Antworten auf Fragen in Römer 11

Eine Frage wird gestellt

Das 11. Kapitel des Römerbriefes ist vielleicht das am wenigsten eingehend erforschte Kapitel dieses herrlichen Briefes, der unsere Erlösung zum Gegenstand hat. In diesem Kapitel werden nicht nur sehr lehrreiche Wahrheiten dargestellt, sondern es ist von ganz besonderer Bedeutung und stellt hochwichtige Tatsachen vor uns. Hier eröffnet der Heilige Geist die Ratschlüsse Gottes in Bezug auf das jüdische Volk. Die Kenntnis der Stellung, die Gott Israel zugedacht und uns offenbart hat, ist von unschätzbarer Wichtigkeit. All die Verwirrung in Lehre und Betätigung, die wir um uns her sehen, ist mehr oder weniger die Folge einer beklagenswerten Unwissenheit, die über die Stellung und die Zukunft Israels in der Christenheit vorherrscht. Die Wirkung dieser Unwissenheit ist die Entgeistlichung der bekennenden Kirche. Die ganze Christenheit beschäftigt sich mit Israels irdischer Berufung, täuscht sich jedoch dabei nicht nur ganz bedenklich, sondern verunehrt auch Gott und sein Wort.

Wenn wir es unternehmen wollten, der in der bekennenden Kirche bestehenden Verwirrung nachzugehen, um sie zu beseitigen, so müssten wir zweifellos damit anfangen, Gottes Ratschlüsse betreffs Israel darzulegen.

Zuerst wollen wir in Betracht ziehen, in welchem Teil des Römerbriefes sich das Kapitel befindet, das die Judenfrage behandelt.

Der Römerbrief lässt sich in drei Teile zerlegen. Der erste Abschnitt reicht vom 1. bis zum 8. Kapitel, der zweite umfasst Kapitel 9, 10 und 11 und der letzte die Kapitel 12 bis 16. Als Überschrift für den ersten Teil wählen wir das Wort: „Erlösung“, für den zweiten Teil: „Verwaltung“ und für den dritten: „Ermahnung“.

Das ist die Art, wie Gott uns seine Wahrheit mitteilt. Zunächst zeigt Er uns, was Er in seinem Sohn, dem Herrn Jesus Christus, für uns getan hat; wie reich und voll Er seine Gnade allen erzeigt, die da glauben, Juden und Nationen. Danach macht Er uns mit der Verwaltung bekannt, nämlich, wie Er als Herrscher waltet; wie Er gegen Juden und Nationen handelt. Hier zieht Er sozusagen sein Kind ins Vertrauen, weil Er es zu einem Sohn und Erben gemacht hat, und weiht es nun ein in die Wahrheiten seiner Regierungswege und in die zukünftige Verwaltung der Erde. Nachdem Er uns damit hat erkennen lassen, was Er für uns getan und was Er aus uns gemacht hat, spricht Er noch einmal zu uns, um uns zu zeigen, welches unser Wandel sein sollte. Das ist die Ermahnung: der dritte Teil. Stellen wir diese Reihenfolge: Erlösung, Verwaltung und Ermahnung um oder lassen wir eines dieser drei Dinge aus, so muss Verwirrung die Folge sein.

Unser Kapitel ist also im zweiten Teil enthalten, dessen Überschrift „Verwaltung“ ist, jener großen Einschaltung, in der der Heilige Geist die Wege der Gerechtigkeit und der Gnade Gottes zeigt. Haben wir als Abschluss des ersten Teiles unseres Briefes – der von der Erlösung handelt – das 8. Kapitel, in dem der Inhalt der vorhergehenden Kapitel noch einmal zusammengefasst ist, so ist das Kapitel, das uns gegenwärtig beschäftigen soll, in ähnlicher Weise der Höhepunkt des zweiten Teiles. Es führt nicht nur die Juden ein, sondern auch die Nationen und zu einem gewissen Grad auch die Kirche Gottes. Anhand dieses Kapitels können wir die gesamte Geschichte Israels überblicken; gleichzeitig aber wird uns der Schlüssel zu Israels gegenwärtiger Verfassung gegeben und uns überdies der Blick in die Zukunft dieses Volkes geöffnet, so dass wir erfahren, was Gott in Erfüllung seiner eidbekräftigten Bündnisse noch tun wird.

