Die Rede und der Märtyrertod des Stephanus
Eine Bibelarbeit zu Apostelgeschichte 7

A) Die Rede des Stephanus

Der Hintergrund

Der Hintergrund zu dieser Rede findet sich in Kapitel 6. Zunächst sehen wir Stephanus dort in Vers 3 als jemand, der ein gutes Zeugnis hatte, der voll Heiligen Geistes und Weisheit und deshalb qualifiziert war, sich um die finanzielle Versorgung der Witwen zu kümmern. In Vers 5 wird Stephanus ein Mann „voll Glaubens und Heiligen Geistes“ genannt. Der Heilige Geist wirkte in ihm, und das Ergebnis war ein echtes Leben im Glauben. In Vers 8 wird erwähnt, dass er ebenfalls voll Gnade und Kraft war. Offensichtlich waren seine Worte in Gnade, mit Salz gewürzt (Kol 4,6). Doch nicht nur das; Stephanus tat „Wunder und große Zeichen unter dem Volk“. Es waren die Zeichen der Anfangszeit, durch die die Botschaft des Evangeliums damals bestätigt wurde (Heb 2,4). Vor allem jedoch war Stephanus ein redegewandter Mann, denn in Vers 9 lesen wir, dass Männer aufstanden „von der sogenannten Synagoge der Libertiner und der Kyrenäer und der Alexandriner und derer von Zilizien und Asien“ und mit Stephanus stritten. Allerdings konnten sie der Weisheit und dem Geist, durch den Stephanus redete, nicht widerstehen (Vers 10). Bei diesen Männern handelte es sich offensichtlich um Hellenisten, d. h. um griechisch sprechende Juden, die außerhalb Palästinas aufgewachsen waren. Es ist sehr wahrscheinlich – wenngleich nicht absolut sicher – dass Stephanus ebenfalls ein solcher Hellenist war. Weil sie nicht gegen Stephanus ankamen, griffen sie zu einer zwar bewährten, aber dennoch unlauteren Methode. Sie schoben heimlich Männer vor, die Stephanus der Lästerung bezichtigten (Vers 11). In der Folge hetzten sie das Volk auf und bemühten falsche Zeugen gegen Stephanus. Konkret sollte er gegen Mose und Gott (Vers 11) sowie gegen die heilige Stätte (den Tempel) und gegen das Gesetz geredet haben (Vers 13). Das waren die vier Vorwürfe, die man gegen ihn erhob.

In der Antwort weist Stephanus alle vier Anklagen zurück und zeigt, dass sie völlig haltlos waren. Im Gegenteil: Das Volk Israel selbst war dieser Sünden schuldig geworden. Dabei ändert Stephanus die Reihenfolge. Er spricht zuerst von Gott, dann von Mose, danach von dem Tempel und schließlich von dem Gesetz.

  1. Gegen Gott: Er widerlegt ihre Anklage am Beispiel Abrahams und Josephs, in deren Leben Gott besonders in Gnade wirkte.
  2. Gegen Mose: Er widerlegt ihre Anklage am Beispiel Moses selbst, den Israel ablehnte.
  3. Gegen den Tempel: Er widerlegt ihre Anklage am Beispiel Davids und Salomos, die den Tempelbau geplant bzw. umgesetzt hatten.
  4. Gegen das Gesetz: Er widerlegt ihre Anklage am Beispiel ihres eigenen Widerstandes und Ungehorsams.

Stephanus macht deutlich, dass Gott sich in der Geschichte Israels immer in Gnade offenbart hat und dass die Gnade immer abgelehnt wurde. Das kennzeichnet die ganze Rede, die diesbezüglich von großen Kontrasten geprägt ist.

