Die Rede und der Märtyrertod des Stephanus
Eine Bibelarbeit zu Apostelgeschichte 7

Teil 3: Mose (Verse 17–43)

Als nächstes spricht Stephanus über Mose. Es ist der dritte und längste Teil seiner Rede. Der Grund, so ausführlich über Mose zu sprechen, liegt darin, dass die Juden zur Zeit des Neuen Testamentes ständig auf Mose verwiesen und ihm – äußerlich – größte Ehre brachten. Wir sehen das deutlich beim Lesen der Evangelien in Diskussionen der Juden mit dem Sohn Gottes. Außerdem hatte man Stephanus ausdrücklich vorgeworfen, gegen Mose und das von ihm gegebene Gesetz gelästert zu haben. Hier macht er anhand der Geschichte deutlich, dass beides durchaus nicht stimmte. Die Juden waren nicht nur stolz auf Abraham, sondern ebenfalls auf Mose, weil er ihre Väter aus Ägypten gerettet und ihnen das Gesetz gegeben hatte. Mose war für sie „der Lehrer“. Doch Stephanus zeigt, dass die Väter ihn gar nicht anerkennen wollten, sondern ihn ablehnten und zwar sowohl als Retter als auch als Führer und Gesetzgeber. Erneut fehlt – wie bei Joseph – der direkte (namentliche) Bezug auf Christus, und doch muss es den Zuhörern klar gewesen sein, was Stephanus mit seinen Worten zu zeigen beabsichtigte. Der Herr Jesus hat sich selbst mit Mose verglichen und gezeigt, dass Er mehr als Mose ist (z. B. Joh 3,14). Die Parallelen und Kontraste sind auffallend. Dazu zählen:

  • Vers 20: Mose war schön für Gott. Christus ist der geliebte Sohn, an dem der Vater Wohlgefallen fand (Mt 3,17)
  • Vers 22: Mose wurde in aller Weisheit der Ägypter unterwiesen. Christus ist die Weisheit in Person. Er musste nicht darin unterwiesen werden.
  • Vers 22: Mose war mächtig in seinen Worten und Werken. Christus lebte, was Er sagte – und zwar vor Gott und dem ganzen Volk (Joh 8,25; Lk 24,19)
  • Vers 23: Mose wollte – ähnlich wie Joseph – nach seinen Brüdern sehen. Christus kam, um sein Volk von ihren Sünden zu erretten.
  • Vers 25: Das Volk verstand Mose nicht. Der Herr Jesus wurde völlig missverstanden.
  • Verse 27 und 35: Mose wurde als Oberster und Richter abgelehnt. Der Regierungsanspruch Christi wurde ebenfalls abgelehnt (Lk 19,14).
  • Vers 36: Mose tat Wunder und Zeichen im Land Ägypten. Christus wurde von Gott bestätigt durch mächtige Taten und Wunder und Zeichen (Apg 2,22).
  • Vers 37: Mose war ein Prophet und weist zugleich auf den einen Propheten – Christus – hin.
  • Vers 38: Mose empfing lebendige Aussprüche, um sie weiterzugeben. Christus ist der Sohn, in dem Gott direkt gesprochen hat (Heb 1,2). Er ist „das Wort“ (Joh 1,1).
  • Vers 39: Mose wurde von den Kindern Israel weggestoßen. Christus wurde von den Juden an ein Kreuz genagelt (Apg 2,23).

Parallel dazu erläutert Stephanus seinen Zuhörern, dass sich in der Geschichte Moses eine neue Veränderung anbahnte. Die desolate Situation des Volkes in Ägypten blieb nicht so, wie sie war. Die Zeit kam, in der Gott seine Zusage erfüllte und es nach Kanaan brachte. Dazu musste Er sein Volk aus Ägypten erlösen und herausführen. Die Umstände, die Er dazu benutzte, waren erneut demütigend für die Juden. Waren die Väter in der Ablehnung Josephs schuldig geworden, so wurden sie es bei Mose wieder. Sie lehnten den Retter ab, den Gott ihnen sandte. Mose ist somit das zweite Beispiel dafür, dass die Väter den ablehnten, der die Zustimmung Gottes besaß. Die Analogie zu dem, was kurze Zeit vorher in Jerusalem mit Jesus Christus passiert war, ist zum Greifen.

Stephanus greift aus dem Leben und Wirken Moses einige Punkte heraus, die zum einen zeigen, wie schuldig die Kinder Israel waren. Zum anderen beschreibt er erneut, wie Gott zugunsten seines Volkes gehandelt hat. Erneut erkennen wir Parallelen zu unserem Herrn und wie Er von seinem Volk abgelehnt wurde. Folgende Struktur ist erkennbar:

  1. seine Geburt in einer sehr schwierigen Zeit, seine Kindheit und seine Ausbildung am Hof des Pharaos (Verse 17–22). So wie Mose schön für Gott war, war unser Herr vollkommen vor seinem Gott.
  2. seine erste Ablehnung durch die Söhne Israels, als er einen von ihnen gegen einen Ägypter verteidigte. (Verse 23–28). Mose dachte, dass sein Volk verstehen würde, dass Gott ihnen Rettung bringen wollte, doch sie verstanden es nicht. Ebenso ist es Christus ergangen. Er sollte sein Volk erretten von ihren Sünden, doch man nahm Ihn nicht an.
  3. sein Aufenthalt von 40 Jahren im Land Midian und die Geburt seiner Söhne (Vers 29). Ähnlich wie bei Joseph sehen wir den Retter im Ausland – von seinen eigenen Brüdern völlig unbeachtet. Wir denken dabei an den Herrn Jesus, so wie Er sich jetzt den Nationen zuwendet.
  4. die Offenbarung Gottes im brennenden Dornbusch in der Wüste, verbunden mit dem Auftrag Gottes, nach Ägypten zu gehen (Verse 30–34). Mose sollte der Retter des Volkes Gottes sein, ebenso wie der Herr Jesus der Retter seines Volkes sein sollte – und einmal sein wird. Er war der wahre „Gesandte“ Gottes, der sein Volk aus der Not „herausreißen“ sollte.
  5. die Ablehnung von Mose als Oberster und Richter, der dann aber doch den Plan Gottes ausführte (Verse 35.36). Christus ist der Oberste und Richter, doch Er wurde ebenso verleugnet wie damals Mose. Gleichwohl ist Er der Retter, der das Volk einmal in den Segen des Reiches bringen wird.
  6. seine Weissagung über den Propheten, den Gott erwecken würde (Vers 37). Es ist unübersehbar, dass Stephanus damit auf den Herrn Jesus hinweist, von dem die Menschen schon vermutet hatten, dass Er „der Prophet“ sei, von dem Mose gesprochen hatte (Joh 6,14; 7,40).
  7. seine Rolle als Geber des Gesetzes Gottes, das die Kinder Israel brachen, bevor sie es in Händen hatten. Auch als Gesetzgeber wird Mose zurückgestoßen, während Aaron ihnen ein goldenes Kalb machen sollte, dem sie huldigen wollten (Verse 38–43). Damit setzt Stephanus einen klaren Schlusspunkt und zeigt die ganze Schuldhaftigkeit der Kinder Israel. Mose wurde abgelehnt, und stattdessen wurde der Götzendienst eingeführt und während der ganzen Wüstenreise praktiziert.

