Der Brief an die Römer

Kapitel 3

Der Brief an die Römer

Paulus wußte wohl, daß all dies für die Ohren der Juden sehr anstößig sein mußte, und sie würden ihn empört anklagen, er schmälere und setze all das beiseite, was Gott getan hatte in der Berufung Israels heraus aus Ägypten, damit sie Sein Volk wären. Deshalb die Fragen, die er in dem ersten Vers von Kapitel 3 aufwirft. Seine Antwort lautet, daß es dennoch ein Vorzug sei, ein Jude zu sein, und zwar hauptsächlich deshalb, weil er das Wort Gottes hatte.

Laßt uns an dieser Stelle eine Anwendung auf die gegenwärtige Zeit machen. Die bevorrechtigte Stellung, die in früheren Tagen die Juden einnahmen, wird heute von der Christenheit eingenommen. Ohne Zweifel ist es von Vorteil, in einem christlichen Land geboren und auferzogen zu sein, doch damit verbinden sich gleichzeitig enorme Verantwortlichkeiten. Auch ist es auf traurige Weise wahr, daß die abscheulichen Sünden der Christenheit die Heiden nur zu Lästerungen herausfordern. Ein unbekehrter Professor „christlicher“ Religion wird nach der hohen Stellung, zu der er sich bekannt hat, beurteilt werden und deshalb ein schwereres Gericht verdienen.

Die Aussprüche Gottes umfassen heute nicht nur das Alte, sondern auch das Neue Testament - nicht nur das Wort Seines Gesetzes, sondern ebenso das Wort Seiner Gnade. Doch laßt uns besonders das Wort „anvertraut“ betonen. Früher waren die Aussprüche Gottes den Juden anvertraut; heute sind sie der Kirche anvertraut. Das ist ihre wahre Stellung. Sie erzeugt nicht diese Aussprüche, noch ist sie, wie viele fälschlicherweise behaupten, autorisiert, sie zu lehren; sie hat sie lediglich zu verwalten. Sie sind ihr anvertraut, damit der Geist mit diesen Aussprüchen ihr Lehrer sein möge.

Zu Beginn des dritten Kapitels geht es nur um den Juden und das Gesetz. Der Apostel kannte sehr gut die spitzfindigen Ausflüchte in den Köpfen der Juden. Er bekam auch die verleumderischen Gerüchte mit, die sie über seine Belehrungen in Umlauf setzten. Was er in den Versen 3-8 sagt, ist die Reaktion darauf. Er macht vollkommen klar, daß Unglaube auf seiten des Menschen keinesfalls die göttlichen Aussprüche aufheben oder verändern kann. „Die Treue [O. der Glaube] Gottes“ erstreckt sich natürlich auf all das, was Gott offenbart hat, damit Menschen es im Glauben annehmen möchten.

Außerdem steht Gott so hoch erhaben über der Bosheit und dem Unglauben des Menschen, daß Er weiß, alles in einen dunklen Hintergrund umzuwandeln, vor dem Er die lichte Klarheit Seiner Gerechtigkeit und Wahrheit entfaltet. Stellt Ihn das irgendwie bloß, oder tut Er unrecht, wenn Er den Sünder zu richtet? Keinesfalls, noch ist damit eine Art Entschuldigung gegeben für solche, die es gern als Begründung anführen möchten, um weiterhin Böses zu tun, indem sie sagen: „Wenn mein Böses zu Gottes Herrlichkeit beitragen kann, dann will ich fortfahren, noch mehr Böses zu tun.“ Deren Gericht wird gewiß und gerecht sein.

Was ist nun die Stellung? Sind wir sicher, daß wir sie verstehen? Vers 9 stellt diese Frage. Obwohl der Jude, verglichen mit dem Heiden, große Vorzüge hatte, ist er doch nicht besser als der Heide. Das hatte der Apostel schon vorher, besonders in Kapitel 2, bewiesen. Beide, Jude und Grieche, sind „unter der Sünde“. Er läßt es aber im Fall des Juden nicht bei schlüssiger Beweisführung bewenden, sondern fährt fort, seine eigenen Schriften direkt gegen ihn zu zitieren.

So beginnt Vers 10: „Wie geschrieben steht.“ Dann folgt bis zum Ende des achtzehnten Verses eine Reihe von Zitaten aus den Psalmen und eines aus Jesaja, zusammen sechs. Sie beschreiben ausreichend den wirklichen Zustand, in den die Menschheit versunken ist.

