Zucht im Haus Gottes
Mit Weisheit handeln

Teil 1: Formen der Zucht

Zucht im Haus Gottes

Wir haben schon bemerkt, dass Zucht nicht immer Ausschluss bedeutet. Einige Bibelausleger sprechen beim Ausschluss sogar von einem „Scheitern der Zucht“, weil ein Ausschluss zeigt, dass alle anderen Formen der Zucht entweder ihr Ziel nicht erreicht haben oder in bestimmten Fällen gar nicht erst angewandt werden konnten. Zucht ist ja eigentlich ein Bemühen um den Bruder und die Schwester. Beim Ausschluss aber hören alle Bemühungen von Seiten der Geschwister auf. Der Ausgeschlossene ist Gott überlassen. Dennoch scheint es mir richtig, auch den Ausschluss als eine Form der Zucht zu bezeichnen, denn mit dem Ausschluss hat der Herr ja ein konkretes Ziel im Auge.

Das Neue Testament zeigt uns „mildere“ Formen der Zucht. Diese sollten wir nicht nur in der Theorie kennen, sondern wir sollten sie tatsächlich praktizieren. Ein Beispiel aus dem täglichen Leben macht das klar: Was würde man von einem Arzt denken, der ein krankes Bein gleich amputiert. Es mag seltene Fälle geben, wo nichts anderes als eine Amputation übrig bleibt. In den meisten Fällen aber wird ein Arzt zunächst andere Behandlungsformen wählen, bevor er zu diesem letzten Mittel greift. Deshalb ist es wichtig, dass wir die verschiedenen Formen der Zucht kennen und sie praktizieren.

Im Folgenden wollen wir zunächst die verschiedenen Formen der Zucht – außerhalb des Ausschlusses – behandeln und sie in vier Gruppen einteilen:

  • der Dienst von Bruder zu Bruder (d.h. unter Geschwistern);
  • das (öffentliche) Zurechtweisen in der Versammlung;
  • das Handeln mit einem Sektierer;
  • das Handeln mit einem Ältesten, der sündigt.

Der Dienst von Bruder zu Bruder

In den meisten Fällen einer Abweichung beginnt eine Aktivität damit, dass man im Geist von 1. Petrus 4,8 versucht, den Bruder oder die Schwester in Liebe zu gewinnen. Viele Probleme und Schwierigkeiten, die sich später ausweiten könnten, lassen sich auf diese Weise im Sinn des Herrn regeln. Eine Reihe von Bibelstellen zeigt uns diesen Dienst.

Die Fußwaschung (Joh 13)

„Vor dem Fest des Passah aber, als Jesus wusste, dass seine Stunde gekommen war, dass er aus dieser Welt zu dem Vater hingehen sollte, da er die Seinen, die in der Welt waren, geliebt hatte, liebte er sie bis ans Ende. Und während des Abendessens, als der Teufel schon dem Judas, Simons Sohn, dem Iskariot, ins Herz gegeben hatte, ihn zu überliefern, steht [Jesus], wissend, dass der Vater ihm alles in die Hände gegeben hatte und dass er von Gott ausgegangen war und zu Gott hingehe, von dem Abendessen auf und legt die Oberkleider ab; und er nahm ein leinenes Tuch und umgürtete sich. Dann gießt er Wasser in das Waschbecken und fing an, die Füße der Jünger zu waschen und mit dem leinenen Tuch abzutrocknen, mit dem er umgürtet war. ... Als er ihnen nun die Füße gewaschen und seine Oberkleider genommen hatte, legte er sich wieder zu Tisch und sprach zu ihnen: Versteht ihr, was ich euch getan habe? Ihr nennt mich Lehrer und Herr, und ihr sagt es zu Recht, denn ich bin es. Wenn nun ich, der Herr und der Lehrer, euch die Füße gewaschen habe, so seid auch ihr schuldig, einander die Füße zu waschen. Denn ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit, wie ich euch getan habe, auch ihr tut“ (Joh 13,1–5.12–15).

Der Ausgangspunkt dieser zu Herzen gehenden Verse ist die Liebe des Herrn Jesus zu seinen Jüngern. Es ist eine Liebe bis ans Ende, d.h. eine Liebe, die bis zum Äußersten ging. Der Herr stand im Begriff, sein Leben am Kreuz von Golgatha zu geben. Dieses Werk bildet gleichzeitig den Hintergrund dieser ergreifenden Szene, als der Herr Jesus seinen Jüngern die Füße wusch. Er selbst ist der Handelnde. Obwohl er wusste, dass der Vater ihm alles in die Hände gegeben hatte und er zum Vater zurückkehren würde, lässt er sich herab, seinen Jüngern diesen Dienst zu tun. Die gleichen Hände, in die der Vater alles gegeben hatte, waren sich nicht zu schade dafür. Er wäscht seinen Jüngern die Füße und trocknet sie mit einem leinenen Tuch ab. Das zeigt uns etwas von der Gesinnung des Herrn. Er ist der Hohe und Erhabene. Dennoch neigt er sich so tief herab.

Es ist beeindruckend in den Evangelien zu sehen, in welch einer Form der Herr seine Jünger belehrte. Er tat es mit Worten, aber häufig gingen diesen Worten Handlungen voraus, die in sich schon tiefe Unterweisungen enthalten. So ist es hier. Es muss eine beeindruckende Szene gewesen sein, als der Herr Jesus Wasser in das Waschbecken goss und dann anfing, einem Jünger nach dem anderen die Füße zu waschen und danach abzutrocknen. Es waren zwölf erwachsene Männer. Zu jedem Einzelnen beugte sich der Heiland nieder, um ihm diesen Dienst zu tun. Wie viel Zeit mag das in Anspruch genommen haben? Was mögen die Jünger dabei gedacht haben? Diese Fragen stellen sich beim Lesen des Berichtes.

Nachdem diese Handlung beendet war, stellte er ihnen eine Frage: „Versteht ihr, was ich euch getan habe?“ Wie sollten sie es verstehen? Deshalb gibt er ihnen die Erklärung, und gleichzeitig fordert er sie auf: „Wenn nun ich, der Herr und Lehrer, euch die Füße gewaschen habe, so seid auch ihr schuldig, einander die Füße zu waschen.“

Einerseits tut der Herr diesen Dienst bis heute – auch an uns. Er reinigt uns von den Verunreinigungen des Weges, damit wir Gemeinschaft mit ihm haben können. Gleichzeitig hat er uns damit ein Beispiel hinterlassen. Wir können und sollen einander diesen Dienst tun. Mehr noch: Wir sind schuldig, ihn zu tun. Es ist eine Aufforderung des Herrn. Es kann und soll uns nicht egal sein, ob sich mein Bruder (meine Schwester) auf dem Weg verunreinigt hat. Wenn es so ist, tun wir einander diesen Dienst.

Der Herr nahm Wasser. So sollen wir einander eine Hilfe sein, indem wir uns gegenseitig das Wort Gottes vorstellen. Brüderliche Korrektur und Hilfestellung erfolgt nicht auf der Basis menschlicher Meinungen und Einsichten oder gar selbst auferlegter Gesetze, sondern auf der Grundlage des Wortes Gottes. Dabei wollen wir daran denken, dass der Herr die Füße der Jünger gewaschen hat. Er fordert uns nicht auf, einander den Kopf zu waschen, sondern die Füße. Das setzt Demut und Selbstverleugnung voraus. Um meinem Bruder die Füße zu waschen, muss ich mich niederbeugen. Es ist die Gesinnung der Demut und Liebe, die uns diesen Dienst in der richtigen Gesinnung tun lässt. Tun wir es anders, wird das gewünschte Ziel in der Regel nicht erreicht werden.

Wie oft haben wir gerade in diesem Punkt falsch gehandelt. Entweder haben wir diesen Dienst ganz unterlassen oder wir haben es in der falschen Gesinnung getan. Wir können durchaus das Wort Gottes als Grundlage nehmen und es anwenden, wenn es aber in der falschen Gesinnung getan wird, verfehlt es sein Ziel. Der Dienst der Fußwaschung erreicht nur dann das gewünschte Ergebnis, wenn wir dem Beispiel unseres Herrn folgen und seine Gesinnung ausleben.

Von dem Herrn wollen wir lernen, diesen Dienst in der richtigen inneren Haltung zu tun, ihn aber ebenfalls – wenn er an uns getan wird – annehmen und uns nicht davor verschließen.