1. Geburt, Kindheit und Ausbildung (Verse 17–22)

Als aber die Zeit der Verheißung näher kam, die Gott dem Abraham zugesagt hatte, wuchs das Volk und mehrte sich in Ägypten, bis ein anderer König über Ägypten aufstand, der Joseph nicht kannte. Dieser handelte mit List gegen unser Geschlecht und behandelte die Väter schlecht, indem er ihre Kinder aussetzen ließ, damit sie nicht am Leben blieben. In dieser Zeit wurde Mose geboren, und er war schön für Gott; und er wurde drei Monate im Haus des Vaters aufgezogen. Als er aber ausgesetzt worden war, nahm ihn die Tochter des Pharaos zu sich und zog ihn auf, sich zum Sohn. Und Mose wurde unterwiesen in aller Weisheit der Ägypter; er war aber mächtig in seinen Worten und Werken.

Die Verheißung Gottes erfüllt sich

Am Anfang sah alles nach Segen und Prosperität für die Nachkommen Jakobs aus. Das Volk wuchs und mehrte sich (Vers 17). Doch dann änderte sich die Situation drastisch. Dennoch spricht Stephanus nicht zuerst von dem Druck, den der König von Ägypten ausübte, sondern von der Zusage Gottes an Abraham. Er nennt die Zeit eine „Zeit der Verheißung“, die näherkam. Gott steht immer zu seinem Wort – egal wie die Umstände sein mögen und wie böse sich die Menschen verhalten mögen. Das ist immer ein großer Trost für sein Volk.

Hier nun steht ein „anderer König“ auf (d. h. ein König einer anderen Dynastie), der Joseph nicht kannte und nur den Vorteil seines eigenen Volkes suchte bzw. die Gefahren für sein Volk durch die Israeliten sah und entsprechend handelte. Die Tatsache, dass er Joseph nicht kannte, bedeutet wohl, dass er dessen Verdienst für Ägypten ignorierte und seine Regierungsgeschäfte nach anderen Maßstäben führte. Vers 19 sagt, dass er mit List handelte, um das Volk auszurotten. Die neugeborenen Kinder (die männlichen) wurden im Nil dem sicheren Tod ausgesetzt. Dieses Handeln gegen das irdische Volk Gottes hat sich oft wiederholt. Antisemitismus ist ein bekanntes Phänomen bis in unsere Zeit. Anders ausgedrückt: der Pharao unternahm den Versuch einer ethnischen Säuberung – ebenfalls ein uns nicht unbekanntes Phänomen. Es war eine überaus schwierige Zeit für das Volk Israel. Doch Gott hatte eine Lösung für das Problem.

Die Geburt Moses

In dieser Zeit wurde Mose geboren (Vers 20). „Diese Zeit“ war nicht nur eine Zeit der Unterdrückung und der äußeren Not, sondern es war zudem eine Zeit, in der die Nachkommen Jakobs dem Götzendienst verfallen waren (vgl. Jos 24,14; Hes 23,19). Die Lastarbeit und der Sklavendienst führten nicht zur inneren Einsicht und zu einem ernsten Rufen nach Gott. Sie schrien wohl, allerdings nicht zu Gott. Sie dachten nicht an seine Zusagen, doch Gott tat es. Das ist Gnade. Es war also in einer doppelten Hinsicht eine traurige Zeit.

Gott hat immer seine Mittel und Wege. Er hat seine Werkzeuge zur richtigen Zeit und am richtigen Ort. Mose wird geboren und er ist derjenige, durch den Gott seine Zusagen an Abraham erfüllen wollte. Als der Herr Jesus kam, begann ebenfalls eine Zeit, in der sich die Zusagen Gott erfüllten. Gott sandte den, den Er versprochen hatte. Gott steht zu seinen Zusagen. Jesus Christus ist gekommen. Er war wie ein Wurzelspross, der aus dürrem Erdreich aufschoss (Jes 53,2) und Frucht für Gott brachte. Der Sohn Gottes wurde als Mensch geboren, und zwar „in der Fülle der Zeit“ und „von einer Frau“ (Gal 4,4). Er war in der Tat der „Sohn des Menschen“. Er wollte seinem Volk Befreiung bringen – zuerst von ihren Sünden und dann von den Römern. Daran erinnert Stephanus hier auf indirekte Weise seine Zuhörer.

Schön für Gott

Mose war schön für Gott. Das ist eine besondere und einzigartige Auszeichnung, die in dem Bericht in 2. Mose fehlt und die wir sonst nirgendwo so finden. Gott hatte etwas Besonderes vor mit Mose. Prophetisch spricht dies von unserem Herrn, denn niemand war „schön für Gott“ wie Er. Wohin das Auge Gottes sah, an Ihm war alles vollkommen und lieblich. Er ist in der Tat „ausgezeichnet vor Zehntausenden“ (Hld 5,10) – einzigartig und unvergleichlich. Von ihm sagen die Söhne Korahs: „Du bist schöner als die Menschensöhne“ (Ps 45,3).

Im Haus des Vaters

Mose wurde im Haus seines Vaters erzogen (Vers 20). Amram hatte verstanden, dass er für die Erziehung seines Sohnes verantwortlich war, während die Mutter für die notwendige Nestwärme und den notwendigen Schutz sorgte (2. Mo 2,3 betont die Aufgabe der Mutter). Von beiden – Vater und Mutter – lernte Mose den furchtlosen Glauben (Heb 11, 23 erwähnt die Eltern Moses). Wenn wir an unseren Herrn denken, so verbrachte Er die Kindheit im Haus seiner Mutter Maria und deren Mann und war seinen Eltern untertan (Lk 2,51). Zugleich nahm Er zu an Gunst bei Gott und Menschen (Lk 2,52).

Ein Sohn der Tochter Pharaos

Mose wurde ausgesetzt. Von Anfang an war ihm kein ruhiges Leben verheißen. Unserem Herrn erging es nicht anders. Schon in früher Kindheit musste Er seine Heimat verlassen und nach Ägypten fliehen. Für Mose fand sich ein Platz am Hof des Pharaos. Er wurde ein Sohn seiner Tochter. Menschlich gesehen hätte es keinen gefährlicheren Platz geben können, doch es entsprach dem Willen Gottes, und so wurde dieser Platz für Mose für viele Jahrzehnte zu einem der sichersten Plätze überhaupt. Gott benutzte gerade den mörderischen Plan und Befehl Pharaos, um Mose sicher zu bewahren. Dazu gebrauchte Er dessen eigene Tochter und spottete dadurch der Macht des Pharaos. Gottes Wege sind unergründlich. Am königlichen Hof wurde Mose in aller Weisheit der Ägypter unterwiesen. Mose wurde weise und zugleich mächtig in seinen Worten und Werken. Weisheit erwarb er durch Belehrung, Macht (Stärke und Fähigkeit) empfing er als besondere Gabe Gottes. Die Zeit Moses am Hof des Pharao zeigt einmal mehr, wie Gott alle Dinge zum Guten seines Volkes in der Hand hielt und immer noch hält.

