Das Evangelium nach Lukas

Kapitel 4

Das Evangelium nach Lukas

Zu Beginn dieses Kapitels kehrte der Herr, voll Heiligen Geistes, von Seiner Taufe am Jordan zurück. Doch bevor Er Seinen Dienst aufnahm, mußte Er während vierzig Tagen vom Teufel versucht werden. Der Geist führte Ihn in diese Erprobung, und hier sehen wir den wunderbaren Unterschied zwischen dem zweiten Menschen und dem ersten.

Als der erste Mensch erschaffen wurde, erklärte Gott, daß alles sehr gut war, aber bald trat Satan auf, versuchte den Menschen und stürzte ihn in den Ruin. Der zweite Mensch war erschienen, die Stimme des Vaters hatte Seine Vortrefflichkeit ausgesprochen, und wiederum naht Satan unverzüglich, aber diesmal begegnet er einem Menschen, der, voll Heiligen Geistes, gegenüber seinen Listen unzugänglich ist. Als der erste Mensch fiel, kannte er keine Hungerqualen, denn er wohnte in dem fruchtbaren Garten, den die Hand seines Schöpfers ihm gepflanzt hatte. Der zweite Mensch stand siegreich da, obwohl der Garten sich in eine Wüste verwandelt hatte und Er Hunger litt.

Lukas gibt uns die Versuchungen offensichtlich in moralischer, nicht in historischer Reihenfolge. Matthäus folgt dem historischen Ablauf und zeigt uns das Ende der Versuchungen, als der Herr dem Satan befahl wegzugehen, was dem 8. Vers dieses Kapitels entspricht. Die Anordnung hier stimmt mit den Elementen der Welt überein, wie sie Johannes im zweiten Kapitel seines ersten Briefes darlegt. Die erste Versuchung zielte offensichtlich darauf hin, die Lust des Fleisches anzusprechen, die zweite die Lust der Augen, und die dritte den Hochmut des Lebens. Doch Lust und Hochmut dieser Art fand sich nicht in unserem Herrn, und diese drei Erprobungen dienten nur dazu, Seine Vollkommenheit im einzelnen zu offenbaren.

Der Herr Jesus war wirklich ein Mensch geworden, und als Antwort auf die erste Versuchung nimmt Er den dem Menschen angemessenen Platz völliger Abhängigkeit von Gott ein. Genau so wie das natürliche Leben des Menschen daran hängt, daß er Brot ißt und verdaut, so hängt sein geistliches Leben von der Annahme und dem Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes ab. Als Antwort auf die zweite Versuchung sehen wir Seine rückhaltlose Hingebung an Gott. Macht und Herrlichkeit und Herrschaft an sich bedeuteten Ihm nichts. Umgekehrt bedeuteten Ihm die Anbetung und der Dienst Gottes alles. In der dritten Versuchung wurde Er gedrängt, Gottes Treue auf die Probe zu stellen. Er begegnete ihr durch Sein unerschütterliches Vertrauen auf Gott. Der große Widersacher fand in Ihm keinen Angriffspunkt. Er vertraute Gott, ohne Ihn zu versuchen.

Diese drei Charakterzüge, die hier in solch hellem Licht zu Tage treten – Abhängigkeit, Hingebung, Vertrauen –, sind solche, die den vollkommenen Menschen auszeichnen. Sie werden sehr klar in Psalm 16 beschrieben, einem Psalm, der uns durch den Geist der Weissagung Christus in Seinen Vollkommenheiten als Mensch vorstellt.

Nachdem Er vom Satan erprobt worden war und über ihn in der Kraft des Heiligen Geistes triumphiert hatte, kehrte der Herr nach Galiläa zurück, um Seinen öffentlichen Dienst in der Kraft desselben Geistes zu beginnen. Seine ersten aufgezeichneten Worte hat Er in der Synagoge zu Nazareth gesprochen, wo Er erzogen war. Er las die Eingangsworte von Jesaja 61 und machte an der Stelle halt, wo die Weissagung vom ersten zum zweiten Kommen übergeht. „Der Tag der Rache unseres Gottes“ ist noch nicht gekommen. Doch weil Er an dieser Stelle anhielt, konnte Er Seine Rede mit den Worten beginnen: „Heute ist diese Schrift vor euren Ohren erfüllt.“ Die verlesene Stelle stellte Ihn als den vor, der mit dem Heiligen Geist gesalbt war und in dem die Fülle der Gnade Gottes den Menschen kundgetan werden sollte.

Diese Darstellung Seiner selbst scheint für das Lukasevangelium charakteristisch zu sein. Obwohl Er Gott war in der Fülle Seiner Person, tritt Er doch vor uns als der abhängige Mensch, voll Heiligen Geistes, der in der Kraft dieses Geistes redet und handelt, überströmend von Gnade für die Menschen. Was Seine Zuhörer in Nazareth so überraschte, waren „die Worte der Gnade, die aus seinem Munde hervorgingen“. Das Gesetz Moses war in den Mauern der Synagoge oft wiederholt worden, doch niemals zuvor war Gnade in dieser Weise verkündet worden. Und Ihm genügte es nicht, die Gnade nur abstrakt zu beschreiben. Er fuhr fort, sie zu illustrieren, damit den Leuten aufging, was sie beinhaltete. Er führte aus ihren eigenen Schriften zwei Beispiele an, wo die Güte Gottes sich gezeigt hatte, und in beiden Fällen waren die Empfänger der Gnade Sünder aus heidnischen Völkern. Die sidonische Witwe befand sich in einer hoffnungslosen Notlage, da ihre letzten Hilfsquellen versiegten. Der syrische Feldherr war von den „Feinden“ Gottes und Seines Volkes. Deshalb veranschaulichten beide Fälle sehr treffend Römer 5,6–10, denn die Frau wurde gerettet und versorgt, und der Mann wurde gereinigt und mit Gott versöhnt.