Das erste Zitat (V. 10-12) ist eine Stelle, die wir zweimal in den Psalmen finden (14; 53). Die Wiederholung scheint anzuzeigen, daß die Aussage äußerst wichtig ist und von uns keinesfalls übersehen werden sollte. Von ihrem Gehalt her möchten wir vielleicht schon lieber darüber hinwegsehen und unseren freien Weg haben. Diese Anführung enthält sechs Feststellungen von allgemeinem, umfassendem und durchgreifendem Charakter. Vier sind negativ bestimmt, zwei positiv. Viermal finden wir „keiner“, und zweimal „alle“, obwohl beim zweitenmal sinngemäß, nicht wörtlich. Laßt uns die weitreichenden Anklagen ins Auge fassen.

Die erste: kein Gerechter - auch nicht einer. Darin sind wir alle eingeschlossen. Die Feststellung gleicht einem Netz; es ist unentrinnbar, alle einfangend, und so fest, daß auch der kleinste Fisch keinen Riß zum Entweichen findet. Bei keinem von uns sind die Beziehungen zu Gott in Ordnung.

Wer dazu neigt, etwas zu bestreiten, könnte einwenden: „Das erscheint übertrieben. Und selbst wenn es wahr wäre, so ist doch der Mensch ein intelligentes Geschöpf. Man braucht ihn nur aufzuklären, dann bringt er diese Sache in Ordnung.“ Doch die zweite Anklage besagt, daß keiner verständig sei, um seinen Zustand der Ungerechtigkeit zu erkennen. Sie sind unfähig, ihre notvolle Lage oder wenigstens einen Bruchteil davon, auszuloten. Und das verschlimmert seine Stellung beträchtlich.

„Nun, schön!“ wird der Streitlustige sagen, „wenn die Gedanken des Menschen irregehen, so hat er doch Instinkte und Gefühle, die richtig sind, und wenn er ihnen folgt, führen sie zu Gott.“ Aber die dritte Anklage setzt uns entgegen: Da ist keiner, der Gott suche. Ist das wirklich so? Es ist in der Tat so. Wir alle wissen es, oder etwa nicht? Er sucht sein eigenes Vergnügen, sein eigenes Fortkommen, seinen eigenen Ruhm. Folglich geht es ihm um Geld, Genuß und Sünde. Was er sucht, wenn Gottes Macht sein Herz angerührt hat, ist eine andere Sache. Hier geht es darum, was er sucht von seiner gefallenen Natur aus und abseits der göttlichen Gnade.

Der Zustand des Menschen ist verkehrt. Sein Denken ist verkehrt. Sein Herz ist verkehrt. Diese dritte Aussage entscheidet die Tatsache und besiegelt seine Verurteilung. Sie macht offenkundig, daß es in keinem Punkt eine Wiederherstellung aus ihm selbst geben kann.

Daraus ergeben sich die drei Anklagepunkte Vers 12. Alle sind abgewichen. Alle, wirklich alle zusammengenommen, sind untauglich geworden; geradeso als ob man Nullen zu Nullen fügte, und wenn es in die Tausende ginge, es läuft auf nichts hinaus. So sind schließlich alle Werke des Menschen wie auch seine Wege verkehrt. Er mag tausenderlei tun, das bei oberflächlicher Betrachtung ganz schön aussieht. Aber sein Tun kommt vom Unrecht nicht los, weil es einem falschen Motiv entspringt. Kein Werk ist recht, außer wenn dabei Gott und Seine Interessen gesucht werden. Und genau das ist es, was der Mensch eben niemals sucht, er verfolgt seine eigenen Interessen, wie wir vorher gesehen haben.

Es ist auffallend, daß die Worte „auch nicht einer“ am Ende des ersten und des letzten Anklagepunktes vorkommen. Mögen sie unser Gewissen erreichen. Wir wollen nicht annehmen, daß der christliche Leser über diesen Urteilsspruch streiten möchte; wenn er das täte, würden wir sogleich an seinem Christsein zweifeln. Doch wir sind sicher, daß manche von uns diese Worte gelesen und angenommen haben, ohne jedoch das ganze Ausmaß unseres Ruins wahrzunehmen. Dieser unser verdorbener Zustand ist ohne die Gnade Gottes, die ihn aufdeckt, wirklich unheilbar. Es ist sehr wichtig, daß wir uns das klarmachen, denn ohne eine richtige Diagnose der Krankheit werden wir auch das Heilmittel nie angemessen wertschätzen.

