Betrachtung über den Propheten Hosea

Kapitel 11

Gerichte und Hoffnung

Die beiden ersten Abschnitte der Prophezeiung (Kap. 1–3 und Kap. 4–10) unterstrichen den Ungehorsam des Volkes und kündigten das folgende Gericht an. Dennoch werden dem zu Gott umkehrenden Überrest Israels Segen und zukünftige Herrlichkeit versprochen.

Im letzten Abschnitt kommt die ganze Liebe Gottes für sein Volk zum Vorschein. Er erinnert es an seine Zärtlichkeit und seine Fürsorge, um die Hoffnung inmitten der Gerichte hervorstrahlen zu lassen (Kap. 11–13), was die letztendliche Wiederherstellung durch Buße anklingen lässt (Kap. 14).

Barmherzigkeit nach den Gerichten

Bande der Liebe

„Als Israel jung war, da liebte ich es, und aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen. Sooft sie sie riefen, gingen sie von ihrem Angesicht weg: Sie opferten den Baalim und räucherten den geschnitzten Bildern. Und ich gängelte Ephraim – er nahm sie auf seine Arme –, aber sie erkannten nicht, dass ich sie heilte. Mit Menschenbanden zog ich sie, mit Seilen der Liebe; und ich wurde ihnen wie solche, die das Joch auf ihren Kinnbacken emporheben, und sanft gegen sie, gab ich ihnen Nahrung. Es wird nicht ins Land Ägypten zurückkehren; sondern der Assyrer, der wird sein König sein, weil sie sich geweigert haben umzukehren. Und das Schwert wird in seinen Städten kreisen und seine Riegel vernichten und wird fressen um ihrer Ratschläge willen; denn mein Volk hängt am Abfall von mir, und ruft man es nach oben, keiner von ihnen erhebt sich“ (11,1-7).

Gott hatte sein irdisches Volk von Beginn seiner Geschichte an geliebt. Er hatte es aus Ägypten herausgerufen wie seinen eigenen Sohn, seinen Erstgeborenen (2. Mo 4,22.23). Auch wenn Hosea in diesem Abschnitt das Volk Israel im Blick hat, so zeigt die Anführung von V.1 im Evangelium nach Matthäus (Mt 2,15), dass diese Prophetie ihre völlige Erfüllung in dem Sohn Gottes fand, der als kleines Kind dem Einzugsbereich des mörderischen Wahns des Königs Herodes nach Ägypten entfloh. Christus identifizierte sich auf diese wunderbare Weise mit seinem Volk. Er setzte der Geschichte Israels zur Verherrlichung Gottes und zur Erfüllung seiner Beschlüsse einen Neubeginn.

Die Zärtlichkeit Gottes gegenüber Ephraim ist von großer Schönheit; sie entspricht der ganzen mütterlichen und väterlichen Zuneigung für ihr geliebtes Kind (5. Mo 1,31; Apg 13,18): Ihm das Laufen beizubringen, es bei Müdigkeit in die Arme zu nehmen, es mit Seilen der Liebe bei sich zu behalten und es sanft mit Nahrung zu versorgen.

Dennoch sagt Gott über es: „Aber sie erkannten nicht, dass ich sie heilte.“ Was für eine tragische Unkenntnis! Israel hatte auf Gottes Fürsorge geantwortet, indem es sich bereits während der Wüstenwanderung (Amos 5,25-27; Apg 7,42.43) vom Höchsten abwandte, um den Götzen zu dienen (Kap. 11,2). Immer wieder sehnte sich das Herz des Volkes nach Ägypten zurück, vergaß dabei jedoch seine Sklaverei (4. Mo 14,4). Gott würde es jedoch nach Assyrien verschleppen, damit es eine andere Form der Sklaverei kennen lernte. Israel war kalt gegenüber der göttlichen Liebe und hart im Ablehnen Gottes. Die unumgängliche Konsequenz ist Gericht und Zerstörung. Wie nützlich ist das Beispiel Israels doch für uns! Sind wir uns der Fürsorge Gottes für uns zutiefst bewusst? Er hat uns aus einer viel grausameren Sklaverei befreit als aus der des Pharao. Was ist unsere Antwort auf die ganze Liebe Gottes? Lasst uns immer auf unsere Zuneigungen für Christus achten, damit wir nicht zuletzt wie Israel eingestehen müssen: „HERR, unser Gott, über uns haben Herren geherrscht außer dir“ (Jes 26,13).

Die Erbarmungen Gottes

„Wie sollte ich dich hingeben, Ephraim, dich überliefern, Israel? Wie sollte ich dich wie Adama hingeben, wie Zeboim dich machen? Mein Herz hat sich in mir umgewendet, erregt sind alle meine Erbarmungen. Weder will ich die Glut meines Zorns ausführen noch Ephraim wieder verderben; denn ich bin Gott und nicht ein Mensch, der Heilige in deiner Mitte, und ich will nicht in Zornglut kommen.

Sie werden dem HERRN nachwandeln. Wie ein Löwe wird er brüllen; denn er wird brüllen, und zitternd werden die Kinder herbeieilen vom Meer. Wie Vögel werden sie zitternd herbeieilen aus Ägypten und wie Tauben aus dem Land Assyrien; und ich werde sie in ihren Häusern wohnen lassen, spricht der HERR“ (11,8-11).

Gott hatte bereits gefragt: „Was soll ich dir tun, Ephraim?“ (Kap. 6,4). Nun lautet die Frage: „Wie sollte ich dich hingeben, Ephraim?“ (Kap. 11,8).

Gott hatte sich schon immer einen Überrest aufbewahrt (Röm 11,4.5) – wie groß die Sünde Israels auch sein würde. Er hat sein Volk nicht verlassen und es nicht wie die Königreiche von Adama und Zeboim bei der Umkehrung von Sodom und Gomorra (1. Mo 14,2.8; 5. Mo 29,22) dem Gericht übergeben. Nein, Gott ist Gott und kein Mensch, und seine Erbarmungen 1 sind erregt. Seine Liebesabsicht bestand nicht darin, sein Volk zu zerstören, sondern ihm Gnade zu erweisen und es zu segnen. Er musste es wegen seines Fehlverhaltens züchtigen, aber es würde ein Tag kommen, an dem er seine Erbarmungen frei wirken lassen würde. Er hat es in Christus getan, seinem eingeborenen, aus Ägypten gerufenen Sohn. In Jesus hat Gott seine Gnade nicht nur gegenüber Israel, sondern gegenüber der ganzen Menschheit geoffenbart (Joh 3,17).

Beim Brüllen des Löwen (Christus selbst) wird das Volk einmal wie Vögel, die man aus ihrem Käfig entlässt, aus den Ländern seiner Gefangenschaft (Jes 11,11) hervorkommen. Dann wird Israel in Eile, aber auch mit Furcht von Gott in seinen Wohnungen versammelt werden.

Fußnoten

  • 1 Die Erbarmungen Gottes sind: – groß (2. Sam 24,14; Ps 51,3; 69,17; Jes 54,7) – zahlreich (Ps 119,156) – nicht zu Ende und alle Morgen neu (Klgl 3,22) – erregt (Hos 11,8) – väterlich (Ps 103,13)
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