Diese liebliche Darstellung der Gnade in ihrer praktischen Auswirkung sagte den Leuten in Nazareth nicht zu. Erklärende Worte zur Gnade waren zwar schön und gut, aber in dem Augenblick, wo sie merkten, daß die Gnade nichts als Unwürdigkeit in ihren Empfängern voraussetzt, erhoben sie sich zu stolzer Empörung und furchtbarer Wut. Sie wollten Jesus töten, Er aber ging aus ihrer Mitte hinweg. Die guten Dinge, die die Gnade brachte, waren durchaus annehmenswert, aber auf dem Boden der Gnade wollten sie sie nicht haben, wenn die Gnade voraussetzte, daß sie nicht besser wären als heidnische Sünder. Nach moderner Meinung würde Gnade wahrscheinlich gutgeheißen, wo sie in Elendsvierteln angeboten, aber als Beleidigung angesehen, wenn sie in Kirchen gepredigt wird. Jüdisches Denken wollte nicht einmal davon hören, daß sie in Elendsvierteln geübt wird.

Damit wurde die Gnade bei der ersten Gelegenheit, wo sie verkündet wurde, in entschiedener Weise zurückgewiesen, und das nicht in Jerusalem unter Schriftgelehrten und Pharisäern, sondern in den geringeren Gegenden Galiläas an dem Ort, wo Er erzogen war. Daß sie Ihn kannten, wirkte wie ein Schleier, der auf ihren Herzen lag.

Im Licht dieses Geschehens ist der letzte Abschnitt des Kapitels sehr schön. Wenn Menschen im Geist der Gnade Güte erweisen, die mit heftiger Beschimpfung abgewiesen wird, dann sind sie zumeist beleidigt und wenden sich empört ab. So war es nicht bei dem Herrn Jesus. Wenn Er sich ebenso verhalten hätte, wo wären wir dann geblieben? Er verließ Nazareth, kam aber nach Kapernaum und predigte dort. Sie erstaunten über Seine Lehre, zweifellos weil aus ihr ein neuer Ton der Gnade zu hören und sie mit göttlicher Autorität bekleidet war.

In der Synagoge geriet Er in Gegensatz zu den Mächten der Finsternis. Sie war ein toter Bereich, deshalb konnten dort Menschen, die von Dämonen besessen waren, unentdeckt anwesend sein. Aber als der Herr erschien, offenbarte sich der Dämon sogleich und zeigte an, daß er wußte, wer Er war, auch wenn das Volk es nicht wußte. Jesus war tatsächlich der Heilige Gottes, aber Er ließ das Zeugnis des Dämons nicht gelten, sondern bedrohte ihn und trieb ihn aus seinem Opfer aus. So bewies Er die Macht Seines Wortes.

In Vers 36 begegnen uns Autorität und Kraft (griechisch = dynamis; d.h. Vermögen, Macht, Gewalt). In Vers 32 hat das Wort den eigentlichen Sinn von Autorität. So haben wir in Vers 22 die Gnade, ihr folgt die Autorität Seines Wortes, und dann die Kraft Seines Wortes. Kein Wunder, wenn die Leute sagten: „Was ist dies für ein Wort?“ Und wir, die wir heute das Evangelium der Gnade empfangen haben, auch wir hätten Anlaß genug zu einem solchen Ausruf. Welche Wunder geistlicher Wiedergeburt werden auch heute noch durch das Evangelium bewirkt!

Von der Synagoge aus ging Er in das Haus des Simon, wo Krankheit eingezogen war. Sie schwand auf Sein Wort hin. Und dann geschah zur Abendzeit diese wunderbare Entfaltung der Macht Gottes in der Fülle der Gnade. Alle Arten von Krankheiten und Elend wurden in Seine Gegenwart gebracht, und alle Leidenden fanden Befreiung. „Er legte einem jeden von ihnen die Hände auf und heilte sie.“ So ließ Er die Gnade an zahllosen Beispielen sichtbar werden, denn das ist ihr Wesen, daß sie ausströmt, ob verdient oder unverdient. Gott bietet sie allen und unentgeltlich an. In vielen Liedern ist ihre Herrlichkeit besungen worden, doch ihre Wirklichkeit, wie sie Vers 40 beschreibt, erscheint noch lieblicher. Das ist die Gnade unseres Gottes.

Die Gnade, die sich an diesem denkwürdigen Abend entfaltete, erschöpfte sich dabei nicht. Er ging aus zu „den anderen Städten“, um ihnen das Reich Gottes zu predigen – ein Reich, das nicht auf der Grundlage von Gesetzeswerken errichtet werden sollte, sondern auf einem Fundament, das die Gnade als die Frucht Seines eigenen Werkes legen würde.

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