Betrachtung über das Evangelium nach Johannes

Kapitel 13

Betrachtung über das Evangelium nach Johannes

In den Kapiteln 1–12 unseres Evangeliums betrachteten wir die Wege des Herrn als Sohn Gottes, als Fremdling vom Himmel und als Heiland der Sünder; es war ein Weg der Gnade, aber auch der Einsamkeit. Wir sahen aber auch Seinen Umgang und Seine Auseinandersetzungen mit Israel; diese Seite hatte viel Ähnlichkeit mit dem Weg des Propheten Jeremia. Wie dieser, so hatte auch der Herr die Rückfälligkeit der Tochter Zion gegeißelt, sie gewarnt und belehrt. Wie gern hätte Er sie geheilt! Er sah auch wie Jeremia die Halsstarrigkeit ihres Herzens, erlitt Zurückweisung und Ablehnung von ihrer Seite, so dass Er nur über sie weinen konnte. Und am Ende Seines Dienstes redete Er gewissermaßen mit den Worten Jeremias zu ihr (S. Joh 12,35): „Gebt dem Herrn, eurem Gott, Ehre, bevor er finster macht und bevor eure Füße sich an Bergen der Dämmerung stoßen und ihr auf Licht wartet, und er es in Todesschatten verwandelt und zur Dunkelheit macht. Wenn ihr aber nicht hört, so wird meine Seele im Verborgenen weinen wegen eures Hochmuts” (Jer 13,16–17).

So hatte Jesus über Jerusalem geweint, denn es hatte nicht Buße getan. Der Eber hatte jetzt wieder seinen Wald verlassen, um es zu zerwühlen (Ps 80,14), und der „Verderber der Nationen” (Jer 4,7) war, wie in den Tagen des Propheten, wieder auf dem Weg. Die babylonische Gefangenschaft hatte den „Unflat der Töchter Zions” (Jes 4,4) nicht besser abgewaschen, als die Wasser zu Noahs Zeit die Erde gereinigt hatten; alles war wieder reif für ein neues Gericht. Aber wie Jeremia einst seinen Baruk hatte, den Gefährten seiner Leiden (Jer 36; 43), dem er durch das Wort Jehovas gegenwärtiges Leben zusicherte (Jer 45), und mit dem er den Kaufbrief, das sichere Beweisstück des schließlichen Erbteils, hinterlegte (Jer 32), so hatte auch Jesus jetzt Seine Heiligen, die Genossen Seiner Verwerfung, denen Er gegenwärtige Sicherheit des Lebens und die zuverlässige Verheißung künftiger Ruhe und Ehre gab.

Mit Seinen Jüngern folgen wir jetzt unserem Herrn in die Verborgenheit, nachdem wir Ihn in Seinem öffentlichen Dienst begleitet hatten. Wir sehen Ihn jetzt mit den Seinen beschäftigt, wie er ihnen als ihr Prophet die Geheimnisse Gottes mitteilt.

Wenn wir uns nun anschicken, auf Ihn als den Propheten der Kirche zu hören, so möchte ich darauf hinweisen, dass das, was der Herr uns als unser Prophet gibt, unseren gegenwärtigen Reichtum ausmacht. Es sind für uns nicht, wie einst für Israel, Segnungen des „Korbes” und des „Backtroges”, noch ist es, wie es später sein wird, die Gewalt über Städte – „wir aber haben Christi Sinn”. Schätze der Weisheit und der Erkenntnis, die in Christus verborgen sind, bilden unseren gegenwärtigen Reichtum (Kol 2,3). Nachdem Er sich nun von Israel abgewandt und Seinen Auserwählten zugewandt hat und sie als getrennt von der Welt betrachtet, macht Er sie mit allen den Dingen bekannt, die Er vom Vater gehört hat. Bald wird Er als der König der Herrlichkeit Seine Herrschaft mit den Heiligen teilen, aber jetzt teilt Er ihnen nur mit der Zunge des Belehrten die Geheimnisse Gottes mit und schenkt ihnen lediglich als ihr Prophet Reichtümer. An anderen Schätzen gemessen, mochten sie sich arm nennen, wie einer von ihnen einst sagte – und er sagte es ohne Scham, Geliebte! –: „Silber und Gold habe ich nicht.”

