Botschafter des Heils in Christo 1875

Das Gewebe von zweierlei Stoffen - Teil 2/2

Moses war mit den Vorschlägen der zweieinhalb Stämme unzufrieden und sprach mit Entschiedenheit seine Befürchtungen darüber aus, indem er ihnen sagte, dass ihr Betragen an die von Kadesch–Barnea ausgesandten Kundschafter erinnere. Auch diese hatten ihre Brüder entmutigt und waren die Veranlassung ihrer vierzigjährigen Pilgerschaft in der Wüste geworden. Moses fühlte, dass jede Zögerung auf dem Weg der Berufung Gottes, welche das Volk von Ägypten ausgehen ließ, um es in Kanaan einzuführen, gänzlich entgegen sei. Die zweieinhalb Stämme mussten daher neue Beweise geben, dass sie sich nicht von der Gemeinschaft und den Interessen ihrer Brüder trennen wollten, welche sie auch mit ebenso viel Eifer als Aufrichtigkeit gaben. In diesem Stück haben sie keine Ähnlichkeit mit Lot; denn eher hätten sie Gilead preisgegeben, als dass sie ihre Einheit mit denen verleugneten, welche sich in Kanaan niederlassen wollten. Aus diesem Grund konnte sich auch Moses nicht von ihnen trennen, wie Abraham sich von Lot trennte. Auch wurden sie nicht durch das Gericht Gottes heimgesucht, wie die ungläubigen Kundschafter. Aber Moses dachte mit Besorgnis an sie und verlor sie nicht aus dem Auge.

Welche mannigfaltigen Schätzungen von verschiedenen Charakteren liefern uns die zahlreichen Klassen unter dem Volk Gottes? Wie viele verschiedene Stufen des Glaubens, der Treue und der Kraft, des Lebens und der Gemeinschaft haben wir z. B. in Abraham, Moses und David, sowie in Lot, Jonatan und in den Bewohnern Gileads, und endlich in Joschafat und Obadja, welche sämtlich dem Volk Gottes angehörten. Während Lot in Sodom, Jonatan am Hof Sauls und Obadja im Palast Ahabs wohnten, bewohnte Abraham ein Zelt, David eine Höhle, und Elias wurde an den Ufern des Baches Krit oder auch in der Hütte der Witwe von Sarepta von Gott ernährt. Jedoch war Jonatan weder ein Lot, noch ein Obadja, obwohl wir ihn im Allgemeinen unter diese Klasse Zählen, während uns der Platz der zweieinhalb Stämme zwischen Lot, Jonatan und Obadja einerseits und zwischen Moses, Abraham und Elias andererseits zu liegen scheint; denn sie sind die Repräsentanten einer Klasse, welche um keinen Preis von der Berufung und dem Volk Gottes getrennt sein möchte, aber dennoch in ihrem moralischen Charakter einen seltsamen Widerspruch mit dieser Berufung verrät. Ach! wir fühlen nur zu wohl, dass diese Klasse unter den Gläubigen am meisten vertreten ist. Josua hatte bezüglich der Bewohner Gileads dieselbe Besorgnis wie Moses. Denn während es beim Beginn des Vorangehens (Jos 1) seinerseits nur einer einfachen Aufforderung an die übrigen Stämme bedurfte, sieht er sich in Betreff ihrer veranlasst, sie in eingehender Weise zu ermahnen und zu warnen. Gleichwie Noah zur Reise in eine andere Welt bereit war und mit seiner Familie dem Augenblick des Eintritts in die Arche entgegenharrte, so waren auch die im Land wohnenden Stämme frei von jedem Hindernis und für die Reise zubereitet – sie erwarteten nur das Signal zum Aufbruch. Ganz anders war es mit den zweieinhalb Stammen; sie waren nicht so gut ausgerüstet, und Josua behandelte sie gleichsam wie solche, die mit schwerem Gepäck belastet sind und im Augenblick des Aufbruchs noch viele Dinge aus dem Weg zu räumen haben. Er fand es für nötig, sie, Israel gegenüber, an ihre Verbindlichkeiten zu erinnern, indem sie in seinen Augen nicht völlig mit demselben verbunden und vereinigt waren. Und er ist gewissermaßen für sie dasselbe, was der nach Sodom kommende Engel für Lot war.