Es liegt jedoch noch ein besonderer Grund vor, aus dem der Heilige Geist dem Römerbrief die drei Kapitel, die dessen zweiten Teil bilden, eingefügt hat.

Im ersten Teil – den ersten 8 Kapiteln – zeigt der Geist Gottes, dass Juden und Nationen keine Gerechtigkeit besitzen und verloren sind und dass da keiner ist, der Gutes tut, auch nicht einer (Röm 3,12). Dann offenbart Gott seine Gerechtigkeit und seine Erlösung für Juden und Nationen aus Glauben. Ein älterer Gläubiger sprach sich folgendermaßen über die drei großen Lehren aus, die er während seiner Laufbahn als Christ gelernt hatte: „Erstens habe ich gelernt, dass ich nie etwas Gutes getan habe in meinem Leben; zweitens, dass ich nie etwas Gutes tun konnte, und drittens, dass Christus alles getan hat.“ Eben dies ist die Lehre, die im ersten Teil des Römerbriefes erkennbar ist.

Nachdem nun die Schuld und der verlorene Zustand der Juden wie der Nationen völlig dargestellt sind, werden die Juden zunächst außer Acht gelassen. In der gegenwärtigen Haushaltung der Gnade handelt Gott in gleicher Weise mit den Gläubigen aus Juden und Nationen; es ist kein Unterschied. Der Gläubige aus den Juden wie der aus den Nationen ist unter der Gnade; er ist verbunden mit dem zweiten Menschen und im Besitz jeder geistlichen Segnung in Christus Jesus; er ist ein Sohn und Erbe, bestimmt zur Gleichförmigkeit mit dem Erstgeborenen aus den Toten.

Jetzt aber kommt ein Einwand von Seiten des Juden. Im Römerbrief werden oft Fragen gestellt. Hier nun stellt der Jude eine Frage, nachdem er alles gehört hat über diese Erlösung aus Gnade, die für ihn wie auch für die Nationen vorhanden ist und ebenso alles, was diese Erlösung mit sich bringt.

Diese Frage lautet folgendermaßen: „Was wird aus den unserem Volk gegebenen Verheißungen und Segnungen? Gott hat uns als Volk so vieles verheißen, und das alles ist noch unerfüllt; wird Er sein Wort halten?“ Oder mit anderen Worten: „Soll Gottes Verhalten den Nationen gegenüber bedeuten, dass Er jenen seine Gnade zugewandt, unser Volk aber nun völlig und endgültig verworfen hat, und sollen die vielen in den Aussprüchen Gottes enthaltenen Verheißungen nie erfüllt werden?“

Diese Frage wird im zweiten Teil des Römerbriefes beantwortet. Der Heilige Geist führt darin aus, wie gerecht und gnadenvoll Gott sich den Juden und den Nationen gegenüber verhält, und in kostbarer Weise wird am Ende dieses Abschnitts, eben in unserem Kapitel, erwiesen, dass Gott sein Volk nicht verstoßen hat (Röm 11,2); die Zeit ihrer Vollzahl und ihrer Annahme wird kommen, und ganz Israel wird errettet werden (Röm 11,25.26).

Der Aufbau des Kapitels ist sehr einfach. Am Schluss des vorhergehenden Kapitels heißt es: „Jesaja aber erkühnt sich und spricht: ‚Ich bin gefunden worden von denen, die mich nicht suchten, ich bin offenbar geworden denen, die nicht nach mir fragten‘„ (Röm 10,20). Von Israel aber sagt Er: „Den ganzen Tag habe ich meine Hände ausgestreckt zu einem ungehorsamen und widersprechenden Volk“ (Röm 10,21). Diese Stelle wird aus Jesaja 65,1 und 2 angeführt, wo die Berufung der Nationen ebenso deutlich vorausgesagt wird wie Gottes Verhalten seinem Volk Israel gegenüber. Wenn nun Gott von jenen (den Nationen) gefunden worden ist und sich denen offenbart hat, die nicht nach Ihm fragten und wenn sein Volk seine nach ihm ausgebreiteten Hände nicht ergriffen hat: kann man dann nicht mit Recht sagen, dass Er sein Volk verstoßen hat? Das 11. Kapitel stellt daher die Frage: „Hat Gott etwa sein Volk verstoßen?“ (Röm 11,1). Diese Frage gibt dem ganzen Kapitel die Überschrift. Bis zum 27. Vers desselben gibt der Heilige Geist 7 Antworten und ebenso viele Beweise dafür, dass Israel, sein Volk, nicht endgültig oder völlig verstoßen ist. Nachdem diese Tatsache festgestellt ist, kommt in den Versen 28 bis 36, entsprechend dem Schluss des belehrenden Teiles des Briefes im 8. Kapitel, auch hier ein großer und erhabener Abschluss. Diese 7 Antworten und Beweise werden wir nun in unseren weiteren Ausführungen der Reihe nach betrachten. Es sind

