Die Erziehung in der Schule Gottes

Joseph

Die Geschichte Josephs zeigt uns die Prüfungen und Pflichten eines Knechtes Gottes. Das Böse und die Fehler der menschlichen Natur werden uns in seinem Lauf nicht gezeigt, wie im Leben einiger, mit denen wir uns schon beschäftigt haben. Joseph wird uns hauptsächlich als Knecht und Werkzeug für Gottes Absichten gezeigt und deshalb müssen wir den Übungen und Läuterungen nachspüren, denen er unterworfen war, um für diesen Dienst passend gemacht zu werden.

Das erste, was wir von ihm erfahren, zeigt ihn in seiner Stellung im Hause seines Vaters. „Und Israel hatte Joseph lieber als alle seine Söhne, weil er der Sohn seines Alters war; und er machte ihm einen langen Leibrock.“ Da er so von seinem Vater geliebt und ausgezeichnet wird, öffnet sich sein Herz; denn nichts weckt unsere Liebe so sehr, wie zu wissen, daß wir geliebt werden; wie geschrieben steht: „Wir lieben, weil er uns zuerst geliebt hat.“ So öffnet sich Josephs Herz in zartem Alter in der glücklichen Atmosphäre der Liebe seines Vaters, aber zugleich wurde er dadurch dem Neid derer ausgesetzt, die sich dieser Liebe als unwürdig erwiesen hatten. „Seine Brüder haßten ihn und vermochten nicht, ihn zu grüßen.“ Während er auf der einen Seite die Zärtlichkeit und Geborgenheit der väterlichen Liebe genoß, erduldete er auf der anderen Seite Vorwürfe und Verfolgung, weil er begünstigt war. Wenn das eine ihn zu seinem Vater hinzog, bewies ihm das andere auf schmerzliche Weise, daß er in dieser Zuneigung verharren mußte, denn außerhalb und wegen dieser Zuneigung war er ein Leidender.

So lernte Joseph früh im häuslichen Kreise (wie alle Knechte Gottes) die einfachen Grundsätze der Wahrheit, die ihn nachher in den höchsten Diensten stützen mußten: Wer von Gott geliebt wird, ist von den Menschen gehaßt. Die Liebe seines Vaters, die sich in dem Geschenk des langen Leibrocks deutlich zu erkennen gab, mußte ihn für den Haß seiner Brüder entschädigen; sie mußte ihn gegen all ihren Widerstand und Neid stärken und wappnen. Dies ist die erste und größte Unterweisung, die der Knecht Gottes beim Betreten seines Weges lernen muß; und diese Unterweisung bestand Christus (auf den Joseph ein Vorbild ist) so gut und vollkommen. Er, der immer im vollen Bewußtsein der Liebe Seines Vaters lebte, wurde dadurch befähigt, allem Haß und aller Bosheit des Menschen unbewegt zu begegnen. Wer die Liebe des Vaters am besten kennt, ist der beste Beweis jener Liebe, - und der geeignetste Knecht, den der Vater aussenden kann zu denen, die die Liebe nicht kennen. „Der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat ihn kundgemacht.“ Joseph wird entsprechend seinem Charakter als Vorbild und Diener, von seinem Vater ausgesandt, um zu sehen, wie es seinen Brüdern ging. Aber vorher werden ihm noch zwei Mitteilungen über die Stellung, die er später einmal einnehmen sollte, gemacht.

Von seiten seines Vaters wird er nicht unterstützt, sondern getadelt; und dieser Umstand, begleitet von dem verstärkten Widerstand seiner Brüder, legte den Grund zu jener Abhängigkeit von Gott und Unabhängigkeit von Menschen, die seinen späteren Weg so sehr kennzeichnete. Die Ausblicke, die meine Seele beschäftigen, mögen von allen um mich herum, selbst den geschätzten Freunden und Ratgebern, mißverstanden werden; aber sie werden in Gnade gegeben, um die Seele zu befestigen und um mich, wenn ihre Verwirklichung eintritt, von der treuen und beständigen Fürsorge Gottes zu überzeugen. Wie wenig bemerken und schätzen wir die kleinen Umstände in jungen Jahren und die Wirkung, die sie auf uns ausüben! Von Kindesbeinen an werden wir für den uns von Gott bestimmten Platz geformt, und unsere ganze Geschichte ist nur eine Folge von Vorbereitungen auf das Ziel, und die erste gleicht in materieller Hinsicht genau derjenigen, die unseren Weg beendet. So war es bei David. Das erste, was wir von ihm lesen, ist, daß er in der Wildnis Schafe hütete. Von dort wurde er, nach einer dazwischen liegenden Zeit der Zucht, weggenommen, „um Israel, sein (Gottes) Volk zu weiden, und Jakob, sein Erbteil“; diese Stellung behielt er im Auf und Ab der Zeit bis ans Ende. Ebenso war es bei Mose. In dem Kästlein aus Schilf allein für Gott, mit Gott  und unter Gott, ist jeder Teil seines Lebens von derselben Art, ob nun in  Midian, oder auf dem Berge Gottes, oder schließlich auf dem Gipfel des Pisga.