Von einem Fehltritt übereilt (Gal 6)

„Brüder, wenn auch ein Mensch von einem Fehltritt übereilt würde, so bringt ihr, die Geistlichen, einen solchen wieder zurecht im Geist der Sanftmut, wobei du auf dich selbst siehst, dass nicht auch du versucht werdest. Einer trage des anderen Lasten, und so erfüllt das Gesetz des Christus. Denn wenn jemand meint, etwas zu sein, da er doch nichts ist, so betrügt er sich selbst“ (Gal 6,1–3).

Ein Fehltritt ist eine Vergehung oder eine Übertretung. So wird das Wort an anderen Stellen übersetzt. Es werden hier keine konkreten Dinge genannt. Deshalb denken wir ganz allgemein an das, was uns allen jeden Tag passieren kann – und viel zu oft leider passiert. Wir werden von einem Fehltritt übereilt. Was tut nun der Bruder, der das sieht und merkt, dass der „Übertreter“ von selbst nicht zurechtfindet? Die Antwort lautet: „Bringt ihr, die Geistlichen, einen solchen wieder zurecht.“

Es geht an dieser Stelle nicht – wie etwa in 1. Korinther 5 – um einen bösen Zustand. Das müssen wir gut verstehen und unterscheiden. Die Sünde und Übertretung ist in diesem Fall sozusagen „aus Versehen“ 1 passiert. Es ist ein „Straucheln“, das nicht beabsichtigt war und nicht auf einen bösen Zustand schließen lässt. Wir alle wissen, wie oft uns das passiert.

Wo sind nun die Geistlichen, die einem solchen helfen, wieder zurechtzukommen? Was bedeutet es hier überhaupt, ein „Geistlicher“ zu sein? Ganz sicher geht es nicht um einen offiziell angestellten „Geistlichen“, der sich von anderen Gläubigen durch sein „Amt“ unterscheidet. So etwas kennt die Bibel überhaupt nicht. Nein, geistlich zu sein bedeutet, in einem inneren Zustand zu sein, in dem man anderen helfen kann. Der Zusammenhang des Textes macht mindestens zwei Kennzeichen deutlich, die einen solchen „Geistlichen“ charakterisieren. Erstens hat er ein Interesse für das Ergehen seiner Geschwister. Zweitens ist er bereit, Lasten anderer auf sich zu nehmen und sie zu tragen. Es ist bemerkenswert, dass Paulus diese Aufforderung gerade den Galatern gibt, denen er wenige Verse vorher noch gesagt hatte: „Wenn ihr aber einander beißt und fresst, so seht zu, dass ihr nicht voneinander verzehrt werdet“ (Gal 5,15). Zu welcher „Gruppe“ von Gläubigen gehören wir? Ist Streit und Zwistigkeit vielleicht ein Grund dafür, dass wir einander so oft keine Hilfe sind?

Danach wird der Geist der Sanftmut betont. Johannes 13 zeigt uns den Geist der Demut und Niedriggesinntheit. Hier geht es um Sanftmut oder Milde. Sanftmut und Demut sind eng miteinander verwandt. Es geht nicht darum, dass wir innerlich sagen: „Nun, das geschieht dem Bruder recht.“ Oder gar: „Das musste ja kommen, das habe ich immer schon geahnt, dass ihm das passieren würde“. Das ist nicht der Geist der Sanftmut und Milde, sondern der Überheblichkeit und Arroganz. In dieser Gesinnung können wir niemand helfen oder zurechtbringen.

Wir sollen darüber hinaus nie vergessen, dass uns selbst jeden Tag Fehltritte unterlaufen können. Deshalb fügt Paulus hinzu: „… wobei du auf dich selbst siehst, damit nicht auch du versucht werdest“. Wer meint zu stehen, muss aufpassen, dass er nicht selbst hinfällt (vgl. 1. Kor 10,12). Wir sollten nie vergessen, dass wir vor Gott stehen und er uns beurteilt. Wollen wir über einen Bruder urteilen, wo wir doch selbst in Gefahr stehen? Nein, es ist der Geist der Demut und Hilfsbereitschaft, in dem wir zu unserem Bruder gehen – nicht der Geist der Überheblichkeit.

Einem Bruder zu helfen bedeutet darüber hinaus, bereit zu sein, eine Last auf sich zu laden. Es ist nicht immer einfach, einen solchen Dienst im Geist der Sanftmut zu tun, aber es ist immer gesegnet, wenn wir es tun. Wer es tut, erfüllt „das Gesetz des Christus“. Was ist das für ein Gesetz? Bei „Gesetz“ sollten wir – wie an anderen Stellen im Neuen Testament – nicht gleich an das Gesetz vom Sinai denken. Die Bibel – und besonders das Neue Testament – benutzt das Wort in ganz unterschiedlicher Bedeutung. Manchmal meint es tatsächlich das Gesetz von Sinai – häufig aber auch nicht. Hier ist es ganz allgemein ein Lebensprinzip, eine Regel, eine Gesetzmäßigkeit, nach der sich jemand verhält. Der Herr Jesus hat dieses Gesetz vollkommen erfüllt. Das durchgängige Prinzip seines Handelns mit den Menschen war die Liebe. Alles, was er tat, war durch Liebe motiviert. Das „Gesetz des Christus“ ist die Liebe – ein Gesetz, das wir uns gerne auf die Schultern laden wollen. Jakobus nennt dieses Gesetz „das königliche Gesetz“ (Jak 2,8). Nur die Liebe kann die Triebfeder sein, unserem Bruder zu helfen.

Von der Wahrheit abirren (Jak 5)

„Meine Brüder, wenn jemand unter euch von der Wahrheit abirrt, und es führt ihn jemand zurück, so wisse er, dass der, der einen Sünder von der Verirrung seines Weges zurückführt, eine Seele vom Tod erretten und eine Menge von Sünden bedecken wird“ (Jak 5,19.20).

Jakobus spricht seine Brüder nach dem Fleisch an: „Wenn jemand unter euch von der Wahrheit abirrt.“ Der Hintergrund dieser Aussage ist natürlich im Rahmen des besonderen Dienstes von Jakobus zu sehen, der an die zwölf Stämme Israels in der Zerstreuung schrieb. Dennoch finden wir in diesen Versen wichtige Hinweise, die allgemeine Gültigkeit haben.

Wenn hier von einem Sünder die Rede ist, dessen Seele vom Tod errettet wird, so können wir das nicht auf einen ungläubigen Menschen beschränken. Es wird bewusst sehr allgemein ausgedrückt, so dass wir die Anwendung auf uns durchaus machen können. Der Ausdruck „von der Wahrheit abirren“ ist hier ebenfalls von allgemeiner Bedeutung. Es ist die Wahrheit, so wie sie den Briefempfängern damals bekannt war. Uns ist viel mehr offenbart. Aber die Gefahr, von dem abzuirren, was uns an Wahrheit offenbart ist, besteht zu jeder Zeit. Abirren von der Wahrheit ist gleichzeitig ein Verirren auf dem richtigen Weg.

Was tun wir, wenn wir erkennen, dass ein Bruder oder eine Schwester sich verirrt hat? Was hat der Herr Jesus in solchen Fällen getan? Er ist dem Verirrten nachgegangen! Davon spricht der Herr gerade in Matthäus 18 – ein Abschnitt, der uns noch beschäftigen wird – „Was meint ihr? Wenn ein Mensch hundert Schafe hätte und eins von ihnen sich verirrte, lässt er nicht die neunundneunzig auf den Bergen und geht hin und sucht das umherirrende?“ (Mt 18,12). Der Prophet Hesekiel zeigt uns diese suchende Tätigkeit des Hirten in Kapitel 34 mit ergreifenden Worten. Es lohnt sich, dieses Kapitel in Ruhe zu lesen und von unserem Herrn zu lernen.

Jakobus fordert uns nun auf, diese Hirtengesinnung zu offenbaren, indem wir uns um solche kümmern, die sich verirrt haben. Hier lernen wir, was echter Hirtendienst und Seelsorge ist – nämlich sich in Liebe um solche zu kümmern, die von der Wahrheit abgeirrt sind und den Weg verloren haben. Wie tun wir das? Wir führen sie zurück! Wir nehmen einen solchen sozusagen an die Hand und bringen ihn wieder zurück. Das ist das Ziel der Bemühungen.

Der Hinweis, dass derjenige, der so etwas tut, eine Menge von Sünden bedecken wird, führt uns zu der bereits angeführten Stelle in 1. Petrus 4,8, wo wir sahen, dass es die Liebe ist, die so handelt. Die Sache wird nicht unnötig publik gemacht, sondern – wenn eben möglich – im persönlichen Dienst „unter vier Augen“ geregelt.

