Der Abgesonderte unter seinen Brüdern

Ein neuer Dienst

Der Abgesonderte unter seinen Brüdern

1. Mose 40,9-23

„Da erzählte der Oberste der Mundschenken Joseph seinen Traum und sprach zu ihm: In meinem Traum, siehe, da war ein Weinstock vor mir, und an dem Weinstock drei Reben ...“ (Vers 9.10). So beginnt der eine der beiden „Gefangenen des Königs“ auf die freundliche Aufforderung Josephs: „Erzählt mir doch!“ zu berichten. Und wirklich, wir verstehen, dass dieser Traum, diese göttliche Offenbarung, geeignet war, das höchste Interesse des aus seinem Amt gestürzten, nun schon geraume Zeit im Kerker schmachtenden Mannes zu finden. Denn das Gesicht betraf offenbar ihn selbst; der Weinstock, den er gesehen hatte, stand ja mit den glücklichen vergangenen Zeiten in Verbindung! Dann eine geheimnisvolle Zahl, ein übernatürlich schnelles Wachstum - und, alles krönend, schließlich ein überraschender, glückverheißender Ausklang! „Und der Becher des Pharao war in meiner Hand, und ich nahm die Trauben und presste sie aus in den Becher des Pharao und gab den Becher in die Hand des Pharao“ (Vers 11). Das war nichts anderes als die Wiederausübung seines früheren Amts; durfte er, der als ein dem Tod Geweihter im Gefängnis saß, durfte er wirklich noch einmal hoffen? Wir verstehen, dass es ihn nach Gewissheit, nach einer Deutung des Traumes verlangte.

Wie gut, dass es für ihn „einen Gesandten“ gab, „einen Ausleger aus tausend“ (Hi 33,23); denn Gott hatte ihm nicht nur den Traum, sondern auch Joseph gesandt, den einzigen unter all den Traumdeutern in ganz Ägyptenland, der fähig war, ihm diese göttliche Offenbarung zu deuten. Und so sehen wir Joseph hier in einem neuen, höheren Dienst, von dem wir bisher nicht lasen, dass er ihn ausgeübt hätte. Er war treu gewesen, „im Geringsten treu“, nun konnte Gott weitergehen mit ihm und ihm mehr anvertrauen. Der göttlichen Lauterkeit in ihm wurde göttliche Einsicht hinzugefügt; denn Gott gibt „dem, der da hat“, und misst mit dem Maß, mit welchem wir messen (vergl. Mk 4,24.25). So sehen wir es auch bei Josua und bei Samuel; und wir sehen es auch bei Daniel und seinen drei Freunden. Nicht nur zeigte sich, nach Abschluss ihrer Probezeit, „ihr Aussehen besser und völliger an Fleisch“, sondern sie wurden auch „zehnmal allen Schriftgelehrten und Beschwörern überlegen“ gefunden, die in dem ganzen babylonischen Reich waren (lies 5. Mo 34,9; 1. Sam 3,19-21; Dan 1,15.17-20).

So tritt Joseph denn mit der ihm verliehenen Gabe hervor und verkündet dem Mundschenken die Deutung seines Traumes. „Die drei Reben sind drei Tage. In noch drei Tagen wird der Pharao dein Haupt erheben und dich wieder in deine Stelle einsetzen, und du wirst den Becher des Pharao in seine Hand geben, nach der früheren Weise, als du sein Mundschenk warst“ (Vers 12.13; vergl. 41,12). So war es also Wahrheit: dieser geheimnisvolle Traum, diese göttliche Offenbarung, redete zu dem Obersten der Mundschenken von Gnade! Konnte es eine beglückendere Kunde geben für ihn, der als Übeltäter gefangen lag, mit dem Tod vor Augen? „In noch drei Tagen wird der Pharao dein Haupt erheben.“ - „In noch drei Tagen“, so verkündigte auch Josua, „werdet ihr über diesen Jordan ziehen“, um hinzukommen in das Land, das der HERR ihnen verheißen hatte (Jos 1,11). Glückliche, letzte Wartezeit, köstliche Botschaft für das müde Volk! Wurde, nach langer Wüstenreise, je ein tröstlicherer Klang gehört? Ja, „wie lieblich sind auf den Bergen die Füße dessen, der frohe Botschaft bringt, der Frieden verkündigt, der Botschaft des Guten bringt, der Rettung verkündigt!“ (Jes 52,7). Es gibt keinen schöneren Dienst für uns, als den, die Gnade verkündigen zu dürfen, die Gott verheißt. - Doch wem Gott Einsicht schenkt, der weiß, dass Gott nicht nur Gnade verheißt, sondern auch das Böse richtet.