Wer zum Widerspruch neigt, möchte jedoch hier noch Einwendungen machen. Er beklagt vielleicht, daß alle diese sechs Aussagen allgemein gehalten sind, und er mag uns daran erinnern, daß, wenn ein Rechtsanwalt keine überzeugenden Beweise hat, er sich gern in langen allgemeinen Reden ergehe, als ob er vermeiden wolle, daß man ihn zwingt, auf Einzelfakten zu kommen. Wenn jemand so ähnlich sprechen wollte, sieht er sich aber sogleich mit den Versen 13-18 konfrontiert, die besondere Einzelheiten herausstellen. Diese Einzelheiten beziehen sich alle auf sechs Glieder des menschlichen Leibes: seine Kehle (Schlund), die Zunge, die Lippen, den Mund, die Füßen und die Augen. In seinem Leib sündigt der Mensch, und alle Taten, die im Leib getan sind, müssen gerichtet werden an dem Tag, der uns allen bevorsteht. Beachten wir, daß von den erwähnten Gliedern nicht weniger als vier sich auf das beziehen, was wir sagen. Eins betrifft das, was wir tun, und eins das, was wir denken, denn das Auge ist das Fenster des Verstandes.

Was für ein furchtbares Bild! Und was für eine Sprache! Wir wollen uns Zeit nehmen und sie tief in unser Herz einwirken lassen. Zum Beispiel „ein offenes Grab“! Wie weckt dieser Ausdruck Entsetzen! Ist der Schlund eines Menschen gleich dem Eingang zu einer Höhle voller Totengebeine und Unreinheit Gestank? So ist es. Und dort sind nicht nur Unreinheit und Gestank, sondern Betrug und Gift, Flüche und Bitterkeit. Seine Wege sind Gewalttat, Zerstörung, Elend. Friede kann da nicht sein, wo Gott und die Ehrfurcht Seines Namens aus dem Geist eines Menschen verdrängt sind.

Nun war das alles im besonderen und gezielt dem Juden gesagt. In Vers 19 erinnert Paulus sie daran. Sie waren das Volk unter dem Gesetz; an sie wandte sich das Gesetz in erster Linie. Sie mochten wünschen, es beiseite zu fegen, und andere glauben machen, daß es nur auf die Heiden anzuwenden sei. Doch das war nicht zulässig. Die Gesetze in Deutschland wenden sich an Deutsche; die Gesetze in China an Chinesen; das Gesetz Moses an den Juden. Ihre eigenen Schriften verdammen sie, stopfen ihnen den Mund und schleudern ihnen das Urteil entgegen: Schuldig vor Gott!

Dies rundet die Darstellung ab. Barbaren und Griechen hatten sich zuvor als schuldig erwiesen, ohne Entschuldigung. Die ganze Welt war schuldig vor Gott. Überdies findet sich nichts im Gesetz, was uns von unserer Schuld und dem Gericht befreien könnte. Es ist vielmehr seine Aufgabe, uns die Erkenntnis unserer Sünde nahezubringen. Das hat es auch in den Versen, die wir gerade betrachtet haben, auf wirkungsvolle Weise getan.

Wo können wir denn Hoffnung finden? Allein im Evangelium. Die Entfaltung des Evangeliums beginnt mit Vers 21. Die ersten Worte lauten: „Jetzt aber ...“ Im Gegensatz zu dieser ununterbrochen düsteren Darstellung tritt jetzt eine andere ans Licht. Gepriesen sei Gott zehntausend mal zehntausend mal, daß es eine andere Geschichte zu berichten gibt. Und hier wird sie erzählt in einer Anordnung, die göttlich ist, und mit Worten, die göttlich ausgewählt sind. Auf dem Wort JETZT liegt besonderer Nachdruck. Wir werden ihm mehrere Male begegnen mit Bezug auf verschiedene Einzelheiten der Botschaft des Evangeliums. Nehmen wir die folgenden Verse, zu denen wir bei der weiteren Betrachtung noch kommen werden, schon jetzt vorweg und beachten wir die Verwendung: 5,9; 5,11; 6,22; 7,6; 8,1.

Der erste Begriff, der hier mit dem Evangelium verbunden wird, ist „die Gerechtigkeit Gottes“ und nicht, wie wir vielleicht erwartet hätten, die Liebe Gottes. Tatsache ist, daß die Sünde des Menschen die Gerechtigkeit Gottes direkt herausfordert. Deshalb muß die Gerechtigkeit an erster Stelle begründet werden. Der ganze Plan des Evangeliums ist auf die göttliche Gerechtigkeit gegründet. Welche Nachricht könnte besser sein? Sie gibt die Gewähr für die Stabilität und Dauerhaftigkeit alles folgenden.