Müssen wir nicht zugeben, dass viele Probleme unter Glaubensgeschwistern erst gar nicht aufgetreten wären, wenn dieser Dienst der persönlichen Seelsorge mehr getan worden wäre? Hätte nicht manche Schwierigkeit im Geist dieser Stelle geregelt werden können, ohne dass es zu hässlichen Narben und Wunden gekommen wäre? Gerade das lieblose Reden über mögliches Fehlverhalten anderer kann immense Schäden hinterlassen, die nur schwer zu reparieren sind.

Der sündigende Bruder (Lk 17)

Eine letzte Stelle unter der Überschrift „der Dienst von Bruder zu Bruder“ führt uns zu einem Wort, das der Herr Jesus selbst gesprochen hat, als er auf dieser Erde war:

„Habt Acht auf euch selbst: Wenn dein Bruder sündigt, so weise ihn zurecht, und wenn er es bereut, so vergib ihm. Und wenn er siebenmal am Tag gegen dich sündigt und siebenmal zu dir umkehrt und spricht: Ich bereue es, so sollst du ihm vergeben“ (Lk 17,3.4).

Die Parallelstelle hierzu finden wir in Matthäus 18. Dort leitet der Herr Jesus mit diesem Gedanken die Belehrung über das Binden und Lösen der örtlichen Versammlung ein. In Matthäus 18 ist es ein Bruder, der gegen den anderen sündigt, d.h. also eine ganz persönliche Sache zwischen zwei Brüdern. Hier ist es allgemeiner gehalten. Der Herr Jesus sagt: „Wenn dein Bruder sündigt …“. Das ist eine Situation, in der ein Bruder Schuld auf sich lädt und ein anderer es sieht. Was tun wir dann? Verschließen wir die Augen? Gehen wir gleichgültig darüber hinweg? Erzählen wir anderen davon? Der Herr Jesus hat seine Jünger etwas anderes gelehrt: „Weise ihn zurecht.“ Das Wort wird an anderen Stellen mit „tadeln“ oder „ernstlich zureden“ wiedergegeben.

Dieses Prinzip finden wir bereits im Alten Testament. Es ist gut möglich, dass der Herr Jesus darauf anspielt: „Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen. Du sollst deinen Nächsten ernstlich zurechtweisen, damit du nicht seinetwegen Schuld trägst“ (3. Mo 19,17). Die Fußnote ist beachtenswert. Dort heißt es: „Oder: und sollst Sünde auf ihm nicht ertragen“. Es ist also hier wieder die Gesinnung der Liebe, die nicht zulassen will, dass der Bruder durch die Sünde Schaden nimmt. Wenn wir unseren Bruder zurechtweisen wollen, ist das Motiv die Liebe und das Mittel das Wort Gottes.

Doch beachten wir gut, wie dieser Abschnitt beginnt und wie er endet. Der Herr leitet ihn ein mit den Worten „habt Acht auf euch selbst“. Er schließt ihn mit dem Hinweis auf die notwendige Vergebungsbereitschaft. Ohne das tiefe Bewusstsein der Gefahr, in der wir selbst stehen – anders ausgedrückt, ohne Selbstgericht –, werden wir diesen Dienst nicht tun können. Wenn wir nicht mit der inneren Haltung hingehen, unserem Bruder zu vergeben, können wir uns den Weg gleich sparen.

Zurechtweisen in der Versammlung

Es wird in der Praxis des Versammlungslebens Fälle geben, in denen die Zucht zwar einen öffentlichen Charakter hat, aber nicht unbedingt ein Ausschluss ist. Zunächst ist es wichtig zu sehen, dass wir als Gläubige nicht nur eine individuelle Verantwortung vor Gott haben, sondern dass es zugleich eine gemeinschaftliche Verantwortung gibt. Natürlich ist jeder zuerst für sich selbst verantwortlich. Das Neue Testament zeigt uns aber sehr deutlich, dass wir als Glieder des einen Leibes miteinander verbunden sind: „Denn so wie der Leib einer ist und viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obgleich viele, ein Leib sind: so auch der Christus“ (1. Kor 12,12). Aus dieser Verbundenheit der Gläubigen untereinander resultiert, dass es in manchen Fällen ein mehr „offizielles“ Beschäftigen mit einem Fehlverhalten und eine öffentlich ausgeübte Zucht gibt. Das nimmt nichts davon weg, dass es in vielen Fällen zunächst persönliche Bemühungen geben wird.

Der unordentliche Wandel (1. Thes 5)

„Wir ermahnen euch aber, Brüder: Weist die Unordentlichen zurecht“ (1. Thes 5,14).

Diese Anweisung erfolgt an „die Versammlung der Thessalonicher“ (vgl. 1. Thes 1,1). Diese Versammlung stand im Allgemeinen sehr gut. Paulus kann ihnen in Kapitel 1 ein Zeugnis ausstellen, das seinesgleichen sucht. Die Thessalonicher waren zielorientierte Christen. Sie hatten sich bekehrt, um Gott zu dienen und seinen Sohn aus den Himmeln zu erwarten. Dennoch gab es unter ihnen einige, die offensichtlich unordentlich wandelten. Paulus fordert sie deshalb auf, diese zurechtzuweisen.

Was bedeutet ein unordentlicher Wandel? In 1. Thessalonicher 4,11 ermahnt Paulus die Briefempfänger, sich zu beeifern, still zu sein und ihre eigenen Geschäfte zu tun. Sie sollten mit ihren eigenen Händen arbeiten und ehrbar, d.h. anständig vor denen wandeln, die draußen waren. Im zweiten Brief kommt Paulus darauf zurück. In Kapitel 3,6–15 spricht er von solchen, die unordentlich wandelten und bringt das damit in Verbindung, dass sie nicht arbeiten wollten. Offensichtlich ging es um Geschwister, die sich in ihrem praktischen Wandel so verhielten, dass die ungläubigen Mitmenschen wahrnahmen, dass etwas mit ihnen nicht stimmte. Ihr äußeres Verhalten gab Anlass zur Kritik.

Das Wort „unordentlich“ ist der Militärsprache entnommen und bedeutet, dass einer nicht in Reihe und Glied marschiert. Es sind Gläubige, die nicht „im Takt“ gehen. Wir könnten sie „taktlos“ nennen. Das Bild ist dieses: Die Gläubigen – in der örtlichen Versammlung, und darüber hinaus – sollen im Gleichschritt gehen. Das heißt nicht, dass wir ein uniformiertes Glaubensleben führen. Ganz und gar nicht. Wir werden nicht zur „Uniformität“ aufgefordert. Glaubensleben kann und soll sehr individuell sein. Aber die Richtung, in die wir gehen, muss doch die gleiche sein. Wir gehen einen gemeinsamen Weg. Wir sollen einerlei Gesinnung haben (d.h. in die gleiche Richtung denken und dabei auf den Herrn Jesus sehen). Wer dabei stört – und für andere Menschen sichtbar aus der Reihe tanzt –, ist ein Unordentlicher. Das Spektrum ist hier also relativ breit zu sehen, aber es scheint im Schwerpunkt um Fehlverhalten in irdischen Angelegenheiten (im sozialen Verhalten) zu gehen. Das kann sich auf die Arbeit beziehen, ist aber ganz sicher nicht darauf beschränkt.

Der so Störende soll zunächst zurechtgewiesen werden. Wie das im Einzelnen geschieht, wird im ersten Thessalonicherbrief noch nicht behandelt. Im zweiten Brief kommt Paulus darauf zurück. Es scheint aber, dass es wohl erneut zunächst persönliche Bemühungen – z.B. von Brüdern, die einen Ältestendienst ausüben – geben wird. Zurechtweisen meint „zum Rechten hinweisen“. Es ist im ersten Schritt ein liebevolles Bemühen in einem persönlichen Rahmen. Wir werden aber sogleich sehen, dass diese Zurechtweisung – wenn sie nicht angenommen wird – schnell einen öffentlichen Charakter bekommt.