Joseph macht sich nun auf den Weg, er ist der Liebe seines Vaters sicher; er kennt den Haß seiner Brüder und hat eine unbekannte, noch unbegreifliche Ahnung von kommender Größe. Dem Willen des Vaters gehorsam, schrak er nicht vor der Gefahr zurück, die jener für ihn nicht fürchtete. Wenn Gott in Seiner Liebe und Weisheit uns einen Weg des Dienstes zeigt, der Ihm wohlgefällig wäre, und Er, der alles weiß, keine Gefahr für uns befürchtet, können wir den Weg in einfältigem Vertrauen betreten. Auch wir kommen aus dem häuslichen Kreise - dem bekannten Ausdruck für die Liebe des Vaters -, um uns in den stürmischen Ozean unverständiger und liebloser Brüder zu begeben und Boten der Liebe des Vaters zu ihnen zu sein. Als solcher kam Christus, und jeder wahre Diener muß als solcher seinen Dienst tun und nützlich sein. Auf dem Wege seines Dienstes kam Joseph, der Übermittler der Botschaft der Teilnahme seines Vaters, nach Sichem, aber er wird in der Ausführung seiner Sendung enttäuscht, denn er findet seine Brüder nicht dort. Solche Hindernisse treten häufig auf und prüfen, ob es unser ganzes Begehren ist, den Willen des Vaters zu tun. Offenbar war Joseph gewillt, den Auftrag auszuführen, denn anstatt umzukehren, als er sie nicht finden konnte, irrt er umher, bis er erfährt, wo sie sind und folgt ihnen bis Dothan, ohne zu ahnen, welch ein blutiger und boshafter Empfang seiner harrte.

Nachdem seine Brüder verschiedene Male ihre bösen Absichten geändert haben (denn gottlose Pläne sind immer mannigfaltig, während es nur einen Weg gibt, das Rechte zu tun), wird Joseph an die Ismaeliter und von ihnen wieder an Potiphar, einen Kämmerer des Pharao, den Obersten der Trabanten, verkauft. Welch ein Wechsel für ihn, der Wärme der väterlichen Liebe entrissen und erst von seinen eigenen Brüdern angegriffen zu werden, um nun als Sklave in Ägypten zu sein! Hatten die göttlichen Mitteilungen, die ihm in seinen Träumen gewährt worden waren, in ihm Unabhängigkeit von allem Menschlichen (sei es Haß oder Liebe) und Abhängigkeit von Gott allein bewirkt? Wenn ja, so benötigte er die Abhängigkeit von Gott in diesem kritischen Augenblick; und zweifellos lag darin der Wert der Zucht, die er jetzt erduldete. Als erstes wird uns die Wahrheit mitgeteilt, und wir dürfen uns glücklich schätzen über ihren Besitz; aber nur der Winter kann das kräftige Wachstum von Frühling und Sommer zur Reife bringen. Die große Wirklichkeit der Wahrheit muß von uns erfahren werden. Joseph mußte lernen, daß Gott die einzige Rettung ist.