Stephanus gibt keineswegs einen willkürlichen Rückblick auf die Geschichte Israels, sondern wählt ganz gezielt besondere Schwerpunkte. Er beginnt mit der Geschichte Abrahams und konzentriert sich dann auf zwei Personen, die beide von Gott erweckt wurden, von Israel abgelehnt wurden und sich schließlich als Retter erwiesen. Obwohl Stephanus ihre Lebensgeschichte nicht direkt mit der des Christus verbindet, liegen die Parallelen auf der Hand.

Dabei fällt erstens auf, dass Stephanus gewisse Punkte ausführlich behandelt und andere völlig weglässt. Es fällt zweitens auf, dass er die chronologische Reihenfolge nicht stringent einhält. Und nicht nur das: Es fällt drittens auf, dass er gewisse Einzelheiten schildert, die wir nicht einmal im Alten Testament finden.1 Das alles ist der Absicht geschuldet, die er verfolgt:

  1. Die Anklage zurückweisen: In diesem Sinn kann man diese Rede durchaus eine apologetische Rede (Apologetik = Verteidigung einer Anschauung) nennen. Wir lernen, dass es Situationen im Leben eines Christen gibt, in dem es gilt, die Wahrheit zu verteidigen und Angriffe zurückzuweisen. Dabei fällt auf, dass Stephanus nicht sich selbst (als Person) verteidigt, sondern in allem die Ehre Gottes sucht.
  2. Die Ankläger selbst anklagen: Es wäre zu wenig, die Rede als reine Apologetik zu bezeichnen. Es geht im Kern um viel mehr, denn der Angeklagte wird zum Ankläger und Richter. Das allerdings muss er am Ende mit dem Tod bezahlen. Stephanus hält den Juden ihre eigene Geschichte vor, die sie sehr gut kannten. Doch es ist eine Sache, die Geschichte zu kennen und eine andere, die entsprechenden Lehren daraus zu ziehen. Stephanus zeigt jedenfalls sehr deutlich, dass die Juden durch ihre eigene Geschichte ganz und gar verurteilt wurden. Sie taten nämlich nichts anderes als ihre Väter getan hatten. So wie ihre Väter Männer Gottes abgelehnt hatten, hatten die Juden „den Gerechten“ (Christus) verraten und ermordet. Sie waren es, die genau das taten, was sie Stephanus vorwarfen.
  3. Parallelen zu Christus aufzeigen: Besonders in der Geschichte Josephs und Moses – die den größten Teil der Rede ausmachen – wird deutlich, dass das, was die Väter mit diesen beiden Männern getan hatten, ein deutlicher Hinweis auf das war, was die Juden mit dem Herrn Jesus getan hatten. Obwohl Stephanus das nur ganz am Ende konkret so sagt, ist seine Absicht deutlich zu erkennen.

Die drei Absichten verlaufen wie drei Gedankenstränge durch die gesamte Rede des Stephanus. Man mag allerdings noch eine vierte Absicht erkennen, die mehr im Hintergrund steht. Der Rückblick des Stephanus zeigt, dass Geschichte nie statisch ist. Geschichte ist vielmehr ein ständiger Wechsel von Personen, Ereignissen und Orten. Es ist in der Geschichte Israels nicht alles geblieben, wie es war. Mit seinem Rückblick will Stephanus indirekt deutlich machen, dass mit dem Kommen und der Ablehnung Christi eine neue Ära in ihrer Geschichte eingeleitet wurde. Leider hatten die Juden kein Empfinden für diese Veränderung und wollten sie auch nicht haben.

Was lernen wir aus der Geschichte

Für uns liegt in diesem Kapitel und dem Rückblick auf die Geschichte Israels eine wichtige und übergeordnete Lektion: Von dem ehemaligen Bundeskanzler Helmut Kohl stammt der Satz: „Ein Volk kann nicht ohne Geschichte leben“. Und Richard von Weizsäcker, einer der Bundespräsidenten, hat einmal gesagt: „Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie wiederholt ihre Lehren“. Was für Nationen und Völker gilt, gilt ebenfalls für das Volk Gottes. Die Juden hatten aus ihrer Geschichte nichts gelernt. Was lernen wir heute? Mindestens zwei Dinge hätten die Juden lernen sollen, nämlich erstens die dankbare Anerkennung der Gnade Gottes und zweitens das Bewusstsein der eigenen Fehlerhaftigkeit.

