"Siehe, Mein Knecht"

Kapitel 2 - Der Dienst des Herrn

In dem vorangegangenen Teil des Evangeliums haben wir den vollkommenen Diener gesehen. In diesem neuen Abschnitt wird uns die Vollkommenheit seines Dienstes vor Augen geführt, sowie der Glaube, der daraus Nutzen zieht, und auch der Widerstand, den er hervorruft. Es ist unser Vorrecht zu sehen, dass der Dienst des Herrn durch Gerechtigkeit und Gnade gekennzeichnet ist – Gerechtigkeit, die die Frage der Sünden erhebt (V. 1–12), und Gnade, die den Sünder segnet (V. 13–17). Ein solcher Dienst ruft sofort den Widerstand der Menschen auf den Plan; denn Gerechtigkeit, welche die Frage der Sünden aufwirft, beunruhigt das Gewissen, und Gnade, die den Sünder segnet, erregt den Anstoss des religiösen Stolzes.

Markus 2,1.2. Wir haben den Herrn und seine Jünger schon einmal in Kapernaum gesehen. Jetzt geht Er wieder in diese bevorzugte Stadt hinein, wo eine Volksmenge sich zusammenfindet, der der Herr das Wort verkündigt. Es sah tatsächlich so aus, als ob die Seelen verlangt hätten, die Wahrheit zu hören. Aber leider muss der Herr etwas später sagen: «Und du, Kapernaum, die du bis zum Himmel erhöht worden bist, bis zum Hades wirst du hinabgestossen werden; denn wenn in Sodom die Wunderwerke geschehen wären, die in dir geschehen sind, es wäre geblieben bis auf den heutigen Tag. Doch ich sage euch: Dem Land von Sodom wird es erträglicher ergehen am Tag des Gerichts als dir» (Mt 11,23.24). Es war in Kapernaum, wo der Mann vom unreinen Geist befreit wurde. Dort wurde Simons Schwiegermutter geheilt. Dort war es auch, wo die an mancherlei Krankheiten Leidenden in Mengen zu Ihm gebracht und geheilt wurden. Dort empfing der Gelähmte die Vergebung seiner Sünden. Kapernaum war wirklich bis zum Himmel erhöht worden. Die Macht und Gnade des Himmels waren tätig. Doch im Blick auf die Masse war alles vergeblich. Wie in jenen Tagen, so ist es heute: Ein grosser Zulauf bedeutet nicht, dass Seelen geübt und Gewissen erweckt sind. Das Kommen des Herrn in ihre Mitte war für sie ein sensationelles Ereignis, aber der Mangel an Buße angesichts eines solchen Dienstes liess sie vor Gott in einer schlimmeren Lage als zuvor.

Markus 2,3.4. Trotzdem empfing man da, wo Glauben an Christus vorhanden war, den Segen. Das Werk Gottes wird nicht durch die Bewegung von Massen ausgeführt, sondern durch ein persönliches Werk in den einzelnen Seelen. Und da, wo Glaube vorhanden ist, werden die Schwierigkeiten überwunden. Der gelähmte Mann war in sich selbst hilflos und wurde deshalb «von vieren getragen». Aber auch so konnten «sie wegen der Volksmenge nicht an ihn herankommen». Doch der Glaube überwindet jedes Hindernis.

Markus 2,5. Der Herr anerkennt ihren Glauben und sieht, wie immer in seinem Handeln mit uns, über die rein äusserlichen Nöte hinaus, die uns zu Ihm führen. Und so behandelt Er zuerst die Wurzel des Übels. Hinter der Krankheit dieses gelähmten Mannes steht wie bei allen Krankheiten die Frage der Sünde, wodurch Krankheit und Tod in die Welt gekommen sind. Es kann sein, dass der Mann und die, die ihn brachten, bezüglich der Sünden wenig Bedenken hatten. Trotzdem hatten sie Glauben an den Herrn, und sofort beantwortet Er diesen Glauben und beginnt den Segen für die zu entfalten, die glauben. So kann Er sagen: «Deine Sünden sind vergeben.»

Markus 2,6.7. In dem Augenblick, da der Herr seine Macht gebraucht, um Sünden zu vergeben, beginnt sich der Widerstand zu regen. Die Menschen hatten nichts dagegen, dass Dämonen ausgetrieben, Krankheiten geheilt und Aussätzige gereinigt wurden, denn diese Wunder befreiten den Menschen von körperlichen Leiden, ohne dass dabei sein Gewissen notwendigerweise beunruhigt wurde. Sobald Er aber direkt von Sünden redet, wird das Gewissen berührt und die Menschen beginnen zu widerstehen. Sie sagen: «Wer kann Sünden vergeben als nur einer, Gott?» Ihr Einwand war grundsätzlich richtig, denn Gott allein kann Sünden vergeben. Aber die Anwendung war verkehrt, denn sie erkannten die Herrlichkeit der Person nicht, die gegenwärtig war – Gott, offenbart im Fleisch.