Die Bezeichnung (2. Thes 3)

„Wir gebieten euch aber, Brüder, im Namen unseres Herrn Jesus Christus, dass ihr euch zurückzieht von jedem Bruder, der unordentlich wandelt und nicht nach der Überlieferung, die er von uns empfangen hat. ... Denn auch als wir bei euch waren, geboten wir euch dieses: Wenn jemand nicht arbeiten will, so soll er auch nicht essen. Denn wir hören, dass einige unter euch unordentlich wandeln, indem sie nichts arbeiten, sondern fremde Dinge treiben. Solchen aber gebieten wir und ermahnen sie in dem Herrn Jesus Christus, dass sie, in der Stille arbeitend, ihr eigenes Brot essen. Ihr aber, Brüder, ermattet nicht, Gutes zu tun. Wenn aber jemand unserem Wort durch den Brief nicht gehorcht, den bezeichnet und habt keinen Umgang mit ihm, damit er beschämt werde; und erachtet ihn nicht als einen Feind, sondern weist ihn zurecht als einen Bruder“ (2. Thes 3,6–15).

Hier wird nun konkreter deutlich, was im Fall der Thessalonicher ein unordentlicher Wandel war. Das kann heute noch so sein, es sind aber – im Sinn dessen, was wir vorher sahen – durchaus andere Fälle eines unordentlichen Wandels denkbar.

Unter den Thessalonichern gab es solche, die aufgehört hatten zu arbeiten. Die Motive dazu mögen unterschiedlicher Natur gewesen sein. Jedenfalls war ihr Verhalten nicht gut. Ein Christ soll in seiner täglichen Arbeit fleißig sein und für seinen eigenen Lebensunterhalt sorgen. Hier gab es offensichtlich Geschwister, die anderen auf der Tasche lagen. Sie gingen umher und mischten sich in Dinge ein, die sie nichts angingen. Diese Gefahr ist immer groß. Wenn jemand nicht mit den Händen oder dem Kopf tätig ist, „arbeitet“ er oft umso mehr mit seinem Mund – und das ist oft zum großen Schaden. Solche Menschen mag es heute ebenfalls geben. Dabei geht es ausdrücklich nicht um solche, die nicht arbeiten können (weil sie z.B. arbeitslos oder krank sind), sondern um solche, die nicht arbeiten wollen. Diesen Unterschied wollen wir wohl beachten. Aber – wie bereits bemerkt – es sind durchaus andere Fälle eines unordentlichen Wandels denkbar, z.B. das jemand seine Familie nicht ordentlich versorgt, sein Haus in einem völlig desolaten Zustand belässt oder in anderer Weise die öffentliche Ordnung stört.

Was war nun zu tun? Am Anfang steht das persönliche Bemühen, die Zurechtweisung. Offensichtlich hatte die Zurechtweisung aus dem ersten Brief ihr Ziel aber nicht erreicht. Deshalb geht Paulus jetzt in der Belehrung weiter. Er zeigt drei Schritte auf:

  • Schritt 1: Sie sollten sich von dem Betreffenden zurückziehen. Glückliche Gemeinschaft ist nicht mehr möglich. Man kann nicht so tun, „als ob nichts wäre“. Der Betreffende muss merken, dass er gemieden wird. Normale brüderliche Kontakte (Besuche etc.) sind nicht möglich.
  • Schritt 2: Die Person soll ermahnt werden. Es war Paulus, der die Ermahnung aussprach, aber er tat es durch die Thessalonicher. Das Ziel ist die Wiederherstellung. Sie soll von ihrem unordentlichen Wandel lassen.
  • Schritt 3: Die Person soll bezeichnet werden. Das ist der letzte Schritt, wenn die ersten beiden nicht zum Erfolg führen.

Was bedeutet es, einen Bruder zu bezeichnen, der unordentlich wandelt? Es ist nicht ganz einfach, diese Frage abschließend zu beantworten. Der Vorgang kommt nur an dieser Stelle vor, und es gibt – so weit ich es weiß – kein Bild im Alten Testament, das diese Handlung vorschattet und uns Hilfestellung geben könnte. Dennoch gibt der Text uns einige Hinweise:

Bezeichnen bedeutet vom Wort her soviel wie „jemand öffentlich markieren“, ihn „kennzeichnen“. Man macht also öffentlich – d.h. hier in der örtlichen Versammlung – klar, dass so jemand einen unordentlichen Wandel führt. Jeder, der mit ihm zu tun hat, weiß das.

Es wird immer wieder die Frage gestellt, ob dieses Bezeichnen die Handlung der Versammlung oder die Handlung Einzelner (Brüder/Geschwister) ist. Diese Frage ist ebenso nicht ganz einfach zu beantworten. Sicherlich ist eine Bezeichnung in der Durchführung nicht mit einem Ausschluss zu vergleichen. In 1. Korinther 5 und Matthäus 18 wird sehr deutlich, dass ein Ausschluss nur dann vollzogen werden kann, wenn die Versammlung im Namen des Herrn Jesus zusammenkommt. Es ist eine Handlung der gesamten Versammlung. Dieser „formelle Beschluss“ fehlt bei der Bezeichnung. Dennoch ist es nicht denkbar, dass ein Einzelner (oder eine kleine Gruppe von Brüdern/Geschwistern) eine Bezeichnung „im Alleingang“ vornimmt. Brüder, die in einer örtlichen Versammlung die Verantwortung tragen (was durchaus ein biblisches Prinzip ist), werden eine solche Sache erstens vor dem Herrn im Gebet erwägen und sie dann zweitens der Versammlung vortragen. Immerhin ist der Brief an die „Versammlung der Thessalonicher in Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus“ (2. Thes 1,1) gerichtet. Das gibt dieser Zuchtmaßnahme einen durchaus „offiziellen“ Charakter, wenngleich etwas anders als bei einem Ausschluss. Die Bezeichnung ist jedenfalls nicht von der örtlichen Versammlung zu trennen. Das wird dadurch unterstrichen, dass die Bezeichnung Konsequenzen für die Geschwister einer örtlichen Versammlung hat.

Was sind nun diese Konsequenzen? Paulus stellt drei Folgen vor:

  • Folge 1: Mit einem Bezeichneten soll man keinen Umgang haben. Das bedeutet den Abbruch der normalen sozialen Kontakte, die man untereinander pflegt, also z.B. gegenseitige Besuche, gemeinsame Dienste etc.
  • Folge 2: Der Bezeichnete soll zurechtgewiesen werden. Hier sehen wir einen deutlichen Unterschied zu einem Ausschluss 2. Der Betreffende ist nach wie vor Gegenstand seelsorgerlicher Bemühungen. Er wird zurechtgewiesen. Das Ziel ist, dass er beschämt wird. Dadurch soll er zur Buße kommen.
  • Folge 3: Wir achten ihn nicht als einen Feind, sondern als einen Bruder. Wir sollen einem Bezeichneten gegenüber nach wie vor brüderliche Empfindungen haben. Es ist und bleibt ein Bruder, „um dessentwillen Christus gestorben ist“ (1. Kor 8,11). Eine solche Aussage finden wir in 1. Korinther 5 nicht.

Es ist völlig klar, dass es sich in 2. Thessalonicher 3,14.15 nicht um einen Ausschluss handelt. Der Betreffende nimmt nach wie vor am Brotbrechen teil. Es ist nicht die Rede davon, dass er „draußen“ ist. Wir sollen zwar keinen Umgang mit ihm haben, ihn aber dennoch zurechtweisen. Des Weiteren ist hier nicht die Rede von der Reinigung der Versammlung, die dadurch erfolgt, dass ein Böser hinausgetan wird. Diese Unterschiede sollten in der Praxis des Versammlungslebens unbedingt beachtet werden.

Folgende Gegenüberstellung stellt die wichtigsten Merkmale einer Bezeichnung und eines Ausschlusses gegenüber:

Bezeichnung nach 2. Thessalonicher 3,14.15:

  1. Kein Umgang
  2. Zurechtweisung
  3. Seelsorgerliche Bemühungen
  4. Teilnahme am Brotbrechen
  5. Drinnen
  6. Ziel: Wiederherstellung

Ausschluss nach 1. Korinther 5:

  1. Kein Umgang
  2. Keine Zurechtweisung
  3. Keine seelsorgerlichen Bemühungen
  4. Keine Teilnahme am Brotbrechen
  5. Draußen
  6. Ziel: Reinigung der Versammlung und Wiederherstellung

Eine ausgesprochene Bezeichnung bleibt so lange bestehen, bis der Grund für die Bezeichnung nicht mehr vorliegt. Wenn der Herr durch die Maßnahme der Bezeichnung mit dem Betreffenden zum Ziel gekommen ist, muss sie von denen, die sie ausgesprochen haben, aufgehoben werden. Andernfalls bleibt sie bestehen.