Gott hatte Israel gesagt: „... und in der Wüste, wo du gesehen hast, dass der Herr, dein Gott, dich getragen hat, wie ein Mann seinen Sohn trägt, auf dem ganzen Weg, den ihr gezogen seid, bis ihr an diesen Ort kamt“ (5. Mo 1,31). Das korrespondiert mit dem ersten Punkt, die sie im Rückblick auf ihre Geschichte hätten lernen sollen. Gott hatte ebenfalls gesagt: „Und du sollst dich an den ganzen Weg erinnern, den der Herr, dein Gott, dich hat wandern lassen diese vierzig Jahre in der Wüste, um dich zu demütigen, um dich zu prüfen, um zu erkennen, was in deinem Herzen ist, ob du seine Gebote halten würdest oder nicht (5. Mo 8,2). Das korrespondiert mit dem zweiten Punkt, den sie im Rückblick auf ihre Geschichte hätten lernen sollen.

Stephanus und Petrus

Bevor wir auf die Einzelheiten der Rede eingehen, ein weiterer kurzer Hinweis in Bezug auf den Charakter der Ansprache. Bisher war in der Apostelgeschichte vor allem Petrus der Redner der Jünger. Er hatte sich ebenfalls vor dem Synedrium zu verantworten. Doch nun tritt Stephanus in den Vordergrund. Auf den ersten Blick wird deutlich, dass Stephanus sich klar von Petrus unterscheidet. Gott gebrauchte beide als Werkzeuge und Zeugen für die Wahrheit, aber eben jeden auf seine Weise und zu seiner Zeit. Es gibt mindestens drei Unterschiede zwischen den Ansprachen dieser beiden Männer Gottes:

  1. Die Reden des Petrus sind vergleichsweise kurz, während Stephanus sehr lang und ausführlich spricht.
  2. Petrus spricht oft von Jesus und nennt wiederholt seinen Namen. In der Rede von Stephanus fällt auf, dass er zwar von Christus spricht, seinen Namen Jesus jedoch nicht ein einziges Mal erwähnt (erst in seinem Gebet wendet er sich direkt an Ihn und nennt Ihn mit Namen). Wenn er von Ihm spricht, nennt er Ihn „den Gerechten“ und den „Sohn des Menschen“. Das prägt seine Rede und ihrem Inhalt.
  3. Petrus spricht wiederholt über den Tod und die Auferstehung des Herrn Jesus und ruft zur Buße auf. Stephanus hingegen tut das nicht. Er hat einen anderen Schwerpunkt. Er klagt die Juden an, die ihn angeklagt hatten und zeigt ihnen anhand ihrer eigenen Geschichte, wie oft sie die Gnade Gottes mit Füßen getreten hatten.

Man kann die Rede des Stephanus ebenfalls mit der Rede von Paulus vergleichen, die er vor dem Synedrium gehalten hat und erneut stellt man Unterschiede fest. Paulus war der „Apostel der Nationen“, und er macht in seiner Ansprache besonders deutlich, welchen Auftrag Gott ihm gegeben hatte. Davon spricht Stephanus überhaupt nicht.