Aber der Winter ist selten ohne einen Sonnenstrahl, und oft tritt vor seiner größten Härte, wie auch vor seinem Ende, eine Zeit des Lichts ein. Bevor der schwerste Teil der Zucht über uns kommt, werden wir oft durch eine unerwartete Zeit der Freude ermuntert. Joseph ist ein glücklicher Mann im Hause des Obersten. Aber er wird bald vertrieben, - der Feind der Seelen hat eine Schlinge bereitet, der Joseph jedoch in Lauterkeit und Würde entfliehen kann; denn sie richtete sich nur gegen die Verderbtheit seiner Natur und bot seinem Sklavendasein keinerlei Erleichterung. Wir können Potiphars Frau als Bild der Welt, deren Verlockungen sie darstellt, betrachten; und als es ihr mißglückt, den Knecht Gottes zu verführen wird sie sein ärgster und gewissenlosester Feind. Sehr oft wird Gedeihen begleitet von schlechter Gesellschaft; aber diese Verbindung kann von der gottesfürchtigen Seele nicht geduldet werden. Solange noch Treue da ist, muß sie die Trennung herbeiführen. Aber wie groß ist die Belohnung für den Verlust von beidem, Wohlstand und böser Gesellschaft! Gott bleibt, - und mit Bestimmtheit handelte Joseph nun für Ihn und vor Ihm. Wie bunt ist das Leben dieses zukünftigen Zeugen Gottes! Erst als Sklave verkauft, weil er der Bote der Liebe seines Vaters zu seinen Brüdern war; nun von seinem Herrn ins Gefängnis geworfen, weil er der rechtschaffene Hüter dessen Besitzes war, erfuhr er, daß weder Liebe noch Rechtschaffenheit von den Menschen verstanden wurden. Er durfte nur auf Gott schauen und Ihm allein vertrauen. Und Gott enttäuschte ihn nicht. „Und Jehova war mit Joseph und wandte ihm Güte zu und gab ihm Gnade in den Augen des Obersten der Feste.“ Wenn jemand wirklich auf Gott vertraut, erleichtert Er die Umstände der Prüfungen, in denen er sich befindet, seien sie von kurzer oder langer Dauer. Keine widrigen Umstände vermögen die wahre lebendige Kraft zu unterdrücken, wie sehr sie sie auch behindern und einschränken mögen. Der Schauplatz mag sich ändern, nicht aber der Geist. Mose hilft in  Midian den Frauen und tränkt ihre Herden, als er den Hebräern nicht mehr helfen und dienen durfte. Sowohl in  Midian als auch in Ägypten ist er ein Erretter; und Jehova wird ihm eine Freistatt und gewährt ihm Erleichterung in seiner Knechtschaft und Sorge. Auch Joseph wird bald im Gefängnis ebenso nützlich erfunden wie im Hause des Obersten der Trabanten. „Der Oberste der Feste sah nicht nach dem Geringsten, das unter seiner Hand war; und was er tat, ließ Jehova gelingen.“

In jeder noch so dunklen Zeit der Prüfung gibt es Strahlen von Licht und Erleichterung; aber die volle Erlösung wird oft verzögert durch unsere Besorgnis, sie zu erlangen. Gott Selbst, und nicht die Erlösung, soll die Befriedigung Seines Knechtes sein; daher wird die Erlösung oft verzögert, bis wir sie nicht mehr ersehnen oder erwarten, und dann kann sie auf eine so völlig außerhalb unseres Verstehens liegende Weise vollbracht werden, daß wir die Liebe und die Teilnahme, die uns während der ganzen Prüfungszeit umringte, sehen und verstehen müssen. So war es bei Petrus in Apg 12, mit Paulus und Silas in Apg 16, und mit Joseph im weiteren Verlauf dessen, was wir betrachten. Seine Fähigkeiten als Gottes Diener und eines Mannes, der mit Seinen Gedanken vertraut ist, werden erst auf deutliche Weise im Gefängnis bewiesen. Prüfungen als Ergebnis menschlicher Feindschaft behindern die Treue Gottes nicht. Gelegenheiten, um sie zu beweisen, gibt es unter den unglücklichsten Umständen. Paulus im Gefängnis dient zum Segen des Kerkermeisters; Joseph offenbart im Gefängnis dem Obersten der Schenken das Urteil Gottes. Aber er macht wahrscheinlich einen Fehler, als er ihn bittet, sich für seine Freilassung zu verwenden; und er muß zwei Jahre länger gefangen bleiben. Wieder erfährt er, daß auf den Menschen kein Verlaß ist. Die lange Einkerkerung muß ihm sehr hart erschienen sein, da er sich bewußt war, nichts getan zu haben, wodurch er sie verdient hätte. Es mußte ihm fast erscheinen, als habe Gott ihn vergessen; und nichts ist so schmerzlich wie das Bewußtsein, daß jemand, von dem wir viel erwarten, unsere Not kennt, aber nicht zu unserer Hilfe herbeieilt. Das war Hiobs große Prüfung - daß Gott Seine Fürsorge nicht bewies; und die Prüfung Johannes' des Täufers, als er im Gefängnis von den Taten Jesu hörte.