Unser Herr Jesus ist der Prophet wie Mose, der vor alters verheißen worden war. Gott sah Mose von Angesicht zu Angesicht, Er redete mit ihm, wie man mit seinem Freund redet, und sagte von ihm: „Mit ihm rede ich von Mund zu Mund, und deutlich und nicht in Rätseln, und das Bild des HERRN schaut er” (4. Mo 12,8). In allen diesen hohen Vorrechten war Mose das Vorbild des Sohnes Gottes. Mose hatte Zutritt zu Gott, er war mit Ihm auf dem Gipfel des Berges, außerhalb des Bereiches von Donner und Sturm, und dann in der Wolke der Herrlichkeit, als sie am Eingang des vorläufigen Zeltes der Zusammenkunft stand, und schließlich im Allerheiligsten, nachdem die Stiftshütte errichtet worden war (2. Mo 24; 33; 25, 22). Mose stand in dieser Nähe Gottes ohne Blut, obwohl selbst Aaron, wie wir wissen, nur einmal im Jahr, und nicht ohne Blut, dort sein durfte. Dieses alles redet zu uns in rührender und verständlicher Weise von der göttlichen, persönlichen Würde unseres Propheten, von der göttlichen Herrlichkeit Dessen, von dem Mose nur ein Schatten war, der im Schoß des Vaters ist und jetzt zu uns geredet hat (Heb 1,1–2).

Was Mose auf dem Berggipfel oder in der Wolke der Herrlichkeit oder von dem Gnadenstuhl im Allerheiligsten her hörte, war das Geheimnis, das der Sohn uns jetzt vom Vater gebracht hat. Mose lernte dort die Gnade Gottes kennen und sah die Herrlichkeit Seiner Güte (2. Mo 33,19). Herrliches Bild! Und der eingeborene Sohn war unter uns „voller Gnade und Wahrheit“.

Die Dienste, die uns der Herr als unser Prophet erweist, sind vielfältig, und in dieser Vielfältigkeit finden wir den besonderen Charakter des Johannesevangeliums völlig bestätigt.

Zu Beginn des Matthäus-Evangeliums offenbarte der Herr als Prophet die Gedanken Gottes bezüglich des Verhaltens Seines Volkes, indem Er das Gesetz in seinem ganzen Umfang und seiner Reinheit erklärte, den göttlichen Maßstab aufstellte und es auf das Gewissen anwandte. Er beschrieb die Stellung und die Wege der Heiligen, um sie für die Wiedergeburt und das Reich passend zu machen, indem Er die Seele in Übungen Gott gegenüber brachte hinsichtlich der wahren Zwecke und Gegenstände des Reiches (Mt 5–7). Im Johannesevangelium ist Er der Prophet in einem höheren Charakter. Er macht den „Vater” kund und offenbart die „himmlischen Dinge”. Er spricht als Der, der „in den Himmel hinaufgestiegen” ist und der „von oben” war (Joh 3,13.31). Es handelt sich nicht so sehr um unser Verhalten, sondern um die Gedanken Gottes, die Er uns mitteilt. Er spricht von den Geheimnissen des Lebens und des Gerichts. Er offenbart die Liebe des Vaters, die Werke und die Herrlichkeit des Sohnes, die Stellung und die Tätigkeiten des Heiligen Geistes in der Kirche Gottes und für sie. In unserem Evangelium ist Er der Prophet der Geheimnisse des Schoßes des Vaters, indem Er die verborgenen Wege des Heiligtums enthüllt. Er spricht als das Wort, das bei Gott war und das Gott war, und schenkt uns eine Erkenntnis, die für den Wandel auf dieser Erde in Gerechtigkeit und für den Dienst allein nicht nötig gewesen wäre, die uns aber zu nichts weniger als zu „Freunden” macht (Joh 15,15), und durch die Erkenntnis schenkt Er uns Gemeinschaft mit den Wegen des „Vaters der Herrlichkeit” (Eph 1,17).