Weise und mächtig

Vers 22 zeigt, dass Mose unterwiesen wurde in aller Weisheit der Ägypter und dass er zugleich mächtig war in seinen Worten und Werken. Die Grundlage seiner Erziehung hatte er im Elternhaus erhalten, und das prägte ihn für sein Leben. Zusätzlich erhielt er in Ägypten die beste Ausbildung, die man sich damals denken konnte. Die Weisheit Ägyptens war sprichwörtlich (vgl. 1. Kön 5,10). So wurde Mose ein weiser Mann und war zugleich ein mächtiger Mann in Worten und Werken. Bei unserem Herrn war es ähnlich und doch anders. Man warf Ihm vor, „nur“ ein Zimmermann (d. h. ein ungelehrter Mann) zu sein, und doch war man über die Antworten, die Er bereits als Knabe gab, erstaunt. Drei Dinge unterschieden Ihn von Mose:

  1. Er benötigte die Weisheit der Welt nicht, sondern Er war und ist die Weisheit Gottes selbst (1. Kor 1,30; 2,7).
  2. Von Ihm heißt es nicht, dass Er mächtig in „Worten und Werken“ war, sondern Er war mächtig in „Werk und Wort“ (Lk 24,19). Das Werk stand bei Ihm an erster Stelle, dann kam das Wort. Außerdem gab es bei Ihm eine völlige Harmonie zwischen dem, was Er sagte und was Er tat (Joh 8,25) – eine Aussage, die sonst von keinem Menschen gültig ist.
  3. Er war mächtig in Werk und Wort „vor Gott und dem ganzen Volk“. Die Weisheit und Macht Moses zeigte sich zuerst vor den Ägyptern. Bei Christus stand Gott an erster Stelle.

Die Unterschiede und Parallelen zwischen Mose und Christus sind frappierend, und dies zu zeigen, war ohne Frage die Absicht von Stephanus.

2. Erste Ablehnung (Verse 23–28)

Als er aber ein Alter von vierzig Jahren erreicht hatte, kam es in seinem Herzen auf, sich nach seinen Brüdern, den Söhnen Israels, umzusehen. Und als er einen Unrecht leiden sah, verteidigte er ihn und rächte den Unterdrückten, indem er den Ägypter erschlug. Er meinte aber, seine Brüder würden verstehen, dass Gott ihnen durch seine Hand Rettung gebe; sie aber verstanden es nicht. Und am folgenden Tag zeigte er sich ihnen, als sie sich stritten, und drängte sie zum Frieden, indem er sagte: Männer, ihr seid Brüder, warum tut ihr einander unrecht? Der aber dem Nächsten unrecht tat, stieß ihn weg und sprach: Wer hat dich zum Obersten und Richter über uns gesetzt? Willst du mich etwa umbringen, wie du gestern den Ägypter umgebracht hast?

Mose sieht nach seinen Brüdern

Der nächste Abschnitt zeigt weitere Parallelen und Unterschiede zwischen Mose und Christus. Es war Mose ein Herzensanliegen, nach seinen Brüdern zu sehen (Vers 23). Darin gleicht er Joseph, der ebenfalls seine Brüder suchte (1. Mo 37,16). Im Gegensatz zu Joseph wurde Mose allerdings nicht gesandt, sondern die Initiative ging von ihm selbst aus. In Christus sehen wir beides. Einerseits war Er der „Gesandte des Vaters“, andererseits kam Er selbst vom Himmel auf diese Erde. Er sagte einmal selbst: „Ich bin von dem Vater ausgegangen und bin in die Welt gekommen“ (Joh 16,28).

Mose fasste einen Herzensentschluss. Es war seine Liebe zu seinem Volk, die ihn motivierte, zu ihnen zu gehen, um sich „umzusehen“. Das bedeutet, dass er seine Brüder besuchen wollte, um nach ihnen zu sehen und ihnen zu helfen. Genau das war die Mission des Sohnes Gottes. Er wollte nach seinen Schafen fragen und sich ihrer annehmen (Hes 34,11). Und es war Liebe, die Ihn antrieb. Zacharias fasst es in folgende Worte: „...durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes, in der uns besucht hat der Aufgang aus der Höhe, um denen zu leuchten, die in Finsternis und Todesschatten sitzen, um unsere Füße auf den Weg des Friedens zu richten“ (Lk 1,78.79).

Die Kinder Israel werden in Vers 23 „seine Brüder“ genannt. Mose war in seinem Inneren kein Ägypter geworden. Er lebte zwar dort und wurde ausgebildet, dennoch war er keiner von ihnen. Seine Brüder waren die versklavten Israeliten. So kam der Herr Jesus zu einem versklavten Volk, um es zu retten. Zugleich umfasste die Mission unseres Herrn mehr. Er wollte nicht nur Israel retten, sondern der „Heiland der Welt“ sein.

An dieser Stelle zeigt sich der Glaube Moses, denn durch Glauben weigerte er sich, ein Sohn der Tochter des Pharao zu heißen. Stattdessen wollte er lieber mit dem Volk Gottes leiden (Heb 11,24–26). Seine Eltern hatten ihn als Kind unterwiesen, und eine über mehr als 30 Jahre gehende heidnische (Um)Erziehung hatten den Glauben Moses nicht erschüttern können. Sein Platz war bei seinen Brüdern. Mose „weigerte“ sich und Mose „wählte“. Beides gehört zusammen. Man lehnt das eine ab, um sich für das andere zu entscheiden.

Der Zweck heiligt nicht die Mittel

Es war ohne Frage nach den Gedanken Gottes, dass Mose nach seinen Brüdern sehen wollte. Seine Motive waren gut. Es war Liebe, die ihn drängte. Allerdings entsprachen weder die Art und Weise seines Handelns noch der Zeitpunkt dem Plan Gottes. Mose wollte das Richtige, doch er tat es auf eine falsche Weise und zu einem falschen Zeitpunkt. Das war bei Christus nie der Fall. Er entsprach in allen drei Anforderungen (was tun, wie tun und wann tun) immer dem Willen Gottes. Wir hingegen müssen – wie Mose – oft lernen, dass der Zweck weder die Mittel heiligt noch den Zeitpunkt bestimmt, wann wir etwas tun. Wir müssen die Abhängigkeit in diesen drei Fragen immer wieder neu lernen.

Unverständnis und Ablehnung

Dennoch wird deutlich, dass es Stephanus nicht um das Fehlverhalten Moses geht, sondern vielmehr darum, dass die Israeliten Mose nicht verstanden und ihn ablehnten. Mose wurde mit Unverständnis und Ablehnung konfrontiert, und darin liegt die Parallele zu unserem Herrn. Die Juden verstanden Ihn nicht (vgl. z. B. Joh 10,6) und wollten Ihn nicht verstehen. Doch es blieb nicht beim Unverständnis. Sie lehnten Ihn vollständig ab und stießen Ihn von sich.