Es sind in der Praxis Fälle denkbar, in denen sich der Zustand nicht verbessert, sondern verschlechtert. In einem solchen Fall kann es sein, dass einer Bezeichnung zu einem späteren Zeitpunkt ein Ausschluss folgt. Dies muss aber keineswegs „automatisch“ der Fall sein, wenn keine Besserung eintritt. Ein Ausschluss – das werden wir noch sehen – ist dann erforderlich, wenn ein böser Zustand vorliegt. Ein unordentlicher Wandel kann zu einem bösen Zustand führen, er muss es aber nicht. Jeder Fall muss daher sorgfältig und für sich betrachtet werden. Leider sind Fälle vorgekommen, wo eine Person ausgeschlossen wurde, obwohl eine Bezeichnung die geeignete Zuchtmaßnahme gewesen wäre. Andererseits sind Geschwister bezeichnet worden, obwohl ein Ausschluss angebracht gewesen wäre. Der Herr muss uns im Einzelfall den richtigen Weg zeigen.

Handeln mit einem Sektierer

Die Gefahr des Sektierertums kam in der Geschichte der Versammlung Gottes auf dieser Erde offensichtlich schon sehr früh auf. Es war immer der Gedanke Gottes, ein geeintes Volk auf dieser Erde zu haben. Doch der Feind hatte schon sehr früh Erfolg mit seinen Bemühungen, das Volk Gottes zu spalten. Wie Gott über Sektierertum denkt, wird uns sehr deutlich, wenn wir die betreffenden Stellen aus dem Römerbrief und dem Brief an Titus lesen:

„Ich ermahne euch aber, Brüder, auf die zu achten, die Zwiespalt und Ärgernis anrichten, entgegen der Lehre, die ihr gelernt habt, und wendet euch von ihnen ab. Denn solche dienen nicht unserem Herrn Christus, sondern ihrem eigenen Bauch, und durch süße Worte und schöne Reden verführen sie die Herzen der Arglosen“ (Röm 16,17.18).

„Einen sektiererischen Menschen weise ab nach einer ein- und zweimaligen Zurechtweisung, da du weißt, dass ein solcher verkehrt ist und sündigt, wobei er durch sich selbst verurteilt ist“ (Tit 3,10.11).

Der Apostel warnt die Gläubigen hier vor zwei Gefahren, nämlich vor solchen Menschen, die erstens Zwiespalt und zweitens Ärgernis anrichteten. Zwiespalt bedeutet in zwei Teile spalten. Es sind also Menschen, die Spaltungen machen und die Gläubigen entzweien. Das ist häufig die Vorstufe für die Entstehung einer Sekte. Zu dem Zeitpunkt, als Paulus an die Römer schrieb, befanden sich diese Menschen wahrscheinlich noch in der Versammlung Gottes in Rom. Aber sie arbeiteten darauf hin, die Gläubigen auseinander zu bringen. Solche Menschen hat es in der Kirchengeschichte immer gegeben. Ihnen liegt nicht das Wohl der Herde und die Ehre des Herrn am Herzen, sondern sie versuchen, die Gläubigen auf ihre Seite zu bekommen und für ihre Gedanken zu begeistern.

Die andere Gefahr besteht darin, dass es Menschen gibt, die Ärgernisse anrichten. Ein Ärgernis ist ein „Fallstrick“ oder eine Verführung zur Sünde. Es bedeutet, dass andere Gläubige durch das Verhalten dieser Menschen zur Sünde verleitet wurden und damit ihr Glaubensleben Schaden erlitten hat.

Die Gläubigen in Rom sollten deshalb ein Auge auf sie haben. „Achten auf“ bedeutet so viel wie „den Blick auf sie richten“. Doch nicht nur das: Sie sollten sich auch abwenden. Dieses „Sichabwenden“ ist kein Ausschluss aus der Gemeinschaft am Tisch des Herrn. Es bedeutet, dass man diesen Menschen ausweicht und ihnen auf diese Weise keine Gelegenheit gibt, ihren Einfluss weiter auszuüben. Man könnte das Wort alternativ mit „ausbiegen“ oder „abweichen“ übersetzen. Das schließt ein, dass man den Dienst solcher Menschen nicht annehmen kann. Man soll sie meiden.

Diese Aufforderung gilt bis heute. Wenn Tendenzen dieser Art in einer örtlichen Versammlung sichtbar werden, erfordert das unsere ganze Aufmerksamkeit. Wir können das nicht einfach laufen lassen. Die Aktualität dieser Form der Zucht liegt auf der Hand. Paulus schreibt: „... entgegen der Lehre, die ihr gelernt habt“. Was war das für eine Lehre, die sie gelernt hatten? Wir zweifeln nicht daran, dass Paulus hier Bezug nimmt auf das, was er in Kapitel 12 geschrieben hatte, wo er die Einheit des Leibes erklärt hat. „Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben worden ist, jedem, der unter euch ist, nicht höher von sich zu denken, als zu denken sich gebührt, sondern so zu denken, dass er besonnen sei, wie Gott einem jeden das Maß des Glaubens zugeteilt hat. Denn ebenso wie wir in einem Leib viele Glieder haben, aber die Glieder nicht alle dieselbe Tätigkeit haben, so sind wir, die vielen, ein Leib in Christus, einzeln aber Glieder voneinander“ (Röm 12,3–5). Spalterische Tendenzen handeln gegen die Einheit des Leibes. Im Licht anderer Briefe können wir an Epheser 4,3 denken. Dort werden wir aufgefordert, „die Einheit des Geistes zu bewahren in dem Band des Friedens“. Wer Geschwister auseinanderbringt und ihnen einen Fallstrick legt, handelt gegen die Lehre, die wir gelernt haben.

In Titus 3 ist dann direkt die Rede von einem sektiererischen Menschen. Er soll ein- oder zweimal zurechtgewiesen werden, dann soll man ihn abweisen. In Römer 16,17.18 lautet die Aufforderung, dass wir uns abwenden. In Titus 3,10.11 ist es der sektiererische Mensch, der abgewiesen werden muss. Er ist in seinem Charakter verkehrt und sündigt in seinen Handlungen. Dadurch verurteilt er sich selbst. Es gehört zur Ordnung im Haus Gottes, dass man sektiererische Menschen nicht einfach wirken lässt.

An dieser Stelle wollen wir uns kurz fragen, was eigentlich – im Licht des Neuen Testaments – eine Sekte ist. Eine Sekte (gr. haíresis) ist eine Parteiung. Es finden sich Menschen zusammen, die eine bestimmte Seite der Wahrheit überbetonen und andere Seiten der Wahrheit vernachlässigen. Es gibt verderbliche Sekten mit böser Lehre, durch die die Person des Herrn und sein Werk angetastet werden. Es gibt jedoch ebenso Sekten (Parteiungen), ohne dass direkt böse Lehre vorhanden ist. Sektiererisch ist alles, was von der Wahrheit des einen Leibes abweicht. Eine Spaltung (gr. schísma) hingegen ist etwas anderes. Man könnte dieses Wort ebenso mit „Riss“ oder „Zwiespalt“ übersetzen. Spalterische Tendenzen sind oft die Vorstufe zur Bildung einer Parteiung. In Korinth gab es Spaltungen, aber (noch) keine Sekten oder Parteiungen. Die Gefahr besteht jedoch, dass aus Spaltungen Sekten und Parteiungen werden 3.

In Galater 5,20 zählen Sekten zu den Werken des Fleisches. Sie werden dort in einem Atemzug mit Hurerei, Götzendienst, Zauberei und anderen Sünden genannt. Sektenbildung ist durchaus keine Kleinigkeit. Deshalb wird Titus aufgefordert, solche Menschen zunächst zu ermahnen, aber nur ein- oder zweimal. Wenn sie dann nicht hören, muss man sie abweisen. Abweisen bedeutet zurückweisen, ablehnen, ignorieren.

Es ist gefragt worden, warum bei dieser gravierenden Sünde in Titus 3 nicht die Rede von einem Ausschluss ist. Dazu zwei Gedanken:

  1. Es ist fraglich, ob sich der sektiererische Mensch in Titus 3 noch innerhalb der Versammlung befand oder nicht schon eine eigene Gruppe gebildet hat. Jemanden, der sich bereits abgewandt hat, kann man nicht mehr ausschließen.
  2. Dieser Brief ist nicht an eine örtliche Versammlung, sondern an Titus als eine Einzelperson gerichtet. Ausschließen kann aber nur eine Versammlung, niemals ein einzelner Diener.