Die Ausübung des prophetischen Dienstes unseres Herrn ist also sehr vielfältig und, wie ich glaube, besonders vielseitig in unserem Evangelium, wodurch es höchst kostbar für die Heiligen wird. Und wenn die Sammlung der Kirche am gegenwärtigen „Tag des Heils” beendet sein wird und alle hingelangt sein werden zu der „Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zu dem erwachsenen Mann”, werden wir den Herrn als unseren Propheten nicht verlieren, sondern wir werden Ihn als solchen sogar noch im Reich hören. Seine Unterweisungen werden uns ewig erquicken. Salomo war zugleich Prophet, Priester und König. Seine Diener standen beständig vor ihm, und alle Könige der Erde kamen und suchten seine Gegenwart auf, um ihn zu hören. Die Königin von Scheba kam, um ihn mit schweren Fragen zu versuchen, und er antwortete ihr auf all ihr Begehr. Als sie alles sah, die Herrlichkeit des Königs, des Priesters Aufgang zum Haus Gottes, und die Weisheit des Propheten hörte, geriet sie außer sich. Das war mehr als nur die Aufwallung ihres Herzens, denn nicht die Hälfte hatte man ihr berichtet. So werden auch wir dieses alles im kommenden Reich genießen; unsere Augen werden mit Herrlichkeit erfüllt, unsere Herzen völlig befriedigt und unsere Gedanken werden mit den Schätzen der Weisheit unseres göttlichen Propheten beschäftigt sein. Und vor allem werden unsere Ohren den ewigen Widerhall Seines Lobes vernehmen.

Aber lassen wir uns alle, Schreiber und Leser, ermahnen und fürchten wir uns, nur unseren Verstand zu bemühen, wenn wir den Worten unseres Propheten lauschen, das heißt, wenn wir die Schriften lesen. Der Geist ist ein vollkommener Lehrer, ein „fertiger Schreiber”, und wenn auch das Licht des Geistes bisweilen nur trüb durch unsere Finsternis hindurchscheinen mag, so wird es sich doch mit mehr oder weniger großer Gewissheit offenbaren. Lasst uns daran denken, dass es ein Licht des Tempels ist, ein Licht, das dem Heiligtum entspricht! Der Leuchter stand an heiliger Stätte. Das Verständnis, das durch den Heiligen Geist in der Seele wachgerufen wird, ist begleitet vom Geist der Demut und der Gemeinschaft. Das Licht ist auch heute noch ein Licht des Heiligtums.

Ich habe schon auf die Verschiedenartigkeit der Ausübung des prophetischen Dienstes unseres Herrn in den Evangelien nach Matthäus und Johannes hingewiesen. Dieselben charakteristischen Unterschiede zeigen sich auch bei beiden Evangelisten, nachdem Sein öffentlicher Dienst beendet ist, in den Unterhaltungen mit Seinen Auserwählten. Im Matthäus-Evangelium spricht Er zu Seinen Jüngern auf dem Ölberg über jüdische Dinge (Mt 24; 25), während Er die Jünger im Johannesevangelium im Geist in den Himmel führt, um ihnen dort das Heiligtum zu öffnen und zu ihnen von den himmlischen Geheimnissen zu reden (Joh 13–17). Der Herr nimmt Seinen Platz nicht auf dem Ölberg ein, um ihnen von den Nöten und der endlichen Ruhe des Überrestes Israels zu erzählen, sondern gleichsam im Himmel, um Seinen Heiligen Seine dortige Tätigkeit als Hoherpriester und ihre, das heißt der Kirche Gottes, besonderen Nöte und Segnungen während der Zeit dieses himmlischen Priestertums zu offenbaren. Das himmlische Priestertum ist der große Gegenstand dieser Kapitel, worauf ich nun im Einzelnen etwas näher eingehen möchte. Diese Kapitel bilden einen besonderen Abschnitt unseres Evangeliums, doch möchte ich ihn in verschiedenen Teilen betrachten, wie ihr Inhalt sie mir anzudeuten scheint.

Kapitel 13. Die Handlung des Herrn gleich am Anfang, das Waschen der Füße Seiner Jünger, ist die Darstellung einer wichtigen Funktion Seines himmlischen Dienstes.