Mose war der Meinung, seine Brüder würden verstehen, dass Gott sie durch seine Hand retten wollte (Vers 25). Es war ja in der Tat kaum zu begreifen. Da gab es einen Hoffnungsschimmer für Hoffnungslose, und man erkannte es nicht. Christus hingegen wusste, was im Herzen der Menschen war. Dennoch traf Ihn das Unverständnis der Juden tief.

Vers 26 spricht von einem Streit unter Israeliten und zeigt, wie Mose bemüht war, Frieden zu stiften, doch diese Bemühungen wurden nicht angenommen. Der Sohn Gottes hat sich unendlich mehr um die Menschen bemüht als Mose es tat, doch seine Mühe wurde ebenfalls abgelehnt. Wir hören ihn sagen: „Umsonst habe ich mich abgemüht, vergeblich und für nichts meine Kraft verzehrt“ (Jes 49,4). Er kam, „um denen zu leuchten, die in Finsternis und Todesschatten sitzen, um unsere Füße auf den Weg des Friedens zu richten“ (Lk 1,79) – doch sie nahmen Ihn nicht an.

Mose musste sich die Frage gefallen lassen: „Wer hat dich zum Obersten und Richter über uns gesetzt?“ Vers 28 zeigt, dass man sich eher von Mose bedroht fühlte als in ihm den Befreier zu sehen. Die Israeliten wollten lieber Sklaven bleiben, als Mose als Befreier anzunehmen. Der Vorwurf, dass Mose sich angeblich zum Obersten und Richter aufspielte, wird von Stephanus zweimal erwähnt (Verse 27.35). Das zeigt, worum es ihm geht. Die Juden müssen das gut verstanden haben, denn sie waren mit dem, der sie befreien wollte, nicht anders umgegangen. Man wollte Ihn weder als Führer noch als Richter haben. Am Ende sorgte man dafür, dass Er verurteilt und gekreuzigt wurde. Mose wurde schließlich „weggestoßen“. Das muss für ihn sehr hart gewesen sein. Seine Hilfe wurde nicht nur abgelehnt, sondern der Helfer wurde weggestoßen, und das von denen, die ihm nahestanden. So war es bei Joseph, das erfuhr Mose, und das hat der Herr Jesus in einem viel größeren Maß erfahren. Zu Beginn seines Dienstes stieß man ihn zur Stadt hinaus (Lk 4,29), um Ihn zu töten. Am Ende seines Lebens hatte man nur ein Kreuz für Ihn übrig, dass außerhalb der Stadt aufgerichtet wurde. Es war ein Weg „hinaus“.

Mose wurde nicht von den Ägyptern abgelehnt, sondern von seinen eigenen Brüdern. Der Herr kam in das Seine und die Seinen nahmen Ihn nicht an (Joh 1,11). Darin lag die ganze Tragik, die Stephanus seinen Zuhörern vor Augen malt.

3. Vierzig Jahre in Midian (Vers 29)

Mose aber floh bei diesem Wort und wurde ein Fremder im Land Midian, wo er zwei Söhne zeugte.

Ein Fremder in Midian

Es muss für Mose sehr schmerzhaft gewesen sein, auf diese Weise Ägypten verlassen zu müssen. Zudem musste er seine eigenen Pläne aufgeben, Israel zu retten. Diese Flucht war seine eigene Schuld, doch das wird hier nicht betont. Der Bericht in 2. Mose 2,15 sagt ausdrücklich, dass er vor dem Pharao floh. Dieses Detail erwähnt Stephanus nicht. Mose floh, weil er nicht länger bleiben konnte. Die Gründe werden nicht genannt.1

Während Mose in Midian war, wurde er von Gott erzogen und vorbereitet. Seine hervorragende Schulung in Ägypten, seine Weisheit und seine Fähigkeit qualifizierten ihn nicht für die Aufgabe, Israel zu retten und durch die Wüste in das Land Kanaan zu bringen. Dazu war mehr nötig (nämlich vor allem die Weisheit von oben und das volle Vertrauen auf die Macht Gottes), und das lernte Mose in der Zeit im Ausland. Gott weiß alle Dinge zum Guten zu nutzen.

Doch auch das erwähnt Stephanus nicht. Er sagt nur, dass Mose in Midian ein Fremder wurde und dass er zwei Söhne zeugte. Wenn wir an unseren Herrn denken, so wird deutlich, dass Er – von seinem Volk abgelehnt und gekreuzigt – den Schauplatz Israels für eine Zeitlang verließ und für sie ebenfalls zu einem „Fremden“ wurde. Was die Israeliten mit Moses taten, hat Christus viel intensiver erfahren. Der Retter wurde abgelehnt und musste das Volk verlassen, um ein Fremder zu werden. Das ist der Punkt, um den es Stephanus geht. Christus ist jetzt im Himmel und wartet auf den Zeitpunkt, an dem sein Volk bereit ist, Ihn als Erlöser anzunehmen.

Die Zeit in der Fremde erinnert noch einmal an Joseph, und wir erkennen darin ein prophetisches Bild, das die Juden damals allerdings nicht verstehen konnten – wir aber sehr wohl. Wie Joseph wurde Mose ein Fremder in fremdem Land. Allerdings sehen wir bei Joseph besonders die Erhöhung über die Nationen, während bei Mose mehr der Gedanke der Trennung von seinen Brüdern gezeigt wird. Beides ist – wenn wir an Christus denken – wahr.

Zwei Söhne

Während der Zeit Moses in Midian bekommt Mose eine heidnische Frau und von ihr zwei Söhne (2. Mo 2,21.22; 18,3.4). Das ist eine weitere Parallele zu Joseph, dem in Ägypten ebenfalls zwei Söhne geboren wurden. Man kann das mit dem Herrn Jesus vergleichen, der in dieser Zeit der Entfremdung von Israel die Versammlung als Braut erwirbt. Allerdings erwähnt Stephanus Zippora (die Frau Moses) nicht, sondern spricht nur von seinen beiden Söhnen. An den Namen, die er ihnen gibt, erkennt man deutlich, dass er selbst in der Fremde sein Volk nicht vergaß, so wie der Herr Jesus im Himmel sein irdisches Volk nicht vergisst.

Der erste Sohn bekommt den Namen Gersom. Das bedeutet Fremder und zeigt zum einen, dass der Herr die Trennung von seinem irdischen Volk durchaus empfindet. Zum anderen redet der Name von den Israeliten als Volk, die jetzt „Fremde“ sind, bis der Messias kommt und sich neu um sie kümmern wird. Der zweite Sohn heißt Elieser. Das bedeutet „meine Hilfe ist Gott“ und weist prophetisch auf die Befreiung Israels hin, die vor dem Beginn des kommenden Reiches realisiert werden wird. Wenn Christus kommt, um den Überrest zu retten, wird Er mit Jesaja 8,18 sagen: „Siehe, ich und die Kinder, die der Herr mir gegeben hat, wir sind zu Zeichen und zu Wundern in Israel“.