Handeln mit denen, die sündigen

Eine weitere Stelle, die wir bedenken wollen, ist im 1. Timotheusbrief zu finden. Dort schreibt Paulus:

„Die da sündigen, überführe vor allen, damit auch die Übrigen Furcht haben“ (1. Tim 5,20).

Ohne Frage handelt es sich hier um eine weitere Form der Zucht. Es ist jedoch fraglich, ob es an dieser Stelle eine allgemeine Aufforderung ist oder ob es sich hier nicht vielmehr um eine sehr spezielle Form der Zucht handelt. Es ergeben sich drei Fragen:

  1. Gilt die Aufforderung, vor allen zu überführen, speziell für Timotheus, und in welcher Form ist sie auf uns bzw. auf eine örtliche Versammlung übertragbar? Dieser Brief ist ja – wie der Brief an Titus – ein persönlicher Brief von Paulus an einen seiner Mitarbeiter.
  2. Wer ist mit dem Ausdruck „die da sündigen“ gemeint? Der Textzusammenhang lässt zumindest den möglichen Rückschluss zu, dass es sich um „Älteste“ handelt, die sündigen. Wenn es ein Bruder ist, der den Dienst eines Ältesten ausübt, dann ist offenbar gewordene Sünde besonders gravierend und muss anders behandelt werden, als wenn es jemand ist, der diesen Dienst nicht tut.
  3. Was bedeutet: „… überführe vor allen“? Sind damit die übrigen Ältesten gemeint? Oder geht es um die Versammlung?

Diese Fragen zu beantworten ist nicht einfach und ich möchte mir nicht anmaßen, eine endgültige Antwort zu geben. Brüder mit tiefer Einsicht in das Wort Gottes, die wir sehr schätzen, haben unterschiedliche Antworten darauf gefunden. Mir scheint, dass – wenn wir den Grundsatz des Textzusammenhangs beachten – es hier wahrscheinlich um Älteste geht bzw. solche, die den Dienst eines Ältesten tun. Wenn das so ist, liefert uns Galater 2,11ff ein Beispiel für eine solche Maßnahme der Zucht. Dort lesen wir, dass Paulus seinem Bruder Petrus ins Angesicht widerstand, weil er sich eines Vergehens schuldig gemacht hatte, das ihm als Apostel nicht hätte passieren dürfen. Ich möchte aber eine erweiterte Auslegung dieser Verse nicht ganz ausschließen 4.

Der Ausschluss aus der Gemeinschaft am Tisch des Herrn (Mt 18)

Die Gesinnung in der Ausübung von Zucht (Mt 18,1–14.21–35)

Bevor wir uns im zweiten Teil des Buches mit der letzen und gravierenden Form der Zucht – dem Ausschluss – beschäftigen, wollen wir zunächst separat auf die Gesinnung eingehen, die uns kennzeichnen muss, wenn Zucht ihr Ziel erreichen soll. Wir haben das im Verlauf unserer Überlegungen immer wieder vor uns gehabt, es ist aber der Mühe wert, darauf noch einmal gesondert einzugehen. Diese innere Haltung muss uns bei jeder Form und Ausübung von Zucht kennzeichnen.

Wir wenden uns zu Matthäus 18. Aus diesem Kapitel kennen viele Bibelleser Vers 20. „Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte“. Viele kennen ebenfalls den unmittelbaren Zusammenhang der Verse 15–20, mit denen wir uns noch beschäftigen wollen. Aber wir wollen uns jetzt einmal fragen, ob wir auch den Zusammenhang des gesamten Kapitels kennen? Es ist der Mühe wert zu sehen, in welch einen „Rahmen“ der Herr Jesus seine wichtigen und grundsätzlichen Belehrungen über die Versammlung und über das „Binden und Lösen“ stellt. Die Verse 1–14 und 21–35 zeigen uns nämlich etwas über die Gesinnung, die uns im Reich Gottes kennzeichnen sollte.

Der Herr Jesus wird im Matthäus-Evangelium zunächst als der Sohn Davids (der rechtmäßige König) vorgestellt. Er kommt zu seinem irdischen Volk Israel, um sein Reich zu gründen. Nachdem dieses Volk ihn ablehnt, beginnt der Herr Jesus ab Kapitel 13 über zwei Dinge zu reden, die völlig neu sind. Zum einen spricht er über das Reich der Himmel in einer veränderten und geheimnisvollen Form. Zum anderen spricht er in Matthäus 16 und 18 von der Versammlung. Übrigens sind das die einzigen Stellen in den Evangelien, die überhaupt namentlich von der Versammlung reden.

Das Reich und die Versammlung sind natürlich völlig verschieden voneinander. Sie sind nicht deckungsgleich. Aber was uns Kapitel 18 klar macht, ist dies: Es gibt eine bestimmte Gesinnung der Jünger im Reich, und genau diese Gesinnung sollte uns ebenfalls in der Versammlung Gottes kennzeichnen – ganz besonders dann, wenn es Probleme und Schwierigkeiten gibt, wenn Sünde aufkommt und behandelt werden muss.

Wir wollen uns jetzt in fünf Punkten mit dieser Gesinnung beschäftigen.

Die Gesinnung der Demut und Selbstverleugnung (Mt 18,1–5)

Unter den Jüngern war die im menschlichen Miteinander immer aktuelle Frage aufgekommen, wer denn wohl der Größte unter ihnen sei. Erneut bewundern wir die Weisheit unseres Herrn. Bevor er etwas sagt, unterrichtet er seine Jünger ohne Worte. Er geht weg, holt ein Kind herbei und stellt es in ihre Mitte. Wir sind leicht geneigt, das zu überlesen. Ein kleines Kind steht plötzlich neben dem Herrn in der Mitte von zwölf erwachsenen Männern. War nicht allein das schon eine eindrucksvolle Unterweisung? Warum gerade ein Kind? Ein Kind ist abhängig von anderen. Ein Kind hält nichts von sich. Es weiß, dass es alleine zu nichts imstande ist. Dann sagt der Herr Jesus: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder...“. Als wir uns bekehrten, waren wir gerade so. Da haben wir gar nichts von uns selbst gehalten. Da wussten wir uns ganz abhängig von der Gnade, die uns gesucht und gefunden hat. Aber jetzt? Im Reich Gottes? In der Versammlung? Meinen wir da, etwas zu sein? Wenn ja, haben wir vergessen, dass es Gnade war, die wir empfangen haben. Ein tiefes Bewusstsein der empfangenen Gnade führt zu Demut. Dann haben wir den Stab über uns selbst gebrochen. Dann nehmen wir uns nicht so wichtig.

Wenn der Herr dann in Vers 15 dazu auffordert, zu dem Bruder zu gehen, der gegen einen anderen gesündigt hat, so ist das genau die Gesinnung, die uns kennzeichnen muss. Wenn wir hingehen und eine hohe Meinung von uns selbst haben, werden wir den Bruder kaum gewinnen. Zucht ausüben bedeutet, es in einer Gesinnung der Demut und Niedriggesinntheit zu tun. Nur so kann im persönlichen Gespräch überhaupt etwas erreicht werden. Wenn wir aber auf dem hohen Sockel stehen und meinen, der Bruder müsse uns „zu Füßen kriechen“, werden wir ihn nicht gewinnen. Das gilt genauso, wenn sich einzelne Brüder oder schließlich die ganze Versammlung mit einer Sache beschäftigen müssen. Die Gesinnung der Demut wartet nicht, bis der Bruder von sich aus kommt, sondern sie ergreift selbst die Initiative.

Die Gesinnung der gegenseitigen Rücksichtnahme (Mt 18,6.7)

Der Herr Jesus knüpft an die Belehrung mit dem Kind eine weitere Belehrung an. Wenn er hier davon spricht, dass wir einander nicht ärgern sollen, hat das nichts mit dem zu tun, was wir landläufig unter „jemanden ärgern“ verstehen. Es geht darum, dass wir einander keinen Anstoß geben. Das bedeutet, dass wir uns so verhalten, dass unser Bruder oder unsere Schwester durch unser Verhalten nicht stolpert, nicht zu Fall kommt und sündigt. Unser Verhalten soll von gegenseitiger Rücksichtnahme und Vorsicht gekennzeichnet sein. Gerade wenn es um jung bekehrte Menschen geht, soll unser Verhalten so sein, dass wir rücksichtsvoll und vorsichtig sind und sie nicht überfordern.