Das Evangelium ist somit zuerst einmal die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes, völlig losgelöst vom Gesetz, obwohl das Gesetz und die Propheten davon Zeugnis gegeben hatten. Diese Gerechtigkeit ist enthüllt worden, jedoch nicht durch eine gerechte Gesetzgebung noch durch die Ausübung einer völlig gerechten Vergeltung an den Übertretern, sondern in Christus und der Erlösung, die in Ihm ist. Im Tod Christi geschah eine vollständige und endgültige Regelung jeder Frage, die die Sünde des Menschen aufgeworfen hatte, und das auf einer gerechten Grundlage. Sie wird in Vers 25 umschrieben. Eine Sühnung ist vollbracht worden. Das heißt, eine völlige Genugtuung im Blick auf die Gerechtigkeit Gottes ist geschehen. Und das nicht nur im Blick auf die Sünden derer, die in dieser Zeit des Evangeliums glauben, sondern auch derer, die in früheren Zeiten geglaubt haben. Die „vorher geschehenen Sünden“ sind die Sünden von Menschen, die vor Christus lebten. „Vorher geschehen“ ist vom Kreuz Christi her zu verstehen, nicht von deiner oder meiner oder irgend jemandes Bekehrung aus.

Diese Gerechtigkeit Gottes, die in dem Tod Christi offenbart und begründet worden ist, ist „gegen alle“, aber doch nur „auf alle, die da glauben.“ Sie wird jedem Menschen angeboten. Soweit es sich dabei um Gottes Absicht handelt, ist sie auf alle gerichtet. Anderseits jedoch empfangen nur solche den Segen, die wirklich glauben. Erst dann wird die Gerechtigkeit Gottes in ihnen zur Wirklichkeit, und sie stehen als Gerechte vor Gott. Gott selbst rechtfertigt den, der an den Herrn Jesus glaubt, wie groß auch immer seine Schuld gewesen sein mag. Gott ist gerecht darin, ihn zu rechtfertigen. Das ist die Bedeutung von Vers 26.

Diese wunderbare Rechtfertigung, diese vollkommene Befreiung ist das Teil aller, die an Jesus glauben, ob Jude oder Heide. Alle haben gesündigt, so daß hinsichtlich der Schuld kein Unterschied ist. Ebenso gibt es keinen Unterschied in der Art der Rechtfertigung. Der Glaube an Christus, und nur das, macht einen Menschen gerecht vor Gott. Vers 30 stellt das fest.

Es ist offensichtlich, daß diese Weise, in der wir die Segnung des Heils empfangen, alles Rühmen seitens des Menschen beiseite setzt. Menschlicher Ruhm ist völlig ausgeschlossen. Hier liegt der Grund, weshalb stolze Menschen die Vorstellung von der Gnade Gottes hassen. Doch wir werden umsonst gerechtfertigt durch Seine Gnade. Gnade gab Jesus in den Tod. Gnade ist Gottes Weise, um in der Rechtfertigung zu handeln, und Glaube ist die Antwort von unserer Seite. Wir sind durch Glauben gerechtfertigt worden, ohne Gesetzeswerke. Zu dieser Schlußfolgerung werden wir geführt durch die Wahrheit, die wir betrachten durften.

Der letzte Vers unseres Kapitels begegnet dem Einwand, den ein gesetzeseifriger Jude erheben könnte, daß diese Botschaft des Evangeliums nicht wahr sein könne, weil sie das Gesetz verfälsche, das doch unzweifelhaft zu einem früheren Zeitpunkt von Gott gegeben worden sei. „Nein“, sagt Paulus, „wir sind weit davon entfernt, das Gesetz für null und nichtig zu erklären, vielmehr geben wir ihm den Platz, den es in Gottes Absicht immer schon einnehmen sollte.“

Niemals wurde das Gesetz so geehrt und in seiner Gültigkeit bestätigt wie im Tod Christi. Das Evangelium ehrt das Gesetz, weil es ihm erlaubt, seinen eigentlichen Zweck zu erfüllen, nämlich von der Sünde zu überführen. Danach tritt das Evangelium ein und richtet aus, wozu das Gesetz niemals imstande war: Es bewirkt für den Gläubigen eine vollkommene Rechtfertigung in Jesus.

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