestätigt werde. Wenn er aber nicht auf sie hört, so sage es der Versammlung; wenn er aber auch auf die Versammlung nicht hört, sei er dir wie der Heide und der Zöllner“ (18,15–17).

Gnade und Demut sollen auch unser Verhalten gegenüber denen kennzeichnen, die uns Unrecht getan haben. Statt sich zu rechtfertigen und das Böse bekannt zu machen, soll der Betroffene das Wohl dessen, der ihm Unrecht tut, im Auge haben, die Angelegenheit zwischen sich und dem Bruder verborgen halten und in Liebe versuchen, ihn zu gewinnen. Er sollte ihm zeigen, wie sehr er sich durch seine Sünde selbst geschadet hat. Das ist weit besser, als ihm zu sagen, wie viel Unrecht er mir getan hat, denn gar leicht könnte ich dabei übertreiben.

Wenn dieses brüderliche Bemühen nicht zum Ziel führt, soll man, ohne die Sache zu verbreiten, mit einem oder zwei Brüdern zu ihm gehen, damit alles in der Gegenwart von Zeugen besprochen werde und die Tatsachen nicht entstellt werden können. Wenn er aber auch auf die Zeugen nicht hören will, soll man es der Versammlung sagen. Wenn er auch auf die Versammlung nicht hört, so gibt es keine weitere Möglichkeit mehr. Der Bruder, der gesündigt hat, muss dann wie ein Heide betrachtet werden, mit dem man nichts zu tun hat. Wenn wir von Anfang an dieser Belehrung des Herrn entsprechend handeln, wird es selten nötig sein, das zweite Mittel und noch viel weniger das dritte anzuwenden.

Dass wir uns doch alle bewusst blieben, in welchem Geist wir dem, der gegen uns gefehlt hat, gegenübertreten sollen! Seien wir durchdrungen von dem Charakter der Gnade unseres himmlischen Vaters! Lasst uns in erster Linie das Wohl des Schuldigen suchen und nicht danach trachten, ihm eine Züchtigung aufzuerlegen. Es soll uns nicht um unsere eigene Rechtfertigung gehen. Gott ist es, welcher rechtfertigt. Wenn wir so handeln, wird die Gnade das Herz unseres Bruders berühren, und für beide Teile wird Segen daraus hervorgehen. Es ist gut, dieses Verhalten von Jugend an zu üben; denn wenn man sich daran gewöhnt hat zu vergeben, wird es einem während des ganzen Lebens leichter fallen. „Erziehe den Knaben seinem Wege (oder seiner Natur) entsprechend; er wird nicht davon weichen, auch wenn er alt wird“ (Spr 22,6).

„Da bin ich in ihrer Mitte“ (18,18–20)

„Wahrlich, ich sage euch: Was irgend ihr auf der Erde binden werdet, wird im Himmel gebunden sein, und was irgend ihr auf der Erde lösen werdet, wird im Himmel gelöst sein. Wahrlich, wiederum sage ich euch: Wenn zwei von euch auf der Erde übereinkommen werden über irgendeine Sache, welche sie auch erbitten mögen, so wird sie ihnen zuteil werden von meinem Vater, der in den Himmeln ist. Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte“ (18,18–20).

Der Herr hat uns in den vorigen Versen gelehrt, dass keine weiteren Schritte unternommen werden sollen, wenn der fehlende Bruder nicht auf die Versammlung gehört hat. Da könnte jemand fragen, warum denn andere, wirkungsvollere Mittel nicht angewendet werden dürften. Die Antwort kann nur sein: Es gibt keine anderen Mittel, sofern die Angelegenheit den Anordnungen des Herrn entsprechend behandelt worden ist.

Die örtliche Versammlung, zusammengesetzt aus allen wiedergeborenen Gläubigen eines Ortes, wird dargestellt durch die Gläubigen, die sich im Namen des Herrn versammeln, denn Er sagt: Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen (eigentlich ist zu übersetzen: zu meinem Namen hin), da bin ich in ihrer Mitte.“ Bis zum Tod des Herrn war das Volk Israel die Versammlung und ihr Mittelpunkt war der Tempel in Jerusalem, wo der HERR Wohnung genommen hatte. Seitdem aber das Volk den Messias in der Person Christi verworfen hat und daher selbst verworfen ist, ist nun der Herr der Mittelpunkt aller, die Ihn aufgenommen haben.

So ist nun die Versammlung der Christen, die um den Herrn versammelt sind, an die Stelle der Versammlung Israels, deren Mittelpunkt der Tempel war, getreten. Hier spricht der Herr von der neuen Ordnung, die infolge seiner Verwerfung eingeführt worden ist und bezeichnet die Versammlung der Christen als den Ort, wo Er selbst gegenwärtig ist, auch wenn es nur zwei oder drei Gläubige wären. Es gibt auf der ganzen Erde nichts Größeres, als eine solche Versammlung, weil an einem solchen Ort Er gegenwärtig ist und nirgendwo anders. Wenn jemand auf diese Versammlung nicht hört, in deren Mitte der Herr ist, so kann er seine Gegenwart nicht anderswo finden.