Das Waschen der Füße gehörte zu den Pflichten der Gastfreundschaft, und der Herr tadelte deren Unterlassung bei Seinem Gastgeber in Lukas 7 (Vgl. 1. Tim 5,10). Die Fußwaschung vermittelte dem Gast, möchte ich sagen, zwei Wohltaten: sie reinigte den Wanderer vom Schmutz der Reise und erfrischte ihn nach der Ermüdung des Weges. Abraham, Lot, Laban, Joseph und der alte Mann von Gibea ragen aus denen heraus, die dieser Pflicht nachkamen (1. Mo 18; 19; 24; 43; Ri 19). Der Sohn Gottes wollte Seinen Auserwählten, wenn Er sie sozusagen im himmlischen Haus empfing, das völlige Gefühl ihrer Annehmlichkeit und Tauglichkeit geben, damit sie ihren Platz in glücklichem Vertrauen in irgendeinem Teil jenes königlichen Heiligtums einnehmen konnten. Es war wirklich ein Heiligtum, aber das Waschen machte sie für diesen Platz passend. Der Sohn Gottes erfüllte an den Jüngern die Aufgabe und den Dienst, den das eherne Waschbecken in der Stiftshütte für die Priester, die Söhne Aarons, hatte (2. Mo 30). Er selbst übernahm es, sie für die göttliche Gegenwart passend zu machen. In einem wohlgeordneten Haushalt ist es üblich, dass sich die Diener selbst rein erhalten oder das Haus verlassen. Aber die Gnade des Sohnes Gottes, des Herrn des himmlischen Hauses, ist so groß, dass Er selbst die Aufgabe übernimmt, den Haushalt in priesterlicher Heiligkeit und Würde zu bewahren.

Unergründliches Wunder, göttliches Geheimnis! Alles was wir benötigen, ist der Geist einfältigen, bedingungslosen Glaubens, der in der Wahrheit solcher unübertrefflichen Gnade ruht.

Aber Seinen Dienst für uns im Heiligtum als der Hohepriester unseres Bekenntnisses und das Reinigen unserer Füße als das wahre Waschbecken im Haus Gottes begann Jesus erst, als Seine Leiden auf der Erde vollendet waren und Er in den Himmel aufgefahren war. So lesen wir hier, dass Er erst nach dem Abendessen ein leinenes Tuch nahm und sich umgürtete, um die Füße der Jünger zu waschen. Das Abendmahl war die Darstellung Seines Leidens und Todes, wie Er gesagt hatte: „Nehmt, esst; dies ist mein Leib.” Dementsprechend scheint es so, als gehe Er durch die ganze sinnbildliche Szene in dem Bewusstsein hindurch, dass Seine Leiden beendet sind und Er bereits aufgefahren ist; Er blickt nun sozusagen auf Seine Heiligen zurück. Denn diese Szene wird eingeleitet durch die Worte: „Da er die Seinen, die in der Welt waren, geliebt hatte ...”, die den Gedanken andeuten, dass von den Seinen noch etliche in der Welt waren, als Er sie verließ, um in den Himmel zu gehen. In diesem Sinn gürtet Er sich als der gnadenreiche Diener ihrer Bedürfnisse und Schwachheiten, obwohl wieder in und mit dem Vater verherrlicht, mit einem leinenen Tuch und wäscht ihre Füße. Er ließ sie wissen, dass Er im himmlischen Heiligtum weilte, gerade um ihnen ständig die „Heiligkeit” zu verleihen, die Er immer als ihr Hoherpriester für sie auf Seiner Stirn vor dem Thron Gottes trug (2. Mo 28,36–38) 1.

So gibt es einen Unterschied zwischen der sinnbildlichen Bedeutung des Abendmahls und der darauf folgenden Fußwaschung; es ist der gleiche Unterschied, der zwischen dem Versöhnungstag und der Asche der roten Kuh unter dem Gesetz bestand. Der Versöhnungstag stellt, wie das Abendmahl, die Kraft des Blutes Christi dar, die Asche der roten Kuh dagegen, wie die Fußwaschung, die Kraft Seiner Fürbitte. Den Versöhnungstag gab es nur einmal im jüdischen Jahr, einen großen alljährlichen Tag der Versöhnung, an dem die Sünden Israels ein für allemal hinweggetan wurden. Die Asche der roten Kuh war jedoch für die täglichen Vergehungen vorgesehen, für alle gelegentlichen Befleckungen, die irgendein Israelit sich während seines Wandels das Jahr hindurch zugezogen haben mochte. So ist es auch mit dem Blutvergießen, das zuerst erfolgen musste, und der priesterlichen Fürbitte Christi danach, wie es an einer Stelle heißt: „Denn wenn wir, da wir Feinde waren, mit Gott versöhnt wurden durch den Tod seines Sohnes, so werden wir viel mehr, da wir versöhnt sind, durch sein Leben gerettet werden” (Röm 5,10).