  1. Die Bekehrung Saulus' von Tarsus (Vers 1).
  2. Es ist ein Überrest nach Wahl der Gnade vorhanden, folglich ist Israel nicht völlig verstoßen (Vers 2–6).
  3. Israels Verstockung ist nur eine teilweise und bedeutet ein Strafgericht. Sie ist weder eine völlige noch eine endgültige. Diese Tatsache geht aus der Schrift hervor (Vers 7–10).
  4. Durch ihren Fall ist den Nationen das Heil geworden, und Gott will sie dadurch zur Eifersucht reizen (Vers 11).
  5. Die Vollzahl und Annahme Israels, die verheißen sind, werden der Welt größeren Reichtum bringen, nämlich Leben aus den Toten (Vers 11–15).
  6. das Gleichnis vom Ölbaum (Vers 16–24).
  7. das offenbarte Geheimnis (Vers 25–27).

Betrachten wir zunächst sie Frage und ihre Beantwortung. Die letztere heißt wörtlich: „Fern sei der Gedanke.“ „Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das Er zuvor erkannt hat.“ Es versteht sich, dass die Frage in Bezug auf die Verstoßung Israels1) nicht den Einzelnen betrifft, sondern das Volk. Gott hat sein Volk zuvor erkannt, und Er hat es dazu bestimmt, einen besonderen und wichtigen Platz in der Regierung der Erde einzunehmen. Gott hat das Volk dazu berufen, Sein Eigentum zu sein aus allen Völkern, ein Königreich von Priestern und eine heilige Nation, ein Volk, das Er sich zubereitet hat, um seinen Ruhm zu verkündigen (2. Mose 19). Die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar. Immer wieder erklärt Gott in seinem Wort, dass Israel nicht aufhören wird, eine Nation zu sein vor Ihm, und dass es einmal als ein Volk auf der Erde das sein wird, wozu Er es berufen hat. „So spricht der HERR, der die Sonne gesetzt hat zum Licht bei Tag, die Ordnungen des Mondes und der Sterne zum Licht bei Nacht, der das Meer aufwühlt, und seine Wogen brausen, HERR der Heerscharen ist sein Name: Wenn diese Ordnungen vor meinem Angesicht weichen werden, spricht der HERR, so soll auch die Nachkommenschaft Israels aufhören, eine Nation zu sein vor meinem Angesicht alle Tage. So spricht der HERR: Wenn die Himmel oben gemessen und die Grundfesten der Erde unten erforscht werden können, so will ich auch alle Nachkommen Israels verwerfen wegen all dessen, was sie getan haben, spricht der HERR (Jer 31,35–37). „Denn ich bin mit dir, spricht der HERR, um dich zu retten. Denn ich werde allen Nationen, wohin ich dich zerstreut habe, den Garaus machen; nur dir werde ich nicht den Garaus machen, sondern dich nach Gebühr züchtigen und dich keineswegs ungestraft lassen“ (Jer 30,11). Zahlreiche weitere Stellen könnten angeführt werden, in denen Gott seinem Volk versichert, dass Er es niemals für immer verlassen werde. Israels Vergangenheit ist der geschichtliche Beweis dafür, wieder und wieder ist Israel, Gottes erstgeborener Sohn (2. Mose 4,22), ungehorsam gewesen, ein halsstarriges Volk. Es wurde bestraft und in die Gefangenschaft geführt; seine Stadt wurde geplündert und verwüstet, sein Tempel verbrannt und sein Land wüst gelassen, und doch umgab Gottes unendliche Gnade das Volk und das Land, und niemals hat Er gesagt, dass Er es verstoßen habe.