Weil der Herr, der im Himmel ist, sich da befindet, wo zwei oder drei zu seinem Namen hin versammelt sind, sagt Er: „Wahrlich, ich sage euch: Was irgend ihr auf der Erde binden werdet, wird im Himmel gebunden sein, und was irgend ihr auf der Erde lösen werdet, wird im Himmel gelöst sein.“ Die Autorität des Herrn ist da. Das ist die einzige kirchliche Autorität, die Gott auf der Erde anerkennen kann und die der Gläubige anerkennen soll. Damit aber die Gegenwart des Herrn das Kennzeichen einer Versammlung von Gläubigen sei, ist es selbstverständlich erforderlich, dass sie Ihm in allem unterwürfig ist.

Für ein solches Zusammenkommen der Zwei oder Drei gibt der Herr, wenn sie übereingekommen sind, in seinem Namen um etwas zu bitten, die Zusicherung: „Welche Sache sie auch erbitten mögen, so wird sie ihnen zuteil werden von meinem Vater, der in den Himmeln ist.“

Welch gesegnetes Vorrecht, schon hier auf der Erde um den Herrn versammelt sein zu dürfen. Wie viel herrlicher noch wird es sein, wenn alle Erlösten in der Herrlichkeit droben um Ihn versammelt sind! Für die Welt ist dieses Versammeltsein von einigen Gläubigen um den Herrn ohne menschliche Organisation, ohne irgendwelche sichtbaren Hilfsmittel, etwas Unbedeutendes. Aber für den Herrn gibt es nichts Größeres. Das bestätigt Er dadurch, dass Er selbst in der Mitte der Seinen gegenwärtig ist und für alle Bedürfnisse Vorsorge trifft.

Wie oft soll ich meinem Bruder vergeben? (18,21–35)

„Dann trat Petrus zu ihm und sprach: Herr, wie oft soll ich meinem Bruder, der gegen mich sündigt, vergeben? Bis siebenmal? Jesus spricht zu ihm: Nicht bis siebenmal, sage ich dir, sondern bis siebzig mal sieben. Deswegen ist das Reich der Himmel einem König gleich geworden, der mit seinen Knechten Abrechnung halten wollte. Als er aber anfing abzurechnen, wurde einer zu ihm gebracht, der zehntausend Talente schuldete. Da dieser aber nichts hatte, um zu bezahlen, befahl sein Herr, ihn und seine Frau und die Kinder und alles, was er hatte, zu verkaufen und so zu bezahlen. Der Knecht nun fiel nieder, flehte ihn an und sprach: Hab Geduld mit mir, und ich will dir alles bezahlen. Der Herr jenes Knechtes aber, innerlich bewegt, ließ ihn frei und erließ ihm das Darlehen. Jener Knecht aber ging hinaus und fand einen seiner Mitknechte, der ihm hundert Denare schuldete. Und er ergriff und würgte ihn und sprach: Bezahle, wenn du etwas schuldig bist. Sein Mitknecht nun fiel nieder, bat ihn und sprach: Hab Geduld mit mir, und ich will dir bezahlen. Er aber wollte nicht, sondern ging hin und warf ihn ins Gefängnis, bis er die Schuld bezahlt habe. Als nun seine Mitknechte sahen, was geschehen war, wurden sie sehr betrübt und gingen und berichteten ihrem Herrn alles, was geschehen war. Dann rief ihn sein Herr herzu und spricht zu ihm: Du böser Knecht! Jene ganze Schuld habe ich dir erlassen, da du mich ja batest; hättest nicht auch du dich deines Mitknechtes erbarmen sollen, wie auch ich mich deiner erbarmt habe? Und sein Herr wurde zornig und überlieferte ihn den Peinigern, bis er [ihm] die ganze Schuld bezahlt habe. So wird auch mein himmlischer Vater euch tun, wenn ihr nicht jeder seinem Bruder von Herzen vergebt“ (18,21–35).

Petrus fragte den Herrn: „Herr, wie oft soll ich meinem Bruder, der gegen mich sündigt, vergeben? Bis siebenmal?“ Der Herr aber gab ihm zur Antwort: „Nicht bis siebenmal, sage ich dir, sondern bis siebzig mal sieben“, d. h. man soll immer wieder vergeben. Die Zahl sieben drückt Vollkommenheit aus; eine solche Zahl mit sich selbst vervielfältigt und dann noch verzehnfacht, gibt der Herr an, um uns zu zeigen, wie oft wir vergeben sollen: so oft, wie Vergebung nötig ist.