Markus 2,8. Die kritisch Überlegenden werden ohne Entschuldigung gelassen, denn der Herr fährt fort, die Herrlichkeit seiner Person zu beweisen. Er zeigt, dass sie sich in der Gegenwart Dessen befinden, vor Dem keine Gedanken verborgen sind. Sie mochten noch kein Wort geäussert haben, aber alles war dem Herzenskenner bekannt. Wer kann sagen: «Was überlegt ihr dies in euren Herzen?» Ist die Antwort auf ihre Überlegungen nicht die gleiche, die allen menschlichen Argumentationen gilt? Da, wo man kein Bedürfnis verspürt, wird die Herrlichkeit der Person des Herrn Jesus nicht erkannt.

Markus 2,9–12. Voll Gnade spricht der Herr ein anderes Wort, das seine göttliche Macht in einer Weise offenbart, welche sogar die Natur würdigen kann. Er fragt, ob es leichter sei zu sagen: «Deine Sünden sind vergeben», oder zu sagen: «Steh auf, nimm dein Bett auf und geh umher.» In Wahrheit ist gesagt worden: Für Gott war beides gleich einfach und für einen Menschen beides gleich unmöglich. Damit die Menschen aber wissen möchten, dass der Herr die Macht hatte, Sünden zu vergeben, sagte Er zu dem gelähmten Mann: «Steh auf, nimm dein Bett auf und geh in dein Haus.» Dieses äussere Zeichen von Kraft bürgte für die innere Gabe der Gnade. Sofort sagte das Volk: «Niemals haben wir so etwas gesehen!»

Markus 2,13–15. Das Aussprechen der Vergebung von Sünden rief den Unwillen der jüdischen Führer hervor. Dieser Widerstand ist das erste Zeichen der totalen Verwerfung von Christus, die die Beiseitesetzung der Juden zur Folge hatte. Deshalb wird dies zu einer Gelegenheit, um in der Berufung Levis eine Andeutung der neuen Zeitperiode ans Licht zu bringen, die im Begriff stand, vom Herrn eingeführt zu werden, So lesen wir: «Er ging wieder hinaus an den See.» Der See oder das Meer wird in der Schrift oft benützt, um Nationen darzustellen. Daher deutet dieser Ausdruck die grosse Wahrheit an, dass der Herr in kurzem der Mittelpunkt der Christenheit sein werde, zu dem sich Gläubige aus den Juden und Heiden versammeln würden. Die Aufforderung an Levi war: «Folge mir nach!» Ausserdem macht die Tatsache, dass Levi ein Zöllner oder Steuereinzieher war, das grosse Merkmal des Christentums im Gegensatz zum Gesetz klar. Es gab in den Augen der Juden keine Beschäftigung, die entwürdigender und schändlicher gewesen wäre, als die eines Mannes, der seinen Lebensunterhalt dadurch verdiente, überhöhte Zölle für die verhassten Römer einzuziehen. Dass der Herr einen solchen rief, bedeutete eine grosse Gnade, die einen Menschen vom untersten Platz der Erniedrigung als Sünder zu dem höchsten Platz im Dienst des Herrn als Apostel erhob. Levi reagierte sofort auf den Ruf und machte in seinem Haus ein Fest, zu dem er viele Zöllner und Sünder einlud, damit sie dem Sünderheiland begegneten.

Markus 2,16. Eine solche Entfaltung der Gnade erregt den Widerstand derer, die durch den Hochmut des Verstandes und religiösen Stolz gekennzeichnet sind. Sie waren von der Gnade, die an ihnen vorbeiging, tief beleidigt. Sie verstanden nicht, wie sie sich eines Sünders annehmen konnte, der moralisch weit unter ihnen stand, um ihn hinsichtlich Segen und Kraft auf einen Platz weit über dem ihrigen zu stellen. Diese Widersacher begegneten Christus nicht, wie eine beunruhigte Seele es getan hätte. Sie wandten sich an die Jünger; und wie die Schlange das Vertrauen Evas in Gott zu erschüttern suchte, so bemühten sich diese Männer, das Vertrauen der Jünger in den Herrn ins Wanken zu bringen. Sie kamen mit einer Frage, die ihnen ganz vernünftig vorkommen musste: «Warum isst und trinkt er mit den Zöllnern und Sündern?»

