Der Abgesonderte unter seinen Brüdern

Neue Werkzeuge Gottes

Der Abgesonderte unter seinen Brüdern

1. Mose 40,1-8

„Und es geschah nach diesen Dingen, da versündigten sich der Mundschenk des Königs von Ägypten und der Bäcker gegen ihren Herrn, den König von Ägypten“ (Vers 1). Wieder sind wir an einen Abschnitt in Josephs Leben gelangt; denn das Ereignis, von dem wir hören, sollte nach Gottes Gedanken für ihn von weittragender Bedeutung werden. Nicht, als hätte Joseph dies jetzt schon erkannt; er mag in den Monaten oder Jahren seines Verborgenseins hinter Kerkermauern manch einem „Gefangenen des Königs“ aufgeschlossen und wieder hinter ihm zugeschlossen haben. Höchstens, dass es nach außen hin ein immerhin nicht alltägliches Ereignis war; denn die beiden Hofbeamten, die sich „gegen ihren Herrn versündigt“ hatten, gehörten zu den höchsten und erwähltesten Beamten des Hofs (Die Herrscher des Altertums lebten in beständiger Furcht vor Mordanschlägen und Gift; deshalb gehörten die, die dem König Brot und Wein reichten, zu dessen vertrautesten Dienern.), und nach Jahren war noch von „ihrer Sünde“ die Rede (Kap. 41,9). Das aber konnte Joseph jetzt noch nicht sehen, wie Gott dieses Ereignis und diese Männer für Seine Zwecke zu benutzen gedachte.

„Und der Pharao wurde sehr zornig über seine beiden Hofbeamten ...; und er setzte sie in Gewahrsam in das Haus des Obersten der Leibwache, ins Gefängnis, an den Ort, wo Joseph gefangen lag“ (Vers 2.3; vergl. 41,10). Wunderbar! Man bringt die Gefangenen erst in das gleiche Haus, dann in das gleiche Gefängnis, und schließlich in den gleichen Raum, wo Joseph war; denn diese Männer sollten nichts anderes als neue Werkzeuge Gottes sein - neue Figuren auf dem Brett, auf welchem der göttliche Spieler das Spiel unfehlbar zu einem glücklichen Ende führte. Wie Er vordem die Ismaeliter und Potiphar benutzt, so benutzte er jetzt diese beiden Missetäter, und selbst ihre Missetat, die den Zorn des Königs - der „wie das Knurren eines jungen Löwen ist“, der „Todesboten gleicht“ - hervorgerufen hatte (Spr 16,14; 19,12).

Zugleich aber hatte Gott, der nicht nur die Umstände, sondern auch die Herzen lenkt, auch in dem Herzen Potiphars gewirkt; denn er ist ja der „Oberste der Leibwache“, von dem wir jetzt hören (Vergl. Kap. 39, 1; nicht zu verwechseln mit dem in Kap. 39, 21 ff. erwähnten „Obersten de Gefängnisses“.). Er, der vielleicht nie wirklich an Josephs Schuld geglaubt, wandte ihm jetzt wieder sein Vertrauen zu; Joseph wurde durch ihn zu den beiden vornehmen Gefangenen, die seinesgleichen bei Hofe gewesen waren, bestellt, „und er diente ihnen; und sie waren eine Zeitlang in Gewahrsam“ (Vers 4). Hier halten wir unwillkürlich ein: Joseph, der Unschuldige, in Gewahrsam zwischen zwei Übeltätern! Ein Bild steigt vor uns auf, das den wahren Joseph betrifft und von dem wir gewohnt sind, dass es uns stets tief bewegt: Christus, der Gerechte und Heilige, am Kreuz hängend zwischen zwei Räubern! „Und die Schrift wurde erfüllt, die sagt: Und er ist unter die Gesetzlosen gerechnet worden“ (Mk 15,27.28). -