4. Der Auftrag Gottes (Verse 30–34)

Und als vierzig Jahre verflossen waren, erschien ihm in der Wüste des Berges Sinai ein Engel in der Feuerflamme eines Dornbusches. Als aber Mose es sah, wunderte er sich über das Gesicht; während er aber hinzutrat, um es zu betrachten, erging die Stimme des Herrn: Ich bin der Gott deiner Väter, der Gott Abrahams und Isaaks und Jakobs. Mose aber erzitterte und wagte nicht, es zu betrachten. Der Herr aber sprach zu ihm: Löse die Sandale von deinen Füßen, denn der Ort, auf dem du stehst, ist heiliges Land. Gesehen habe ich die Misshandlung meines Volkes, das in Ägypten ist, und ihr Seufzen habe ich gehört, und ich bin herabgekommen, um sie herauszureißen. Und nun komm, ich will dich nach Ägypten senden.

Gott greift ein

Dieser vierte Abschnitt zeigt erneut besonders das Handeln Gottes, der Mose beauftragt. Weitere 40 Jahre waren vergangen, und nun war der Zeitpunkt für Mose gekommen, das Volk zu retten. Es fällt auf, dass Stephanus die Einwände und Fragen Moses nicht zum Thema macht. Das ist nicht sein Schwerpunkt. Er zeigt vielmehr, in welcher Vollmacht Mose handeln sollte. Er kam nicht in eigener Weisheit und in eigener Kraft, sondern als Gesandter Gottes.

Wir wissen, dass es bei unserem Herrn keinerlei Zögern gab. Er folgte dem Ruf seines Vaters, weil sein Wille kein anderer war als der Wille des Vaters. Zugleich handelte Er als Mensch in der Ihm von Gott verliehenen Vollmacht. Die Tatsache, dass die Juden den „zuvor bestimmten Christus Jesus“ (Apg 3,20) ablehnten, bedeutete nichts anderes, als dass sie Gott ablehnten, der Ihn gesandt, beauftragt und bevollmächtigt hatte.

Vierzig Jahre

Das Leben Moses teilt sich in drei Etappen von je 40 Jahren ein. Die ersten 40 Jahre lebte er in Ägypten (zuerst im Haus seiner Eltern und dann am Hof des Pharao). Die zweiten 40 Jahre lebte er in Midian bzw. in der Wüste. Diese Zeit ging nun zu Ende. Die letzten 40 Jahre führte er das Volk von Ägypten bis an die Grenze des Landes Kanaan. Die Zahl 40 spricht in der Bibel wiederholt von Prüfung und Vorbereitung. Diese Zeit der Vorbereitung in der Wüste war nun vorbei, und Mose war – aus Sicht Gottes – geeignet, jetzt der Oberste und Retter des Volkes zu sein. Wie Gott seinen Diener vorbereitet hat, wissen wir nicht, jedenfalls geschah es gründlich und in der Stille. Der Herr Jesus brauchte in diesem Sinn keine „Vorbereitungszeit“, und doch dauerte es auch bei Ihm ca. 30 Jahre, bis Er seinen öffentlichen Dienst begann. Und es ist sicher bemerkenswert, dass Er unmittelbar vor Beginn seines Dienstes gerade 40 Tage in einer Wüste zubrachte (Lk 4,1). Allerdings sagt das Neue Testament ausdrücklich, dass Er dort von dem Satan versucht wurde (Mk 1,13).

Der brennende Dornbusch

Am Ende dieser Zeit hatte Mose eine besondere Erscheinung (Vers 40). Weitere 40 Jahre später würde Josua ebenfalls eine besondere Erscheinung haben – und doch ganz anders (vgl. Jos 5,13–15). Beide begegneten Gott – und doch ganz unterschiedlich und jeweils passend zu ihrem Auftrag. Bei Josua war es ein Mann mit einem gezückten Schwert – denn nun begann der Kampf um das Land. Hier ist es ein brennender Dornbusch. Dieser Busch hat mindestens drei Botschaften. Er zeigt erstens die Wertlosigkeit Israels (ein Dornbusch). Er zeigt zweitens die Not Israels (der Busch brannte). Er zeigt drittens, dass Gott sein Volk in der Not nicht verlassen hatte (der Busch verbrannte nicht, weil Gott in dem Busch war; vgl. 5. Mo 33,16).

Zunächst wunderte Mose sich, und wir können das gut verstehen. Noch während er hinzutrat, hörte er eine Stimme. Es war die Stimme des Herrn (Vers 31). In Vers 30 ist die Rede von einem Engel. Vers 31 zeigt, dass es der Herr (Jahwe) selbst war, der zu Mose sprach. Der Engel des Herrn war niemand anders als der Herr (vgl. 1. Mo 22,15.16). Die Worte, die er hörte, ließen ihn erzittern. Auch das können wir gut verstehen. Wenn Gott redet, können Menschen nur erzittern. In einem Sinn gilt das auch für uns. Obwohl wir Gott als Vater anrufen (was Mose nicht konnte, weil er Gott so nicht kannte), haben wir doch Ehrfurcht vor Ihm, denn Er ist und bleibt der heilige Gott (vgl. 1. Pet 1,17).

In Vers 32 stellt Gott sich als der Gott der Väter Moses vor, und Er nennt sie mit Namen: Abraham, Isaak und Jakob. Gott liebt es, sich als „Gott Abrahams und Isaaks und Jakobs“ zu bezeichnen. Trotz all ihrer Fehlerhaftigkeit verbindet sich Gott mit ihnen. Doch nicht nur das. Gott nennt sich so, um an die Zusagen zu erinnern, die Er den Patriarchen gegeben hatte und die sich nun erfüllen sollten.2

Wenn wir Mose mit Christus vergleichen, wird hier ein großer Unterschied sichtbar. Gott musste sich Mose vorstellen, und er zitterte vor Frucht. Christus hingegen wusste, wer Ihn gesandt hatte. Er lebte nicht in Furcht, sondern war immer in völliger Gemeinschaft und Harmonie mit seinem Vater.

Heiliges Land

Der Herr forderte Mose auf, die Sandalen auszuziehen, weil er auf heiligem Land stand (Vers 33). Er befand sich in der Gegenwart des heiligen Gottes. Wo Gott ist, ist Heiligkeit. Obwohl Mose nicht im Land Kanaan war, war der Ort in der Wüste heilig. Das kann nicht anders sein. Wo Gott ist, muss alles seiner Heiligkeit entsprechen. Das hatten die Juden völlig übersehen, denn diese Heiligkeit war nicht nur eine äußere Heiligkeit, sondern schloss das Innere unbedingt mit ein. Deshalb hatte der Herr ihnen selbst gesagt: „Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler! Denn ihr gleicht übertünchten Gräbern, die von außen zwar schön scheinen, innen aber voll von Totengebeinen und aller Unreinigkeit sind“ (Mt 23,27).