Wir haben dieselben Segnungen in der gleichen Reihenfolge in anderer Form. Das Passahlamm erlöste Israel einmal und für immer aus Ägypten. Aber die Fürbitte Moses in der Wüste war es, die den Zorn Gottes über die gelegentlichen Vergehungen des Lagers abwendete. So entsprach das Blut Jesu, unseres Passah, dem Abendmahl und die Fürbitte Jesu, unseres Mittlers, der Fußwaschung; dem Tod hier auf der Erde folgt für uns das Leben im Himmel. Wer einmal im Blut gewaschen ist, hat nicht nötig, sich zu waschen, ausgenommen seine Füße. Und das Waschen der Füße, die Beseitigung des Schmutzes, den der Gläubige auf seinem Weg über diese Erde Tag für Tag ansammelt, vollführt der Hohepriester, der für ihn im Himmel ist, dort durch Seine Gegenwart und Fürbitte. Er ist der Mittler des neuen Bundes, und Sein Blut ist das Blut jenes neuen Bundes.

Da die Liebe des Sohnes Gottes zur Kirche von Ewigkeit her war, so muss sie auch bis in Ewigkeit sein, wie hier gesagt wird: „Da er die Seinen, die in der Welt waren, geliebt hatte, liebte er sie bis ans Ende”. Jedes Zeitalter und jeder Schauplatz musste die gleiche Liebe in irgendeinem Dienst und in ihrer beständigen Kraft und Wahrheit bestätigen; kein Wandel der Zeiten konnte sie je verändern. In der Dunkelheit der Welt und in den Herrlichkeiten des Himmels ist sie in Seinem Herzen stets dieselbe; weder Kummer noch Freude, weder Leiden noch Herrlichkeiten konnten sie auch nur für einen Augenblick beeinflussen. Sein Tod auf dieser Erde und Sein Leben im Himmel verkünden sie gleichermaßen; ja, noch mehr, Er hatte der Kirche in Seiner Liebe gedient, bevor die Welt war, als Er sprach: „Siehe, ich komme”, und in dem Reich nach dieser Zeit wird Er ihr noch in gleicher Weise dienen, wenn Er Seine Heiligen sich zu Tisch legen lässt und sie zu ihrer Freude bedient (Lk 12,37). So war der Herr in Seinem unaufhörlichen Dienst der Liebe gegenüber Seinen Heiligen, so ist Er jetzt, und so wird Er sein in alle Ewigkeit. Aber Er fordert sie auf, Seine Nachahmer zu sein. „Wenn nun ich, der Herr und der Lehrer, euch die Füße gewaschen habe, so seid auch ihr schuldig, einander die Füße zu waschen.” Er erwartet, bei uns auf der Erde ein Abbild dessen zu sehen, was Er für uns im Himmel tut. Er wäscht täglich unsere Füße, trägt unsere Nöte und begegnet unseren Verfehlungen vor dem Thron, und Er wünscht, dass auch wir einander täglich die Füße waschen, einer des anderen Schwachheiten tragen und uns hier gegenseitig, auf dem „Schemel seiner Füße”, zur Freude und Ermunterung dienen.