Einteilung

Man kann die Rede auf unterschiedliche Weise einteilen. Eine Möglichkeit ist es, die vier Anklagegründe als Grundlage zu nehmen. Dann ergibt sich folgende Struktur:

  1. Keine Lästerung gegen Gott
  2. Keine Lästerung gegen Moses
  3. Keine Lästerung gegen den Tempel
  4. Keine Lästerung gegen das Gesetz

Eine weitere Möglichkeit ist es, die Rede anhand der sieben genannten Personen einzuteilen; nämlich Abraham, Joseph, Mose, Josua, David, Salomo und der Gerechte (Christus). Sinnvoller erscheint es mir jedoch, die Rede, dem Text folgend, in sechs Teile zu gliedern:

  1. Gottes Gnadenwege mit Abraham (Verse 1–8)
  2. Die Geschichte Josephs und Jakobs (Verse 9–16)
  3. Die Geschichte Moses (Verse 17–40)
  4. Der Beginn und die Fortsetzung des Götzendienstes (Verse 41–43)
  5. Das Zelt und der Tempel – Josua – David – Salomo (Verse 44–50)
  6. Die Anklage gegen das Volk (Verse 51–53)

Die Frage des Hohenpriesters

Die gesamte Rede ist eine Antwort auf die Frage des Hohenpriesters in Vers 1: „Ist dies so?“ Er gibt Stephanus Gelegenheit, sich zu rechtfertigen und auf die Vorwürfe zu reagieren. Man könnte sich die Frage stellen, warum Stephanus die Rede so aufbaut, wie er es tut. Am Ende greift er die Führer der Juden scharf an und wirft ihnen vor, dem Heiligen Geist zu widerstehen, den Gerechten ermordet zu haben und das Gesetz Gottes nicht zu halten. Es muss ihm klar gewesen sein, dass er damit sein Leben riskierte. Um sich zu schonen, hätte er nur etwas kompromissbereiter sein und eine beruhigende Rede halten müssen. Die notwendige Eloquenz dazu hätte er sicher gehabt. Doch es ging ihm nicht um sein Leben und seine eigene Ehre, sondern um die Ehre Gottes. Den Mut und die Gradlinigkeit eines solchen Mannes können wir nur aufrichtig bewundern und von ihm lernen.

Der letzte Vorwurf der Juden lautete, dass Stephanus behauptet habe, dieser Jesus würde die Stätte (d. h. den Tempel) zerstören und die Gebräuche (d. h. das Gesetz) verändern (Apg 6,14). Hatte Stephanus das tatsächlich so gesagt? Die Juden verstanden nicht, dass die Gnade in Christus auf einer höheren Ebene steht als das Gesetz (Joh 1,17). Und doch hat Christus das Gesetz nie aufgehoben. Er hat es sogar erfüllt. Tatsache ist vielmehr, dass die Juden das Gesetz gebrochen hatten und dass sie selbst der Anlass dazu waren, dass der Tempel sehr bald zerstört werden würde (Mt 23,38; 24,2). Gott hingegen wird einmal dafür sorgen, dass es einen neuen Tempel geben wird (Hes 40–48), und dann wird das Gesetz von Zion ausgehen. Stephanus hatte ganz sicher nichts gesagt, was die Propheten und Mose nicht bereits zuvor gesagt hatten. Und doch verteidigt Stephanus nicht sich selbst, sondern versucht – unter der Leitung des Heiligen Geistes – die Gewissen der Zuhörer zu erreichen. Dabei beweist er eine exzellente Kenntnis der Schriften des Alten Testamentes, über die man nur staunen kann. Davon können wir lernen. Petrus fordert uns auf, jederzeit zur Verantwortung gegen jeden bereit zu sein, der Rechenschaft von uns fordert über die Hoffnung, die in uns ist (vgl. 1. Pet 3,15). Es geht nicht darum, uns selbst zu verteidigen, sondern es geht um unseren Herrn und um die Wahrheit.

Fußnoten

  • 1 Es gibt sogar solche Abweichungen, die auf den ersten Blick nach Widersprüchen aussehen, in Wirklichkeit jedoch keine sind. Man muss dabei bedenken, dass Stephanus als Hellenist ein griechisch sprechender Jude war, der die griechische Übersetzung des Alten Testamens (die Septuaginta) las und zitierte. Im Rahmen dieser Ausarbeitung werde ich auf die vermeintlichen Widersprüche nicht näher eingehen.
Nächstes Kapitel »« Vorheriges Kapitel