„Und sie hatten beide einen Traum, ein jeder seinen Traum in einer Nacht, jeder nach der Deutung seines Traumes, der Mundschenk und der Bäcker des Königs von Ägypten, die im Gefängnis gefangen lagen“ (Vers 5; vergl. 41,11). Ein neues bedeutsames Ereignis tritt ein: zwei Träume, eine unmittelbare göttliche Offenbarung. Sie wird zwei heidnischen Männern zuteil, die als Übeltäter im Gefängnis lagen - beiden in einer Nacht, beiden „nach der Deutung ihres Traumes“, das will sagen (was keineswegs immer der Fall ist), mit besonderer, weittragender Bedeutung für jeden! Und beide blieben dieser göttlichen Offenbarung gegenüber nicht taub, wie wir es selbst von uns, den Gläubigen, so manches Mal mit Beschämung sagen müssen, - von uns, die wir eine höhere und deutlichere Offenbarung Gottes, Sein geschriebenes Wort, in Händen halten. Auch von dem Pharao lesen wir, dass nach seinen Träumen „sein Geist voll Unruhe“ (Kap. 41,8), und als Nebukadnezar solche Offenbarungen empfing, „war sein Schlaf für ihn dahin.“ Ja, als Belsazar die geheimnisvolle Schrift „auf dem Kalk der Wand des königlichen Palastes“ sah, „da veränderte sich die Gesichtsfarbe des Königs, und seine Gedanken ängstigten ihn; und die Bänder seiner Hüften lösten sich, und seine Knie schlugen aneinander“ (Dan 2,1; 4,5; 5,6). Auch Daniel selbst ist zu wiederholten Malen ein Beispiel dafür, welch tiefen Eindruck göttliche Offenbarungen auf einen Menschen zu machen vermögen, in dem Gottesfurcht wohnt, obwohl diese Offenbarungen nicht ihn persönlich betrafen.

Hier indes, bei diesen beiden Hofbeamten, war dies so; und offenbar fühlten sie dies in einem Maß, dass es nicht verborgen bleiben konnte. „Und Joseph kam am Morgen zu ihnen und sah sie, und siehe, sie waren missmutig. Und er fragte die Hofbeamten des Pharao ... und sprach: Warum sind eure Angesichter heute so trübe?“ (Vers 6.7). Joseph sah, erkannte und fragte! Welch ein schönes Zeugnis wiederum für seine Sorgfalt in dem ihm übertragenen Dienst; ihn leiteten gottgemäße Gefühle der Fürsorge und Liebe. Finden sie sich auch bei uns? Haben auch wir ein aufmerksames Auge für das Wohlergehen unseres Nächsten? - Bei Boas sehen wir es Ruth, der Magd, gegenüber (Ruth 2,5 ff.). Auch von Elkana, dem Vater Samuels, lesen wir, wie ihm das „bittere Gemüt“ seiner Frau nicht entging; während die schwachen Augen Elis sie für eine Trunkene hielten, sprach er zu ihr: „Hanna, warum weinst du? und warum isst du nicht? und warum ist dein Herz betrübt?“ (1. Sam 1,8). Ähnlich fragte der König Artasasta seinen Mundschenk Nehemia: „Warum ist dein Angesicht traurig? und doch bist du nicht krank; es ist nichts anderes als Traurigkeit des Herzens“ (Neh 2,2). Der Herr aber, der Herzenskündiger, wusste in besonderer Weise „den Müden durch ein Wort aufzurichten“ -: Mit einer freundlichen Frage nach dem Grund ihrer Niedergeschlagenheit öffnet Er den Emmausjüngern Herz, Mund und Ohren (Jes 50,4; Lk 24,17 ff.). Möchten wir von Ihm, wie schon von Seinem Vorbild Joseph, auch in dieser Beziehung lernen!

„Und sie sprachen zu ihm: Wir haben einen Traum gehabt, und da ist niemand, der ihn deutet. Und Joseph sprach zu ihnen: Sind die Deutungen nicht Gottes? Erzählt mir doch“ (Vers 8). Auch Pharao musste später bekennen: „Ich habe einen Traum gehabt, und da ist keiner, der ihn deutet“, obwohl er „alle Wahrsagepriester Ägyptens und alle seine Weisen“ vor sich versammelt hatte (Kap. 41,8.15). Den armen Gefangenen aber war der Weg zu diesen Traumdeutern versperrt, und darum ihr verzweifelter Ausruf. Doch wir wissen, dass es so war, wie Daniel später zu Nebukadnezar sagte: „Das Geheimnis, das der König verlangt, können Weise, Beschwörer, Wahrsagepriester und Sterndeuter dem König nicht anzeigen. Aber es ist ein Gott im Himmel, der Geheimnisse offenbart“ (Dan 2,27.28) - wie auch Joseph hier sagt: „Sind die Deutungen nicht Gottes?“ Was hätten diesen Gefangenen alle Weisen Ägyptens genützt? Aber, wie groß auch der Kummer und die Bestürzung der beiden Männer war, wie trostlos ihre Lage schien - Joseph war da, der Treue, Gottesfürchtige, der Mann Gottes. Wie Potiphar, wie später der Pharao und die ganze Welt, ja, selbst die feindlichen Brüder, so sollten nun auch diese „Gefangenen des Königs“ erkennen, wer Joseph war; und sie selbst und ihre Träume sollten das Mittel sein, um die Gedanken Gottes über diesen Joseph zur Ausführung und vollen Entwicklung zubringen.

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