Sowohl diese Handlung des Herrn als auch Seine daran anknüpfende Belehrung war gewissermaßen, wie bei Mose, ein Hinaufnehmen der Kirche auf den Berg, um ihr das Muster zu zeigen, nach dem die Dinge auf der Erde gehandhabt werden sollten. Mose stand damals über dem Gesetz, außerhalb des Bereiches von Feuer und Sturm. Genauso ist es hier mit der Kirche. Die Jünger werden im Geist ins himmlische Heiligtum gerufen, wo ihnen die Art und Weise des Hohenpriesters in Seiner täglichen Liebe und Sorge für sie gezeigt wird. Dann werden sie aufgefordert, hinabzugehen und desgleichen zu tun. Zu Mose war gesagt worden: „Siehe zu, dass du sie nach dem Muster machst, welches dir auf dem Berg gezeigt worden ist.” Die Zeit für Mose, auf dem Berge zu bleiben, war noch nicht gekommen; er war dort gleichsam nur zu Besuch, um das Muster zu sehen und die Vorschriften zu empfangen. Nicht anders ist es hier. Die Kirche war noch nicht für die Herrlichkeit und das Haus des Vaters bereitet. „Wo ich hingehe, könnt ihr nicht hinkommen”, sagt der Herr zu den Jüngern, aber Er verheißt ihnen, dass sie später folgen sollten. Im Augenblick sollten sie nur das Muster auf dem Berg schauen, um es auf der Erde nachzuahmen. Liebe allein kann die Nachbildung gestalten, denn die Liebe ist der Urheber des Originals im Himmel, und der Herr sagt ihnen: „Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.” Entspricht nicht jene Geschicklichkeit einst, „in Gold und in Silber und in Erz zu arbeiten”, unserer Fähigkeit, „in Liebe zu wandeln”? Der freundliche Gedanke im Herzen gegen einen Bruder, die Kraft des Geistes, in Liebe zu tragen und Geduld zu üben, das Ausharren der Seele im Mitgefühl, die Abweisung oder Unterdrückung irgendwelcher harten oder selbstsüchtigen Regungen des Gemüts, alles das ist das Abbild des himmlischen Musters. Nur als „geliebte Kinder” können wir „Nachahmer Gottes” sein (Eph 5,1). Welch eine Ermunterung ist das. Wenn der Herr das Zeugnis Seines eigenen Tuns im Himmel auf der Erde sichtbar werden lassen will, ermahnt Er uns, einander zu lieben und einander die Füße zu waschen. Welch ein Bild von Ihm, wenngleich noch innerhalb des Vorhangs! Die Art der täglichen Beschäftigung unseres Priesters in Seinem Heiligtum droben wird uns hier in lieblicher Weise vorgestellt.

Geliebte, ich möchte mich selbst und euch ermahnen, mehr in diesen Zeugnissen für den Herrn zu wandeln, als wir es tun, denn das erhöht unsere Zuversicht vor dem Herrn und unsere eigene Freude untereinander. Wenn unsere Wege beständige, unerschütterliche Pfade der Liebe wären, würden wir immer in diesen Vorbildern und Abbildern Christi wandeln, und wir würden die Gedanken des Herrn in ihrer ganzen Güte und Beständigkeit stets vor unseren Blicken haben. Welche Freude und Zuversicht würde uns das verleihen! Kein Misstrauen in Seine Liebe, keine Wolken des Zweifels und der Furcht würden sich auf unsere Seele legen, sondern wir würden Ihn mit unseren Ohren hören, mit unseren Augen sehen und mit unseren Händen betasten, und alles, was wir in dieser Gesinnung aneinander täten, wäre ein Zeugnis und ein Ausdruck Seiner Liebe. Das wäre in der Tat ein glückseliges Wohnen „im Haus des HERRN” und ein gesegnetes Anschauen „der Lieblichkeit des HERRN”. Aber das arme menschliche Herz ist für die Entfaltung einer solchen Liebe nicht zubereitet, und Petrus gibt dieser allgemeinen Unwissenheit Ausdruck. Er versteht noch nicht die Verbindung zwischen Herrlichkeit und Dienst, sondern er folgt seinen menschlichen Gedanken, wenn er sagt: „Niemals sollst Du mir die Füße waschen!” Petrus sollte dies aber bald verstehen lernen, wie der Herr ihm sagt, denn Petrus und sein Herr waren eins. Nur Judas musste hinausgetan werden. „Ich rede nicht von euch allen”, sagt der Herr. Die Anwesenheit des Verräters in der Mitte der Jünger während dieses feierlichen Augenblicks war nötig, damit die Schrift erfüllt würde: „Der mit mir das Brot isst, hat seine Ferse gegen mich erhoben.” Judas musste den Bissen aus der Hand des Herrn selbst empfangen, das Pfand der Liebe musste gegeben und verachtet werden, ehe Satan in ihn fahren konnte. Die Zurückweisung der Liebe lässt die Sünde des Menschen ausreifen, wie hier die Sünde des Judas vollendet wurde, als er bei diesem auffallenden Zeichen der Freundlichkeit von der Hand des Herrn unbewegt blieb. Satan fuhr in ihn. Satans Besitzergreifen von Judas wird erst erwähnt, als Judas den Bissen genommen hatte, wie auch der Mensch in unserer Haushaltung die Liebe verachtet und dadurch das Maß seiner Sünden vollgemacht hat. Deshalb sagt der Herr später: „Wenn ich nicht die Werke unter ihnen getan hätte, die kein anderer getan hat, so hätten sie keine Sünde” (Joh 15,24). Aber nachdem der Mensch die Liebe des Evangeliums missachtet hat, ging er seinen Weg, wie auch Judas hier, nachdem er den Bissen empfangen hatte, hinausging, um Den zu verraten, der ihn ihm gegeben hatte. Unser Evangelist fügt hinzu: „Es war aber Nacht.” Welche ernsten Worte! Nacht im Menschen und Nacht für Jesus.