Ein Teil des Volkes, die Juden, hat seinen Messias und König, der in das Seine gekommen war (Joh 1,11), verworfen, sie riefen ihr schreckliches: „Hinweg hinweg!“ „Kreuzige Ihn!“ (Joh 19,15). „Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder!“ (Mt 27,25). Dennoch stieg von jenem Kreuz die wunderbare Bitte auf: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lk 23,34). Wiederum wurden die Ehrerbietungen der Gnade von der Nation verschmäht; diejenigen aus dem Volk, die geglaubt hatten, wurden mit Erbitterung verfolgt, einige von ihnen von ihren ungläubigen Brüdern ermordet, und doch schreibt über das alles der Geist Gottes die Versicherung: „Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das Er zuvor erkannt hat.“ Auch der zweite Tempel war in Trümmer gelegt, die Nation war ihrer Freiheit und ihres Besitzes beraubt und bis an die Enden der Erde zerstreut. Die traurigste Verbannung begann und mit ihr Prüfungen und Leiden, wie sie bis dahin in ihrer Geschichte unbekannt gewesen waren; aber selbst über diese große Zerstreuung und all die schrecklichen Dinge, die sie erlebt, hat der Geist Gottes die Worte geschrieben: „Gott hat Sein Volk nicht verstoßen, das Er zuvor erkannt hat.“

Wie andersartig und wie seltsam ist doch die Antwort, die die Christenheit gibt, wenn der Jude die Frage betreffs der Zukunft seines Volkes, betreffs der Segens- und Herrlichkeitsverheißungen an sie richtet; oder wenn er die Schriften der großen Bibelausleger nachschlägt, so findet er Lehren, die den klaren nationalen Verheißungen, die seinem Volk noch immer gehören, geradezu entgegengesetzt lauten. Da wird ihm gesagt, Gott habe es verstoßen und es habe nichts mehr zu erwarten. Er erfährt, die Kirche sei Israel, und alle Verheißungen, die dem eigentlichen Israel gegeben waren, finden nun eine geistige Erfüllung in der Kirche. Aber der verständige, strenggläubige Hebräer weigert sich, diese vergeistigende Methode der Auslegung anzunehmen; auch findet er keineswegs, dass die seinem Volk gegebenen Verheißungen und Herrlichkeiten in der Kirche in geistiger Beziehung erfüllt worden sind. Wäre diese falsche und verwirrende Auslegung des Wortes Gottes, bei der zwischen Israel und der Kirche nicht unterschieden wird, wirklich wahr, und hätte Gott tatsächlich Israel völlig und für immer verstoßen, dann müssten wir sicherlich den Glauben an eine inspirierte Bibel aufgeben. Dann hätten die Bibelkritiker recht mit ihrer Behauptung, die jüdischen Propheten seien Patrioten und Träumer und nicht göttlich inspiriert gewesen. Dann wären ferner die Gnadengaben und die Berufung Gottes nicht unbereubar; Gott hätte sein Wort zurückgenommen, und die Folge davon wäre, dass wir Sünder aus den Nationen keine Heilsgewissheit haben könnten. Denn wer gibt uns eine Gewähr dafür, dass Gott wirklich meint, was Er über uns gesagt hat, wenn Er Israel verstoßen hat und seine Verheißungen nicht wahrmacht? Wird Er nicht das Gleiche mit uns tun? Wir verstehen jetzt, dass die in Römer 11 gestellte Frage von außerordentlicher Tragweite ist.

Fußnoten

  • 1 Wir nehmen als selbstverständlich an, dass alle unsere Leser glauben, dass hier von Israel, dem alten Volk Gottes, dem natürlichen Samen Abrahams, die Rede ist. Wir verstehen nicht, wie man sagen kann, in diesem Kapitel werde von einem geistigen Israel gesprochen, und es handle sich um die Kirche (d. h. Versammlung, Gemeinde).
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