Wann immer ein Mensch sich Gott nähert, muss er Gottes Heiligkeit Rechnung tragen (Ps 93,5). Die Juden hatten von der „heiligen Stätte“ gesprochen und meinten damit den Tempel (sie taten es sogar mit einem gewissen Recht). Sie hatten Stephanus vorgeworfen, gegen diese heilige Stätte zu reden. Sie mussten aber nun lernen, dass ihre „heilige Stätte“ nichts nützte, wenn sie nicht innerlich der Heiligkeit Gottes entsprachen – und das taten sie keineswegs. Sie hatten nicht begriffen, was Paulus später den Athener sagte: „Der Gott, der die Welt und alles darin gemacht hat, dieser, der der Herr des Himmels und der Erde ist, wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind“ (Apg 17,24.25). Die Zeit des Tempels kam nun zu einem Ende. In der christlichen Zeit ist das äußere Gebäude, in dem Christen zusammenkommen, von völlig untergeordneter Bedeutung.

Das Rettungswerk beginnt

Gott wollte nun Mose als Retter zu seinem Volk senden. Doch bevor Er den finalen Auftrag gibt, sagt Er noch etwas anderes (Vers 34). Er spricht davon, dass Er die Misshandlung seines Volkes gesehen hatte und dass Er gekommen war, um sie aus Ägypten herauszureißen. Diese Aussage lehrt uns folgendes:

  1. Gott ist barmherzig und gnädig: Das Elend des Volkes bewegte Gottes Herz und veranlasste Ihn, Mose zu senden. Gott ist reich an Barmherzigkeit wegen seiner vielen Liebe (Eph 2,4). Deshalb sandte Er seinen Sohn – nicht nur zu Israel, sondern in die Welt. Der Zustand des Volkes Israel zu Beginn des Neuen Testamentes war – dem Stolz der Juden zum Trotz – äußerst bedauernswert, und zwar innerlich wie äußerlich.
  2. Gott handelt: Er belässt es nicht dabei, sein Mitgefühl zu bekunden, sondern Er greift aktiv ein. Er will helfen, und dazu sandte Er damals Mose und später seinen eigenen Sohn. Er sagt: „ich bin gekommen“. Gott selbst kommt in Jesus auf die Erde, um der Not der Menschen ein Ende zu machen. Damals war Mose das Werkzeug. Wir wissen nur zu gut, dass Gott zu uns in seinem Sohn gekommen ist.

Die Not des Volkes war allerdings nur der äußere Anlass für das Handeln Gottes. Gott sah die Misshandlung. Er sah das Seufzen (allerdings nicht zu Ihm). Doch die tiefe Ursache (der eigentliche Beweggrund) für sein Handeln ist sein Ratschluss. Damals sandte Er den Retter, weil Er es Abraham versprochen hatte. Für uns sandte Er seinen Sohn, weil es sein Ratschluss war (vgl. z. B. 2. Tim 1,9).

In Vers 23 ist es das Herzensanliegen Moses, nach seinen Brüdern zu sehen. Er selbst ergreift die Initiative. In Vers 34 wird er von Gott gesandt. Wenn wir an unseren Herrn denken, ist beides wahr. Er kam in freiwilliger Liebe selbst auf diese Erde. Er hat sich selbst zu nichts gemacht. Zugleich war Er derjenige, den der Vater auf die Erde sandte. Wir erkennen darin zwei Seiten, die wir unterscheiden, ohne sie zu trennen: Christus kam erstens freiwillig, und Er war zweitens zugleich gehorsam.

5. Erneute Ablehnung (Verse 35.36)

Diesen Mose, den sie verleugneten, indem sie sagten: Wer hat dich zum Obersten und Richter gesetzt? Diesen hat Gott sowohl zum Obersten als auch zum Retter gesandt mit der Hand des Engels, der ihm in dem Dornbusch erschienen war.

Dieser führte sie heraus, indem er Wunder und Zeichen tat im Land Ägypten und im Roten Meer und in der Wüste, vierzig Jahre.

Dieser Mose – vom Volk verleugnet

Es fällt auf, dass Stephanus in den Versen 35–38 fünfmal von „diesem“ oder „dieser“ spricht – jeweils mit Bezug auf Mose. Damit wird die Parallele zu dem, was mit Christus geschah (von den Juden und von Gott) besonders unterstrichen. Obwohl die Juden Ihn ablehnten und verleugneten (d. h. nicht wahrhaben wollten, wer Er war), war Er doch derjenige, den Gott zum Retter bestimmt hatte.

Zum zweiten Mal wird betont, dass die Kinder Israel Mose ablehnten. Beim ersten Mal war es ein einzelner Israelit, der seine Führerschaft infrage stellt (Vers 27). Jetzt ist es das ganze Volk (Vers 35). Die individuelle Sünde eines Einzelnen wird zur kollektiven Sünde des ganzen Volkes. Beim ersten Mal verließ er sie für eine Zeit, beim zweiten Mal erfüllt sich schließlich Gottes Plan. Mose wurde mit der Hand des Engels, der ihm in dem Dornbusch erschienen war, zum Obersten und Retter. Diese Hand ist nichts anderes als Gottes Hand, denn Er war es, der Mose erschienen war; Er war sein Auftraggeber. Der mächtigen Hand Gottes konnten sie sich nicht widersetzen. Dennoch bleibt die Schuld groß, ihn verleugnet zu haben.

Zweimal hatte Petrus den Juden schon vorgeworfen, dass sie den Knecht Gottes, den Heiligen und Gerechten verleugnet hatten (Apg 3,13.14). Stephanus wiederholt diese Anklage nun – wenngleich auf indirekte Weise.

Dieser Mose – von Gott zum Obersten und Retter gesandt

Wir hatten gesehen, dass es bei Joseph ein zweites Wiedersehen mit seinen Brüdern gab, bei dem sie ihn erkannten. Bei den Israeliten in Ägypten war das zunächst anders. Sie lehnten Mose erneut ab. Dennoch wurde er beim zweiten Mal der Oberste (der Erste) und der Retter (der Erlöser)3. Christus war der Stein, den die Bauleute verworfen hatten, doch Er ist zum Eckstein geworden (Apg 4,11). Gott hat Ihn durch seine Rechte zum „Führer und Heiland“ erhöht (Apg 5,31). Prophetisch spricht das davon, dass der Messias einmal von dem Überrest anerkannt werden wird. Doch darum geht es Stephanus nicht so sehr. Er betont die Rettung und Erhöhung durch Gott, trotz der erneuten Ablehnung.

Gerade dieser Mose war es, den Gott zum Obersten und Retter gesandt hatte. Konnte man den Hinweis auf Christus überhören? Gerade diesen Jesus „hat Gott durch seine Rechte zum Führer und Heiland erhöht, um Israel Buße und Vergebung der Sünden zu geben“ (Apg 5,31).