Aber der Herr blickt sofort über diese Nacht hinaus, denn so dunkel sie auch für Ihn werden sollte, sollte sie sich doch in hellen Tag verwandeln. Jesus würde alsbald in Gott verherrlicht werden, denn Gott war verherrlicht in Ihm, dem einzigen Sohn des Menschen, in dem Er stets verherrlicht worden war. Er hatte die Natur ohne Flecken bewahrt und stand jetzt im Begriff, sie Gott als eine Garbe unbefleckter menschlicher Frucht, passend für Gottes Scheune, darzubringen. Der Mensch in Jesus war verherrlicht worden, denn alles was aus Ihm hervorkam, was von Ihm ausging, war in Übereinstimmung mit Gott. Kein Flecken beschmutzte diese sittliche Schönheit; der Mensch in Jesus hatte die Herrlichkeit Gottes erreicht (Vgl. Röm 3,23). Gott, der auf diese Weise in Ihm verherrlicht wurde, wollte Ihn deshalb in sich selbst verherrlichen. Bei allen, die Ihn umgaben, war es anders. Jesus konnte kraft dieser sittlichen Herrlichkeit sofort zu Gott gehen, aber das wäre für andere ohne Nutzen gewesen. Denn weder Gläubige noch Ungläubige, weder ein Petrus noch die Pharisäer konnten in Gottes Nähe sein. Der Platz bei Gott musste vorbereitet werden, ehe die Heiligen dorthin versammelt werden konnten (Joh 14,1). Deshalb sagt der Herr zu den Jüngern: „Ihr werdet mich suchen, und wie ich den Juden sagte: Wo ich hingehe, könnt ihr nicht hinkommen, so sage ich jetzt auch euch.”

Jesus nimmt hier den Tag Seiner eigenen Herrlichkeit in Gott vorweg, wenn Er sofort nach dem Weggang des Verräters sagt: ”Jetzt ist der Sohn des Menschen verherrlicht” 2. Bald, wenn der Sohn des Menschen alle Ärgernisse und alle, die die Gesetzlosigkeit tun, aus Seinem Reich hinausgetan haben wird, wird es für die Entfaltung der Herrlichkeit Raum geben. Wenn dann der Verräter wiederum hinausgehen wird, wird sich die Herrlichkeit offenbaren, und die Gerechten werden leuchten wie die Sonne im Reich ihres Vaters. Die Tenne ist dann gereinigt, und die Garben der Herrlichkeit werden in die Scheune gebracht werden.

Fußnoten

  • 1 Das Abendmahl wird in diesem Evangelium, außer in einer Anspielung, nicht erwähnt. Das steht in schöner Übereinstimmung mit dem allgemeinen Charakter des Johannesevangeliums. Ist es doch das Evangelium des Sohnes und nicht das der Erniedrigung Jesu. Deshalb sehen wir den Herrn in diesem Kapitel in Seinem Priestertum, aber nicht in Seinen Leiden wie beim Abendmahl.
  • 2 Ich möchte noch auf die Sicherheit des Herzens hinweisen, die uns das Bewusstsein der Liebe zu allen Zeiten verleiht. Petrus und Johannes sind keineswegs beunruhigt über die ernste Anspielung des Herrn auf den Verräter. Sie beraten untereinander, um den Sinn dieser Andeutung zu ergründen und zu erfahren, wer diese Sache tun würde. Geliebte, könnten unsere Herzen vor dem erforschenden Weitblick des Geistes des Gerichts so ruhig sein? Bewusste Liebe ist „getrost wie ein junger Löwe“.
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