Die Bibel gebraucht das Wort „Anstoß“ übrigens anders, als wir es oft tun. Wir reden häufig davon, dass wir an etwas Anstoß nehmen. Die Bibel redet davon, dass wir keinen Anstoß geben sollen. Das ist ein kleiner, aber wichtiger Unterschied, den wir unbedingt beachten wollen.

Gegenseitige Rücksichtnahme ist gerade in Zuchtfragen angebracht. Das schließt ein, dass man die Sünde des Bruders oder der Schwester – wenn nicht unbedingt erforderlich – nicht gleich öffentlich macht, sondern zunächst im Geist der Liebe versucht, die Sache untereinander zu klären. Der Herr fordert uns auf, zu dem Bruder zu gehen, um ihn zu gewinnen. Erst wenn das zu keinem Ergebnis führt, sollen wir die Sache schließlich der Versammlung sagen. Natürlich kann Rücksichtnahme am Ende nicht so weit gehen, dass eine notwendige Zuchtmaßnahme unterlassen wird. Aber um den Bruder zu gewinnen, ist sie unerlässlich.

Die Gesinnung des Selbstgerichts (Mt 18,8.9)

Den Bruder gewinnen kann man nur, wenn man selbst erkennt, wie leicht man zur Sünde verleitet werden kann. Deshalb spricht der Herr jetzt davon, dass es möglich ist, sich selbst zu ärgern. Sich selbst ärgern bedeutet, dass man sich durch sein eigenes Verhalten zur Sünde verführt. Der Herr redet von der Hand, vom Fuß und vom Auge. Wenn er sagt, dass man diese Körperteile abhauen oder ausreißen soll, ist das keine Aufforderung zur Selbstverstümmelung. Nein, die Hand redet von unserem Handeln, der Fuß von den Wegen, die wir gehen und das Auge von den Dingen, die wir sehen. Es kann sein, dass ich mit meiner Hand Dinge tue, die mir zur Sünde werden. Es kann sein, dass ich Wege gehe, auf denen ich zu Fall komme. Es kann sein, dass ich mir Dinge ansehe, die mich verunreinigen. Wenn wir um solche Dinge wissen, müssen wir sie vermeiden. Die Kolosser werden aufgefordert, die Glieder zu töten, die auf der Erde sind (Kol 3,5). Töten bedeutet im Sinn von Matthäus 18 radikal ausreißen. Während wir also unseren Geschwistern gegenüber rücksichtsvoll sein sollen, müssen wir uns selbst gegenüber in diesem Sinn radikal sein.

Gerade in Zuchtfragen brauchen wir diese Gesinnung des Selbstgerichts. Wenn wir uns mit der Sünde anderer beschäftigen (müssen), ist es unabdingbar, dass wir das im Geist des Selbstgerichts tun. Vielleicht haben wir uns dem Bruder gegenüber falsch verhalten! Vielleicht waren wir lieblos! Vielleicht haben wir ihm Anlass gegeben, einen falschen Weg einzuschlagen! Das sollten wir prüfen, bevor wir zu dem Bruder gehen. Und wenn es so ist, sollen wir das dem Herrn, und gleichzeitig dem Bruder bekennen. Wird sein Herz nicht durch ein solches Bekenntnis weich werden und wir gewinnen den Bruder?

Die Gesinnung der nachgehenden Gnade (Mt 18,11–14)

Die Gnade macht uns der Sünde gegenüber nicht gleichgültig. Sie handelt nicht nach dem Motto: „Schwamm drüber“. Im Gegenteil: Das Bewusstsein, dass wir in der Gnade stehen, schärft den Blick für das Böse. Gnade deckt Böses auf – aber zuerst bei mir selbst. Vor allem aber bewirkt die Gnade, dass wir dem Bruder nachgehen. Das macht der Herr in dem Gleichnis vom Hirten und vom Schaf deutlich. Er will uns zeigen, wie wichtig es ist, dass wir das Herz eines Hirten haben. Der Herr spricht hier nicht von dem „verlorenen“ Schaf (wie im Lukas-Evangelium), sondern von dem „verirrten“ Schaf. Es ist ein Schaf, das den richtigen Weg verloren hat.

Wie viele Verirrungen gibt es heute! Sind wir bereit, solche Geschwister in der Gesinnung der nachgehenden Gnade zu suchen und zu finden? In Hesekiel 34 macht der Herr uns klar, wie er dem verirrten Schaf nachgeht. Einerseits bewundern wir darin das Handeln unseres Herrn mit uns. Andererseits möchte der Herr uns deutlich machen, dass wir in der gleichen Gesinnung handeln sollen.

In Fragen der Zucht brauchen wir ein solches Hirtenherz. Die Versammlung ist nie ein Gerichtshof, in dem ohne Emotionen nur nach Fakten entschieden und gehandelt wird. Nein, der Herr möchte bei uns die Empfindungen eines Hirten wecken, der dem Verirrten nachgeht. Nur so können wir den Bruder „gewinnen“.

Die Gesinnung der vergebenden Gnade (Mt 18,21–35)

Der Abschnitt, der auf Vers 20 folgt, zeigt uns eindrucksvoll, dass wir im Geist der vergebenden Gnade handeln sollen. In dem Knecht, dem der König die große Schuld vergibt, erkennen wir uns selbst. Wie groß war die Schuld, die Christus uns vergeben hat. Wir alle hatten Schuld aufgehäuft, und niemand von uns konnte von dieser Schuld nur einen einzigen „Cent“ abtragen. Der Herr hat uns aus freier Gnade alles vergeben. Nun werden wir aufgefordert, einander zu vergeben, wie auch der Christus uns vergeben hat (Kol 3,13).

Empfangene Vergebung macht uns selbst vergebungsbereit gegenüber unseren Geschwistern. Wie auch immer der Bruder gegen einen anderen gesündigt hat – es steht in keinem Verhältnis zu dem, was Christus uns vergeben hat. Je größer unser Bewusstsein von der Schuld ist, die uns vergeben worden ist, um so eher werden wir bereit sein, einander zu vergeben.

Die in diesen fünf Punkten beschriebene Gesinnung ist eine notwendige Voraussetzung für die Ausübung schriftgemäßer Zucht. Wenn diese Gesinnung nicht vorhanden ist, verhindern menschliche und fleischliche Gedanken ein geistliches Urteil. Außerdem fehlt die geistliche Kraft und Einsicht für eine notwendige Zuchthandlung, so dass man entweder gar nichts tut oder in einer übertriebenen Schärfe und menschlicher Kraft handelt. Durch beide ungeistlichen Verhaltensweisen wird das Ziel der Wiederherstellung nicht erreicht.

Zucht ist immer etwas Bedrückendes. Damit es möglichst gar nicht erst so weit kommt, wollen wir unseren Herrn bitten:

  • dass wir nahe bei ihm bleiben, um von ihm Sanftmut und Demut zu lernen. Er möchte, dass seine Gesinnung in uns offenbar wird. Wer ist ein Hirte wie er, der sich um seine Schafe kümmert? In der persönlichen Gemeinschaft mit ihm können wir mehr und mehr in sein Bild gestaltet werden.
  • dass er uns in den örtlichen Versammlungen solche gibt, die einen wirklichen Hirtendienst ausüben und den Geschwistern in seelsorgerlichem Bemühen nachgehen. Das brauchen nicht nur ältere Geschwister zu sein. Diese Aufgabe können ebenso Jüngere übernehmen. Wer eine solche Gabe vom Herrn bekommen hat, sollte sie unter der Leitung des Heiligen Geistes nutzen. Es ist ohne Frage wichtig, dass wir das Evangelium weitertragen. Es ist ohne Frage wichtig, dass die Gläubigen in der Wahrheit unterwiesen werden. Es ist aber ebenso wichtig, dass echter Hirtendienst getan wird.
  • dass wir eine echte und gute geistliche Gemeinschaft untereinander haben und so aufeinander „Acht haben zur Anreizung zur Liebe und zu guten Werken“ (Heb 10,24). Wie manches Fehlverhalten hätte vermieden werden können, wenn wir mehr ein Auge auf solche gehabt hätten, die vielleicht eher etwas zurückgezogen und am Rand leben.

Das Binden und Lösen (Mt 18,15–20)

Das Thema, das jetzt vor uns steht und im zweiten und dritten Teil dieses Buches ausführlicher behandelt wird, ist ein sehr ernstes Thema. Ein Thema, das wir lieber umgehen würden. Es ist dennoch erforderlich, dass wir uns damit beschäftigen. Warum?