Dieser – der Führer des Volkes

Mose war nicht nur der Oberste und Retter, sondern er war zugleich der Führer (Vers 36). Er führte sie heraus aus dem Elend, in dem sie sich befanden. Er tat es mit Wunder und Zeichen. Das stimmt mit dem überein, was Petrus von Christus sagt: „Männer von Israel, hört diese Worte: Jesus, den Nazaräer, einen Mann, von Gott vor euch bestätigt durch mächtige Taten und Wunder und Zeichen, die Gott durch ihn in eurer Mitte tat, wie ihr selbst wisst“ (Apg 2,22). „Jesus, den von Nazareth, wie Gott ihn mit Heiligem Geist und mit Kraft gesalbt hat, der umherging, wohltuend und alle heilend, die von dem Teufel überwältigt waren; denn Gott war mit ihm“ (Apg 10,38).

Die Plagen über Ägypten, die Befreiung einschließlich des Durchzugs durch das Rote Meer und der Durchzug durch die Wüste werden in einem Vers zusammengefasst. Die drei Ortsbezeichnungen in Vers 36 sind signifikant:

  1. Das Land Ägypten: Es ist einerseits das Synonym für Knechtschaft, Unterdrückung und Leid. Andererseits waren sie gerade dort vor dem gerechten Gericht Gottes geschützt (siehe das Passah in 2. Mose 12). Mose musste nicht sterben, als er die Vorschriften über das Passah gab. Christus hingegen gab sein Blut, um uns vor dem Gericht zu schützen (1. Kor 5,7).
  2. Das Rote Meer: Es ist einerseits das Synonym für den Tod. Andererseits spricht es von der Befreiung (2. Mose 15). Mose musste nicht sterben, um das Volk durch das Meer zu führen. Christus hingegen konnte nur durch den eigenen Tod dem die Macht nehmen, der die Macht des Todes hatte (Heb 2,14).
  3. Die Wüste: Die Wüste ist einerseits das Synonym dafür, dass Gott sein Volk prüfte. Zugleich ist sie der Beweis der Güte und Langmut Gottes. Paulus sagt später: „...und eine Zeit von etwa vierzig Jahren pflegte er sie in der Wüste“ (Apg 13,18). Das tat Gott. Mose konnte das Volk am Ende nicht in das Land bringen. Christus tut es sehr wohl. In Ihm sind wir mit jeder geistlichen Segnung gesegnet (Eph 1,3).

In Verbindung mit der Wüste werden wieder 40 Jahre erwähnt. Das ist der dritte Teil des Lebens Moses. Für Mose war das die vielleicht schwierigste Zeit, weil er mit ständigem Widerspruch zu kämpfen hatte. Das Volk damals erwies sich der Güte Gottes ebenso unwürdig wie die Führer Israels zur Zeit des Herrn Jesus und danach.

Die Wunder und Zeichen sprechen prophetisch von dem, was in der Zukunft geschehen wird. Darüber spricht der Prophet Joel (vgl. Joel 3,3). Davon spricht Petrus in Apostelgeschichte 2,19–21 (vgl. Lk 21,25–27). Doch erneut ist das ist nicht der Fokus in der Rede des Stephanus. Er möchte den Juden vielmehr zeigen, wie sehr Gott sich um sie gekümmert hat und wie schäbig ihre Väter damals – und sie heute – darauf reagierten.

6. Der erweckte Prophet (Vers 37)

Dieser ist der Mose, der zu den Söhnen Israels sprach: Einen Propheten wird euch Gott aus euren Brüdern erwecken, gleich mir.

Dieser – der Prophet

Wieder gebraucht Stephanus das Wort „dieser“. Es war gerade Mose, der vorausgesagt hatte, dass Gott einmal einen Propheten aus ihren Brüdern (d. h. aus ihrer Mitte) erwecken würde. Ohne Frage ist das einer der wichtigsten Aussprüche Moses überhaupt, denn es ist ein direkter Hinweis auf den Messias. So wurde dieses Wort tatsächlich von den Juden verstanden. Auf diesen Propheten hätten sie warten sollen. Damit wird zugleich die wichtigste Tätigkeit Moses genannt: Er war ein Prophet, jemand der Worte Gottes zu dem Volk redete. Genau das wird der Messias tun. Die Juden warteten auf den Retter aus der Macht der Römer. Doch auf den, der Worte Gottes zu ihnen redete, warteten sie nicht. Als Er kam, hörten sie nicht auf Ihn. Mose ist ein Vorbild von dem Herrn Jesus als dem großen Apostel und Propheten, der dem Volk das Wort Gottes verkündigte.

Petrus hatte diesen Sachverhalt ebenfalls zitiert (Apg 3,20–23). Dass Jesus der Messias – und damit der von Mose genannte Prophet – war, konnte objektiv nicht geleugnet werden. Die Beweise waren erdrückend. Einige aus dem Volk erkannten das (Joh 6,14; 7,40). Er war es, der Worte Gottes redete und sich in Zeichen und Wundern als der bewies, der Er war. Dieser Prophet würde von Gott selbst erweckt werden. Er würde sich nicht – wie andere vor und nach Ihm – selbst zum Christus machen (Mt 24,11.24; Mk 13,22; 2. Pet 2,1). Nein, Gott würde Ihn erwecken und hat Ihn erweckt. Alle anderen – die sich selbst dazu machten oder von anderen dazu gemacht wurden – erfüllten zu keinem Zeitpunkt das Kriterium „gleich mir“.

„Gleich mir“ bedeutet nicht, dass Christus und Mose gleich sind, sondern bezieht sich auf das „Erwecken“ durch Gott. Es ist wahr: Nie hatte Gott durch einen anderen Propheten so gesprochen wie durch Mose (vgl. 4. Mo 12,6–8). Nie wieder stand ein Prophet auf wie Mose. „Und es stand in Israel kein Prophet mehr auf wie Mose, den der Herr gekannt hätte von Angesicht zu Angesicht, nach allen Zeichen und Wundern, die der Herr ihn gesandt hatte zu tun im Land Ägypten, an dem Pharao und an allen seinen Knechten und an seinem ganzen Land“ (5. Mo 34,10.11).

Auf diesen Propheten hätten sie warten sollen. Doch als Er kam, lehnten sie Ihn ab. Somit war es nicht Stephanus, der Mose ablehnte, sondern es waren die Juden. Sie wiesen Mose zurück, indem sie den ablehnten, von dem Mose geredet hatte und der größer war als er.

7. Der abgelehnte Gesetzgeber (Verse 38–40)

Dieser ist es, der in der Versammlung in der Wüste mit dem Engel, der auf dem Berg Sinai zu ihm redete, und mit unseren Vätern gewesen ist; der lebendige Aussprüche empfing, um sie uns zu geben; dem unsere Väter nicht gehorsam sein wollten, sondern sie stießen ihn von sich und wandten sich in ihren Herzen nach Ägypten zurück und sagten zu Aaron: Mache uns Götter, die vor uns herziehen sollen; denn dieser Mose, der uns aus dem Land Ägypten geführt hat, wir wissen nicht, was ihm geschehen ist.