Im Blick auf dasselbe Volk sehen wir in Josua 22 zwar, dass, nachdem die Bundeslade den Jordan durchschritten und dem Israel Gottes den Weg ins Land der Verheißung gebahnt hatte, auch die zweieinhalb Stämme mit hinüberzogen. Dennoch aber kehren diese, während das übrige Volk mit der Bundeslade in Kanaan bleibt, wieder zurück, um sich da wohnlich einzurichten, wo ihre Brüder nur Pilger und Fremdlinge gewesen waren. Sie zeigen vor aller Augen das seltsame Schauspiel solcher Israeliten, die ihren Platz und ihre Interessen außerhalb der natürlichen Grenzen des verheißenen Erbteils finden und da eine Heimat suchen, wo die Bundeslade weder Ruhe noch Heimat finden konnte. Josua fühlte das Fremdartige dieser Sache, indem er bei ihrem Scheiden noch eine besondere Ermahnung an sie richtete. Und wie es scheint, mochte sich auch ihrer Herzen in dem Augenblick, wo sie das Land ihrer Wahl betraten, ein ähnliches Gefühl oder doch wenigstens eine gewisse Unbehaglichkeit bemächtigt haben; denn – sie errichteten einen Altar. Alles dieses redet zu unseren Herzen mit einer Sprache, welche von den Bewohnern Gileads, den Israeliten unserer Tage, sollte verstanden werden. Als Joschafat bei Ahab auf seinem Thron saß, verriet er durch sein Verlangen nach einem anderen Propheten Jehovas dasselbe Gefühl der Unbehaglichkeit (2. Chr 18,6), welches einen wahren Israeliten inmitten der Unbeschnittenen befällt. Er führte die Sprache eines erneuerten Geistes, der das Bewusstsein hat, sich auf einem fremden Boden zu befinden. Die zweieinhalb Stamme hatten ihren Altar zum Zeugnis ihres Anteils an Gott, an der Hoffnung und Berufung Israels ausgerichtet. Aber wäre wohl eine solche Erfindung nötig gewesen, wenn sie ihren Platz in Kanaan einnahmen, wo sie den Körper statt des Schattens, das innere wahrhaftige Zeugnis statt des äußeren gehabt hätten? Ach! sie bedurften eines Erinnerungszeichens zur Stütze ihres Vertrauens und mussten ihre Zuflucht zu eigenen Erfindungen nehmen, um ihre Einheit mit Israel zu bezeugen, und zwar deshalb, weil sie sich aus dem Bereich Silos entfernt hatten. Und so ist es stets, wenn unsere praktische Stellung nicht in Übereinstimmung mit der Berufung Gottes ist. Sobald unsere Herzen nicht mehr einfältig und treu sind, sucht man für sich und andere nach Beweisen für das, was wir sind. Denn das Haschen nach Anerkennung, die mit beständiger Wankelmütigkeit verbundene Untersuchung des eigenen persönlichen Auslandes, sowie die vielen Selbstbetrachtungen oder die Erinnerungen an bessere Tage – alles dieses trägt die Inschrift des Altars zu Gilead. Eine ähnliche Inschrift liefert uns das Weib Lots oder die Salzsäule, deren Bedeutung uns unser göttlicher Lehrer selbst entziffert hat. Das Verlangen Joschafats nach einem Propheten Jehovas, der Altar Gileads, sowie alle Erfindungen unseres eigenen unruhigen Herzens verraten zwar einen erneuerten Geist, liefern aber Zugleich den Beweis, dass ein einfältigeres Auge und ein völligeres Herz für Christus uns dieses alles erspart hätten. Möge das durch die Israeliten außerhalb des Landes der Verheißung aufgerichtete Denkmal uns zur Warnung dienen, dass wir uns da nicht niederlassen, wo die Kirche nur eine Pilgerin sein sollte, wenn uns anders die wahre Ruhe, die Freimütigkeit des Herzens und der Friede des Gewissens lieb ist. Christus hat uns nicht berufen, um an der Verbesserung der Welt mitzuwirken, sondern vielmehr in einer völligen Trennung von derselben zu verharren. Wir durchschreiten eine Periode, welche der Fürst dieser Welt benutzt hat, um sein Haus durch seine Diener auskehren und schmücken zu lassen; und diese verwundern und beglückwünschen sich, dass durch ihre mit Erfolg gekrönten Bemühungen dieses Haus eine so glänzende, ihrem Geschmack entsprechende Form erhalten hat, so dass es nach ihrer Meinung nicht mehr dasselbe ist, wie ehedem. Allein ihre Täuschung ist ebenso groß wie gefährlich; denn mehr als je ist es das Haus dessen, der, als der große Widersacher des Herrn, bald von ihren, seine gottlosen Absichten begünstigenden Bemühungen Gebrauch machen wird. „Wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut.“ Wenn unsere Arbeit nicht mit den Absichten des Herrn in Übereinstimmung und auf der Waage des Heiligtums abgewogen ist, so wird sie bald, mag sie auch im Namen Jesu errichtet sein, zum Vorteil des Feindes ausschlagen. Der Mensch benutzt alle seine Fähigkeiten samt allen Hilfsquellen der Erde, um das Haus auszuschmücken; alle die zahlreichen Vereine der Kunst und Wissenschaft, der Literatur und Musik, selbst der Weltfriede, dessen sich Europa so viele Jahre erfreute – haben zu demselben Zweck miteinander gewetteifert. Unermesslich sind die literarischen, industriellen und religiösen Fortschritte. Alles ist den Interessen des Fürsten dieses Zeitlaufs dienstbar. Aber umso ernster sind die Worte des Apostels: „Seid nicht in einem verschiedenen Joch mit den Ungläubigen“, – oder die Warnung: „Du sollst nicht Zeug, von zweierlei Stoff gewebt, anlegen, Wolle und Leinen zusammen“, Zugleich aber auch bekennen wir mit demütigem Herzen, dass mancher teure Diener Christi, obwohl er, indem er nicht nach der Vorschrift des Heiligtums wirkt, bezüglich seines Zweckes sich täuscht, dennoch oft mit aufrichtigeren Eifer dient, als mancher unter uns, die wir seinen Irrtum beurteilen können. Ich fürchte die Gleichgültigkeit noch mehr als die Vermischung. Möge der Herr uns vor beidem bewahren! Lasst uns unsere Talente im Dienst eines verworfenen Herrn benutzen und, getrennt von der Welt, auf Ihn rechnen, dessen sichtbare Gegenwart wir bald genießen werden!

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