Der Herr illustriert seine Belehrung durch ein Gleichnis und zeigt uns dadurch, dass unser gegenseitiges Verhalten dem Verhalten Gottes uns Menschen gegenüber entsprechen soll, denn wir alle sind Gegenstände seiner Gnade.

Der König, worunter Gott zu verstehen ist, will mit seinen Knechten zunächst auf dem Boden der Gerechtigkeit abrechnen. Aber einer von ihnen, ein Bild von uns allen, schuldet ihm zehntausend Talente, eine unermessliche Summe, besonders für einen Armen, der gar nichts besitzt. Hier sind wahrscheinlich Silbertalente gemeint, und diese zehntausend Talente stellen heute einen Wert von mehreren Millionen Euro dar. Gemessen an dieser ungeheuren Summe, die der Knecht schuldete, kann man die Größe der Sündenschuld erkennen, die wir zahlungsunfähige Sünder Gott gegenüber haben. Seiner Gerechtigkeit gemäß forderte der König die Bezahlung der Summe, aber, von Mitleid bewegt, hat er dem Knecht die ganze große Schuld erlassen.

Nach einer so großmütigen Tat konnte der König mit Recht erwarten, dass dieser Knecht gegen seinen eigenen Schuldner ebenso handelte. Aber kaum hatte dieser die große Gunst erfahren, begegnete er einem Mitknecht, der ihm hundert Denare schuldete, eine lächerlich kleine Summe, verglichen mit der, die ihm selbst erlassen worden war. Diesen würgte er dann und stellte die Forderung „Bezahle, wenn du etwas schuldig bist.“ Dann warf er ihn, gefühllos gegen die flehentlichen Bitten seines Mitknechtes, ins Gefängnis, bis er alles bezahlt habe.

Wie trifft dieses Bild so oft auf unsere eigene Handlungsweise gegenüber solchen zu, die uns Unrecht getan haben! Wir vergessen so leicht die unermessliche Größe unserer Sündenschuld, die uns erlassen worden ist, und sind oft nicht einmal in der Lage, das verhältnismäßig unbedeutende Unrecht unserer Brüder zu vergeben. Und selbst wenn wir gesagt haben, wir hätten vergeben, so wird es uns noch schwerer, zu vergessen. Gott aber hat gesagt: „Ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken“ (Heb 10,17). In den Beziehungen zu unseren Brüdern sollten wir uns daher stets bewusst bleiben, wie Gott mit uns gehandelt hat. Möge das Bewusstsein unserer eigenen großen, aber vergebenen Schuld uns stets begleiten!

Gott handelt in den Regierungswegen seines Reiches in Gerechtigkeit, entsprechend der Art und Weise, wie wir unseren Brüdern begegnet sind. Denn unser ganzes Tun zieht Folgen nach sich. Als die anderen Knechte sahen, wie dieser Mensch gehandelt hatte, berichteten sie es voll Entrüstung dem König, und der König übergab den bösen Knecht den Peinigern, bis er alles bezahlt hatte, was er ihm schuldig war. Der Herr fügt hinzu: „So wird auch mein himmlischer Vater euch tun, wenn ihr nicht ein jeder seinem Bruder von Herzen vergebt.“

Man kann dieses Gleichnis auch auf Israel als Volk anwenden, das eine ungeheure Schuld gegen Gott aufgehäuft hatte, weil sie seinen Sohn verworfen hatten. Aufgrund der Fürsprache des Herrn am Kreuz, wo Er ausrief „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lk 23,34), hatte Gott die Forderung an sein Volk gewissermaßen vertagt, so dass seine Gerichte nicht unmittelbar nach der Kreuzigung über sein Volk hereinbrachen. Er ließ ihm im Gegenteil das Evangelium verkündigen und forderte es zur Buße auf (Apg 2,14–41). Aber obwohl ihnen dieses Erbarmen Gottes zugute kam, widersetzten sie sich den Absichten Gottes, diese Gnade auch den Heiden anzubieten, von welchen der Schuldner von hundert Denaren ein Bild ist. Paulus sagt von ihnen in 1. Thessalonicher 2,16: „Indem sie uns wehren, zu den Nationen zu reden, damit sie errettet werden, um so ihre Sünden allezeit voll zu machen; aber der Zorn ist völlig über sie gekommen.“ Dieses Gericht ist dann gemäß der gerechten Regierung Gottes über sie hereingebrochen: Das Volk wurde den Peinigern überliefert, durch die Römer aus dem Land weggeführt, und unter alle Völker zerstreut. Es hat nach der Prophezeiung des Jesaja für alle seine Sünden das doppelte Teil empfangen (Jes 40,2).

Nächstes Kapitel »« Vorheriges Kapitel