Dieser – der Gesetzgeber und Mittler

Stephanus gibt Mose noch mehr Ehre. In Vers 38 spricht er davon, dass Mose – und kein anderer – derjenige war, der in der Wüste das Gesetz durch die Vermittlung von einem Engel empfangen hat. Das Gesetz bestand aus den Worten Gottes. Daher waren es lebendige Worte. Gott hatte sie Mose auf dem Berg Gottes gegeben. Mose war der Mittler, denn er war mit dem Engel in der Wüste und auf dem Berg, und er war gleichzeitig mit „unseren Vätern“. „Der Engel“ ist hier wieder Gott selbst. Es ist klar, dass Mose ein Hinweis auf Christus ist, denn es gibt nur einen Mittler zwischen Gott und Menschen (1. Tim 2,5).

Nachfolgend eine kurze Erklärung zu zwei Ausdrücken:

  1. Die „Versammlung in der Wüste“ nimmt Bezug auf die Gemeinde Israels. Obwohl im Grundtext das Wort „Ekklesia“ (Herausgerufene) steht, ist hier nicht die neutestamentliche Versammlung (Gemeinde) nach dem Ratschluss Gottes gemeint, die aus allen von neuem geborenen Menschen der Gnadenzeit besteht, die mit dem Heiligen Geist versiegelt worden sind. Die Versammlung Gottes heute ist keine „Versammlung in der Wüste“, sondern sie ist mit Christus verbunden, der in den himmlischen Örtern ist. Das gilt, obwohl die einzelnen Menschen, die diese Versammlung bilden, noch auf der Erde leben.
  2. Die „lebendigen Aussprüche Gottes“ sind hier das Gesetz, auf das die Juden so stolz waren. Römer 3,2 spricht in diesem Sinn ebenfalls von den „Aussprüchen Gottes“. Dass sie lebendig waren, mag uns vielleicht auf den ersten Blick erstaunen, doch das hängt erstens damit zusammen, dass sie von einem lebendigen Gott gegeben wurden und zweitens, dass sie tatsächlich zum Leben bestimmt waren (Röm 7,10) – wenn ein Mensch sie denn hätte halten können. Selbst wenn sie – durch die Sünde im Menschen – faktisch zum Tod führten, waren diese Aussprüche doch eigentlich zum Leben bestimmt.

Neben den Wundern und Zeichen war Mose also dadurch gekennzeichnet, dass er der Überbringer der Aussprüche Gottes war. Der unausgesprochene Hinweis auf Christus liegt erneut auf der Hand: Er tat nicht nur Wunder und Zeichen, sondern Er redete Worte Gottes (Worte des Lebens) zu den Menschen. Gott selbst redete im Sohn. Das ist viel mehr, als einfach Aussprüche Gottes zu reden. Nur Er allein hat „Worte ewigen Lebens“ (Joh 6,68). Christus ist selbst das „Wort des Lebens“ (1. Joh 1,1) und das „ewige Leben“ (1. Joh 5,20). Das geht weit über Mose hinaus.

Ungehorsam und Ablehnung

Was war die Reaktion des Volkes auf die Aussprüche Gottes? Sie wollten nicht hören und stießen den Gesetzgeber zurück. Der Vorwurf von Vers 27 wird mit dem gleichen Wort wiederholt. Stephanus macht sich immer noch eins mit dem Volk. Er spricht wieder von „unseren Vätern“. Er war ein Teil dieses Volkes. Die Väter hatten erst Joseph abgelehnt, dann hatten sie Mose abgelehnt. Und nun lehnten sie Christus ab. Es war Ungehorsam, der zu dieser Ablehnung führte. Dennoch spricht Stephanus nicht direkt von Ungehorsam, sondern vom verweigerten Gehorsam. Mit anderen Worten: sie wollten nicht hören. Sie wollten nicht gehorsam sein. Was sie wollten, war etwas ganz anderes: zurück nach Ägypten.

Die tiefe Sehnsucht im Herzen war, zurück nach Ägypten zu ziehen. Im Herzen fallen die wesentlichen Entscheidungen des Lebens (Spr 4,23). So wie die Israeliten damals, hatten die Juden zur Zeit des Herrn Jesus ebenfalls „nicht gewollt“. Genau das musste der Herr ihnen vorwerfen (Mt 23,37). Sie wollten zwar gerne den Segen des Reiches haben, jedoch die notwendigen Voraussetzungen – Buße und Glaube – nicht erfüllen. Christus anzunehmen ist nicht nur eine Sache des Glaubens, man muss es zugleich wollen (vgl. Off 22,17). Das gilt heute so, wie es damals gültig war.

Dieser Mose – vom Volk verachtet

Jetzt legt Stephanus die Worte „dieser Mose“ in den Mund des Volkes. Sie hatten damals vorgegeben, nicht zu wissen, was mit „diesem Mose“ geschehen war. Welche Verachtung liegt in diesen Worten. Ebenso verächtlich hatten die Juden von dem Herr Jesus gesprochen. Noch wenig vorher hören wir die Worte: „...denn wir haben ihn sagen hören: Dieser Jesus, der Nazaräer, wird diese Stätte zerstören und die Gebräuche verändern, die uns Mose überliefert hat“ (Apg 6,14). Wir denken an die Überschrift über dem Kreuz des Heilands: „Dieser ist Jesus, der König der Juden“.

Götzendienst

Das erste Gebot Gottes lautete: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“ (2. Mo 20,3). Es war noch nicht gegeben, da war es schon gebrochen. Doch es liegt auf der Hand: Ein Herz, das sich dem Willen Gottes nicht öffnen will und ungehorsam ist, öffnet sich dem Götzendienst. So war es von Anfang an. Das ist die traurige Geschichte dieses Volkes. Kaum war Mose den Blicken des Volkes entzogen, verübte es Götzendienst. „Mache uns Götter“ – das war die glatte Ablehnung des lebendigen Gottes, der sich so mächtig an ihnen erwiesen hatte.

Der Vorwurf des Götzendienstes durchzieht die Rede des Stephanus. Abraham kam aus einem götzendienerischen Umfeld. In Ägypten hatten sie den Götzen gedient, und selbst nach der Befreiung hörte der Götzendienst nicht auf. Das führt Stephanus nun im nächsten Teil seiner Rede weiter aus.

Fußnoten

  • 1 Manche Ausleger verbinden die Flucht Moses mit Hebräer 11,27, wo wir lesen, dass Mose Ägypten durch Glauben verließ und die Wut des Königs nicht fürchtete. Es gibt jedoch gute Gründe anzunehmen, dass sich dieser Vers nicht auf die Geschehen in 2. Mose 2 bezieht, sondern auf den Auszug aus Ägypten, der ca. 40 Jahre später stattfand.
  • 2 Zum anderen erinnern die Worte daran, dass die Auferstehung real ist (vgl. Lk 20,37,38), denn Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden.
  • 3 Es fällt auf, dass die Israeliten Ihn als Obersten und Richter ablehnten, während Gott Ihn als Obersten und Retter sendet. Der Herr kam als der Retter (Heiland), als Er vor 2000 Jahren diese Erde betrat. Erst bei seinem zweiten Kommen wird Er der von Gott bestimmte Richter der Lebenden und Toten sein (Apg 10,42).
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