Wir wissen nicht, ob Joseph das empfand; aber wir wissen, daß Gott einen Zweck mit seiner langen Gefangenschaft verfolgte, und als das Ziel erreicht war, „traf sein Wort ein; das Wort Jehovas läuterte ihn. Der König sandte hin und ließ ihn los; der Herrscher über Völker, und befreite ihn.“ Wie wenig verstehen wir die Übung und die Läuterung, denen der treue Diener unterworfen ist, damit er für den Dienst Gottes befähigt wird! Zucht ist notwendig, um das aus dem Wege zu räumen, was wir nicht selbst entfernen; aber Läuterung befreit uns von dem, was wir selbst loszuwerden wünschen und versuchen. Joseph machte einen gründlichen Läuterungsprozeß durch, von dem Tage an, da er das Haus seines Vaters in dem langen Leibrock, der der Beweis der Liebe war, verließ. Er mußte durch eine bemerkenswerte Anzahl von Trübsalen und Züchtigungen erfahren, daß die Gunst der Menschen trügerisch ist. Von Zeit zu Zeit darf er sie genießen, um zu erkennen, wie wenig sie ihm in Zeiten der Not nützt; und langsam, aber sicher, erfährt er, was es heißt, von Gott und für Gott zu leben.

Aber schließlich kommt die Befreiung, und Joseph erscheint vor Pharao als Diener und Zeuge Gottes im höchsten Sinne. Er verkündet zukünftige Dinge und empfängt die Auszeichnung und Stellung, die ihm gebührt, und die Welt wird gezwungen, sie ihm zuzuerkennen. In dieser ganzen Zeit wußte er wahrscheinlich wenig von dem Dienst, den er seinen Brüdern leisten sollte, oder davon, wie völlig das, was er ihnen einst versuchte zu geben und das so gottlos zurückgestoßen und vergolten worden war, ihnen nun angeboten, und so demütig angenommen werden würde. Die ganze Zeit wirkte Gott für Sein Volk, und im Laufe der Zeit erkannte Joseph das und erfüllte es.

In den zahlreichen Gesprächen mit seinen Brüdern ist er für uns das lieblichste Bild eines Mannes von göttlicher Weisheit und Urteilskraft, der gegen die zarten Regungen des Herzens kämpft; er hielt seine Gefühle solange zurück, bis er sicher war, daß die rechte Zeit für die Eröffnung der Wahrheit gekommen war. Wie rührend ist die Besorgnis und Not, die er über seine Brüder verhängte, um sie auf den Weg zu führen, den sein Herz ersehnte! Seine Liebe zu ihnen gab ihm all das ein; und wenn wir sein Benehmen betrachten, sehen wir, wie selbstbeherrscht und wie geeignet er war für den Dienst, den er auszuüben berufen war. Welch ein Augenblick muß es für diesen einst leidenden und gedemütigten, gezüchtigten, jetzt aber erhobenen Mann gewesen sein, sich seinem Vater vorzustellen und ihm um den Hals zu fallen und zu weinen! Welch einen Weg der Vorbereitung war er gegangen, ehe dieser Höhepunkt seines Lebens und Dienstes erreicht war! Aber nun war es soweit. In Gnaden hatte er für alle Bedürfnisse Vorsorge getroffen; so bewies er, wie ähnlich seine erste Sendung zu Beginn seines Laufes gewesen war - ihnen eine richtige Vorstellung von der Liebe ihres Vaters zu geben.

Zum Schluß können wir nur den Glauben hervorheben, durch den er sich auszeichnete. Nach aller Größe, die er in Ägypten erlangt hatte, nach allem Dienst, den er vollbracht hat, sieht er im Glauben ein besseres und größeres Erbteil in der Ferne. Bei seinem Tode erwähnt er den Auszug Israels und gibt Befehl wegen seiner Gebeine. So beschließt er seinen Lauf als treuer Diener, indem er von dem wahren Gegenstand der Hoffnung Zeugnis ablegt; er hatte während seines Lebens dem Volke Gottes vollkommen und gemäß seiner Bedürfnisse gedient, und als er starb, führte er sie zur wahren Aussicht und Hoffnung ihrer Seelen - dem Erbe des verheißenen Landes. Keine zeitlichen Vorteile durften das umwölken oder hemmen. Der Glaube blickt über den Glanz gegenwärtiger Dinge hinweg; seinem Volke treu bis ans Ende dienend, befiehlt er ihnen mit seinen letzten Atemzügen ihre eigentliche Hoffnung und ihren zukünftigen Weg an.

So endet der Weg eines der am meisten gezüchtigten und geehrten Knechte, nach großen Prüfungen, aber größeren Erfolgen; nach großen Trübsalen, aber größeren Freuden; nach großer Erniedrigung, aber größerer Erhebung; und die Beschäftigung mit Josefs Leben ist nützlich für jeden leidenden Knecht Gottes, des Gottes, der gelobt sei von Ewigkeit zu Ewigkeit.

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