Der andere Gefangene versteht dies nicht und meint - wie Agag vor Samuel - als er sieht, dass Joseph „gut gedeutet“ hatte, „die Bitterkeit des Todes sei von ihm gewichen“ (Vers 10; vergl. 1. Sam 15,32). Auch sein Traum, den er nun erzählt, erinnert an sein früheres Amt und enthält jene bedeutsame Zahl; aber ein Wachstum, eine Entwicklung finden wir hier nicht, vielmehr einen überaus bedenklichen, jähen Abschluss. Wohl trägt er, „im obersten Korb allerlei Esswaren des Pharao“, aber sie kommen nicht in dessen Hand, sondern „die Vögel fraßen sie aus dem Korbe auf seinem Kopf weg“ (Vers 17). Das war nicht Gnade, das war Gericht, und Joseph hält nicht damit zurück, dem armen Todgeweihten die Gedanken Gottes in ihrem vollen Ernst zu verkünden (vergl. Apg 20,20.26.27).

„Die drei Körbe sind drei Tage. In noch drei Tagen wird der Pharao dein Haupt erheben und dich an ein Holz hängen, und die Vögel werden dein Fleisch von dir wegfressen“ (Vers 19). Welch ein schrecklicher, ernster Traum! Ja, er verkündet Gericht; kein Schimmer von Gnade leuchtet hindurch, und die gesteckte Frist ist kurz; wie furchtbar, wie unentrinnbar! „In noch drei Tagen...“, so hieß es auch hier; die gleichen drei Tage, die der Mundschenk in froher Erwartung verbringt, vergehen für ihn, den Bäcker, in einem „furchtvollen Erwarten des Gerichts“ (vergl. Heb 10,27), dessen Nahen ihm kein Geringerer als Gott, der nicht lügt, offenbarte.

Wie ist es aber, mein Leser, wenn es sich nicht, wie hier, um ein zeitliches Gericht, sondern um ein ewiges handelt? nicht um den Zorn eines Pharao, sondern um den Zorn des lebendigen Gottes? Wir haben davon in der Schrift ein dir wohlbekanntes Bild; auch da ließ Gott kurz zuvor einmal Seine mahnende Stimme ertönen: „In noch sieben Tagen, so lasse ich auf die Erde regnen vierzig Tage und vierzig Nächte und werde vertilgen von der Fläche des Erdbodens alles Bestehende, das ich gemacht habe“ (1. Mo 7,4). Das war eine letzte, kurze Frist, und wohl denen, die dann in der Arche geborgen waren. Wie viel Tage aber noch bis zum Abschluss der heute währenden Gnadenzeit sind - ob sieben, ob drei oder gar noch weniger -, das hat uns Gott nicht gesagt. Darum eile und berge dich, wenn du noch nicht geborgen bist, in dem Ebenbild dieser Arche, in Christus. Denn was Gott sagt, das trifft ein; und wehe denen, die es wagen, Ihn zum Lügner zu machen! (1. Joh 5,10).

„Und es geschah am dritten Tag, dem Geburtstag des Pharao, da machte er allen seinen Knechten ein Festmahl; und er erhob das Haupt des Obersten der Mundschenken und das Haupt des Obersten der Bäcker unter seinen Knechten“ (Vers 20). Das Wortspiel, das der Geist Gottes hier wie vorher gebraucht, ist geeignet, uns den ganzen Ernst dieses doppelten Geschehens deutlich zu machen. Der eine zu seiner früheren Würde erhöht, der andere an das Fluchholz; den Galgen! Der eine der Übeltäter begnadigt, der andere hingerichtet - wie bei den zweien, die dort mit dem wahren Joseph am Kreuze hingen! Die göttliche Ankündigung erfüllte sich, es traf alles so ein, „wie Joseph ihnen gedeutet hatte“ (Vers 21. 22). Ein königliches Festmahl fand statt, und der eine der Gefangenen waltet wieder seines ehrenvolles Amts, während der andere, davon ausgeschlossen, draußen auf dem Richtplatz den Vögeln des Himmels selbst zum grausigen Mahl wird. Lieber Leser, einst werden „ viele von Osten und Westen kommen und mit Abraham und Isaak und Jakob zu Tische liegen in dem Reich der Himmel, aber die Söhne des Reiches werden hinausgeworfen werden in die äußerste Finsternis: Dort wird das Weinen und das Zähneknirschen sein.“ (Mt 8,11.12). Und es gibt noch ein anderes Mahl - eins der vielen Bilder von den mancherlei Gerichten Gottes - ein Mahl, zu dem die Vögel des Himmels geladen werden, das „große Mahl Gottes“ (Off 19,17.18).

Wohl denen, die aus dem Munde des wahren Josephs nicht Gericht, sondern Gnade vernehmen!

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