  1. Es kommt leider vor, dass eine örtliche Versammlung aufgrund der Anweisungen des Neuen Testamentes gehalten ist, diese letzte Form der Zucht auszuüben, weil offenkundig Böses in ihrer Mitte ist.
  2. Es ist leider zu beobachten, dass über dieses Thema zum Teil große Unkenntnis besteht. Es werden bisweilen Gedanken geäußert, die mit dem Wort Gottes nicht in Übereinstimmung stehen. Dadurch kommt es dann im Einzelfall zu Verhaltensweisen, die nicht gut sind. Das betrifft sowohl den Ausschluss als auch eine spätere Wiederzulassung in die Gemeinschaft am Tisch des Herrn.

Ein Ausschluss – anders kann es nicht sein – ist für alle Beteiligten immer eine äußerst betrübliche Angelegenheit. Wenn das nicht so ist, liegt die Vermutung nahe, dass die Versammlung nicht in der richtigen Gesinnung gehandelt hat.

Die grundsätzliche Bereitschaft, bei Erfordernis Zucht im Sinn eines Ausschlusses auszuüben, ist eine der Voraussetzungen, um nach Matthäus 18,20 zum Namen des Herrn hin versammelt zu sein. Es ist auffallend, dass dieses Thema gerade dort zum ersten Mal im Neuen Testament angesprochen wird – und das von unserem Herrn selbst. Der Herr hat nur zweimal überhaupt direkt von der Versammlung (im neutestamentlichen Sinn) gesprochen: in Matthäus 16,18 und in Matthäus 18,17. In Kapitel 16 geht es um die Versammlung in ihrem weltweiten Charakter als das Haus, das der Herr als der Sohn des lebendigen Gottes selbst baut. In Kapitel 18 geht es um die örtliche Versammlung. Eines der Kennzeichen einer örtlichen Versammlung ist eben dies, dass dort – wenn erforderlich – Zucht ausgeübt wird.

Wir erinnern uns noch einmal daran, dass der Ausschluss das äußerste Mittel der Zucht ist, bzw. das Eingeständnis, dass alle anderen Maßnahmen ihr Ziel nicht erreicht haben. Nun gibt es ohne Zweifel Fälle, in denen unmittelbar zu diesem letzten Mittel der Zucht gegriffen werden muss, weil die Heiligkeit des Herrn eine solche Handlung erfordert. In manchen Fällen müssen wir jedoch eingestehen, dass nur deshalb ein Ausschluss vollzogen wurde, weil wir die „milderen“ Formen der Zucht entweder gar nicht oder nicht richtig angewandt haben. Auf diesem Gebiet hat es leider Fehlverhalten gegeben.

Es ist gut, wenn wir uns bewusst sind, dass es zwei Gefahren gibt: Erstens kann es eine Tendenz geben, dass wir zum Zuchtmittel des Ausschlusses greifen, obwohl „mildere“ Formen der Zucht angebracht gewesen wären. Zweitens kann es aber umgekehrt sein, dass wir eine „milde“ Form der Zucht anwenden, weil z.B. die Kraft oder die Einmütigkeit zu einem notwendigen Ausschluss in der Versammlung fehlt. Vor beiden Gefahren sollten wir auf der Hut sein und uns vom Herrn bewahren lassen.

Bevor wir im zweiten Teil ausführlich auf 1. Korinther 5 eingehen, hier nun einige einleitende Bemerkungen in Verbindung mit Matthäus 18. In diesem Kapitel spricht der Herr Jesus selbst über das Handeln der Versammlung. Er erwähnt das „Binden“ und das „Lösen“. Wir werden noch genauer sehen, dass damit der Ausschluss bzw. die spätere Wiederzulassung gemeint ist. Im Augenblick möchte ich mich auf den Hinweis beschränken, dass der Herr Jesus in seinen Erklärungen vier verschiedene Schritte vorstellt, die schließlich – wenn keine Einsicht vorhanden ist – zum Ausschluss (Binden) führen.

Ausgangspunkt der Belehrungen des Herrn ist, dass ein Bruder gegen den anderen sündigt. Das kann leider vorkommen. Was ist in einem solchen Fall zu tun? Der Herr erklärt es so:

  • Schritt 1: Es gibt persönliche Bemühungen von Bruder zu Bruder. Der Bruder, gegen den gesündigt worden ist, geht zu dem anderen und bemüht sich um ihn. Das Ziel ist, den Bruder zu gewinnen. Niemand anderes erfährt davon. Das ist persönlicher Hirtendienst. Wenn die Bemühungen erfolgreich sind, ist die Sache unter Brüdern geklärt. Eine Behandlung durch die Versammlung ist nicht erforderlich.
  • Schritt 2: Führt das persönliche Gespräch zwischen Bruder und Bruder nicht zu dem gewünschten Ergebnis, wird der Bruder, gegen den gesündigt wurde, aufgefordert, einen zweiten oder dritten Bruder mitzunehmen. Das Ziel ist immer noch, den Bruder, der gesündigt hat, zu gewinnen. Das ist Hirtendienst zu mehreren. Eine Behandlung durch die Versammlung ist bis zu diesem Zeitpunkt nicht erfolgt.
  • Schritt 3: Wenn das zweite (oder vielleicht dritte) Gespräch unter Zeugen kein Ergebnis zeigt, wird die örtliche Versammlung informiert. Vorher erfährt die Versammlung davon nichts. Aber jetzt kann die Sache nicht mehr im kleinen Kreis behandelt werden. Die Versammlung wird deshalb in Kenntnis gesetzt. Für den Bruder, gegen den gesündigt wurde, ist die Sache insofern persönlich zunächst abgeschlossen. Für ihn ist der Bruder, der gesündigt hat, wie ein Heide und ein Zöllner anzusehen, d.h., er wird keinen Kontakt mehr zu ihm haben.
  • Schritt 4: Die Versammlung hat nun die Verpflichtung, sich der Sache anzunehmen. Kommt sie zu dem Ergebnis, dass es tatsächlich eine Sünde gegen den Bruder war, die der Betreffende nicht bereit ist zu bekennen und zu bereinigen, ist das mit der Heiligkeit des Hauses Gottes nicht vereinbar. Die Versammlung hat dann die Verpflichtung zu „binden“, d.h. den Betreffenden aus der Gemeinschaft am Tisch des Herrn auszuschließen.

Das ist der Zusammenhang, in dem der Herr über unser Thema spricht. Nun ist ganz sicher nicht jede Sünde, die zu einem Ausschluss führt, eine Sünde gegen einen Bruder. Das macht z.B. 1. Korinther 5 deutlich. Sicher werden wir darüber hinaus nicht in jedem Fall alle vier Schritte gehen können. Es gibt Sünde, die so offensichtlich ist, dass ein Handeln der Versammlung unabdingbar ist. Aber es wird doch deutlich, dass wir in jedem Fall vorsichtig und nicht überstürzt handeln sollen. In manchen Fällen ist es möglich, zuerst ein persönliches Gespräch unter vier, dann unter sechs oder acht Augen zu führen, ohne gleich die ganze Versammlung zu informieren. Mancher Ausschluss hätte vielleicht in der Vergangenheit vermieden werden können, wenn es zuerst das liebevolle Bemühen Einzelner gewesen wäre, den Bruder (die Schwester) zu gewinnen. Erst wenn diese Bemühungen erfolglos sind, wird die Versammlung informiert.

Fußnoten

  • 1 Den Ausdruck „aus Versehen“ finden wir zwar nicht im Neuen Testament, er wird aber im Alten Testament an vielen Stellen gebraucht.
  • 2 Wir werden sehen, dass es bei einem Ausschluss primär um die Reinigung der Versammlung geht, während bei einer Bezeichnung die Wiederherstellung des Bezeichneten im Vordergrund steht.
  • 3 Vergleiche dazu ausführlicher einen sachlichen und informativen Artikel von A. Remmers in der Zeitschrift „Ermunterung und Ermahnung“ 1994, Seite 183 (bzw. www.bibelkommentare.de unter „Fragen und Antworten / Versammlung“).
  • 4 A. Remmers geht in seiner Auslegung zum 2. Timotheusbrief (Du aber - Eine Betrachtung über die beiden Briefe an Timotheus, CSV Hückeswagen) bei der Behandlung dieses Verses den gestellten Fragen nach und versucht, Antworten zu finden. Der interessierte Leser sei auf diese Auslegung verwiesen.
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