Markus 2,17. Der Herr erledigt diese Frage mit einer einfachen Illustration: «Nicht die Starken brauchen einen Arzt, sondern die Kranken.» Dann wendet Er die Illustration an, indem Er sagt: «Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.» Sie spielten darauf an, dass der Herr sich mit Sündern verband. Seine Antwort zeigte, dass Er Sünder aus ihrer Umgebung herausrief, um Ihm nachzufolgen. Gnade gegenüber dem Sünder bedeutet nicht Gleichgültigkeit gegenüber seinen Sünden.

Markus 2,18. Aber die Pharisäer werden noch kühner. Sie hatten gedacht, das Vertrauen in den Herrn dadurch zu untergraben, dass sie mit Fragen über den Herrn zu den Jüngern gingen. Jetzt versuchen sie, Fehler bei den Jüngern zu finden, indem sie dem Herrn Fragen über seine Jünger stellen: «Warum fasten die Jünger des Johannes und die Jünger der Pharisäer, deine Jünger aber fasten nicht?»

Markus 2,19–22. Wieder braucht der Herr eine Illustration, um ihre Torheit aufzudecken. Wäre es angebracht, in der Gegenwart des Bräutigams zu fasten? Wäre es in ähnlicher Weise passend, in der Gegenwart Dessen, der nach allen Seiten hin Segen austeilte, zu fasten? Es würden die Tage kommen, da Christus nicht mehr länger gegenwärtig war. Ein ernster Gedanke für alle, die der Gnade widerstanden! Dann war das Fasten tatsächlich angebracht, aber nicht allein der Verzicht auf Speisen, sondern die Enthaltung von den Vergnügungen einer Welt, die Christus verworfen hatte. Wie immer, geht der Herr weiter, als nur ihre Frage zu beantworten. Er zeigt, dass ihre Frage ihre völlige Unfähigkeit aufdeckt, auf die neuen Wege Gottes in Gnade einzugehen. Das neue Wesen der Gnade, das sich im Leben, im Wandel und Handeln offenbart, konnte genauso wenig mit der alten Ordnung des Gesetzes vereinbart werden, wie man ein Stück von neuem Stoff nicht auf ein altes Kleid nähen wird. Ebenso kann das innere Leben und die Kraft dieses neuen Lebens nicht im alten Gefäss aufbewahrt werden. Neuer Wein verlangt neue Gefässe. Die Kraft und Energie des Heiligen Geistes kann auf das Fleisch keinerlei Wirkung haben. Der Herr war daran, etwas vollkommen Neues einzuführen, das im Vorbild durch das «neue Kleidungsstück», den «neuen Wein» und die «neuen Schläuche» dargestellt wird. Wenn das Neue eingeführt ist, können wir nicht zu dem Alten zurückkehren. Leider hat die Christenheit versucht, dies zu tun, indem sie dem Christentum die Formen des Judentums beigefügt hat. Die Lehre der Gnade ist anerkannt worden, während man in der Praxis die Formen des Gesetzes angenommen hat.

Markus 2,23–29. In diesem Vorfall, der am Sabbat stattfand, sehen wir eine weitere Andeutung, dass das ganze System, durch den Sabbat verkörpert, im Begriff stand, beiseite gesetzt zu werden. Indem sie die Frage des Sabbats aufwarfen, bekundeten die Pharisäer grossen Eifer für die äusserliche Einhaltung eines Tages, während sie der Tatsache, dass der Herr des Sabbats und seine Jünger hungerten, völlig gleichgültig gegenüber standen. Sie gaben vor, Gott zu verherrlichen und verwarfen im selben Augenblick seinen Zeugen. Der Herr erinnert sie an die Geschichte Davids und seiner Männer, die in den Tagen ihrer Verwerfung Hunger litten, und deckt dabei auf, wie weit sie von der Wirklichkeit entfernt waren. Angesichts dieser Umstände, da der Gesalbte Gottes verworfen war, gejagt wurde und hungerte, hörten die Schaubrote auf, ihren Wert vor Gott zu haben. Deshalb begingen David und seine Gefährten keine Sünde, obwohl sie durch das Essen der Schaubrote gegen den Buchstaben des Gesetzes handelten. So war es mit dem Sabbat. Er war zum Segen der Menschen gegeben, nicht um die Leiden hungernder Menschen noch zu erhöhen. Überdies «ist der Sohn des Menschen Herr auch des Sabbats»; deshalb stand Er über dem Sabbat, den Er eingesetzt hatte.

So ist es uns geschenkt, im Lauf des Kapitels die Gerechtigkeit zu sehen, die die Frage der Sünden aufwirft, die Gnade, die Sünden vergibt und den Sünder ruft, und den Glauben, der den Segen empfängt. Dann sehen wir den Widerstand, den das natürliche Herz, wenn es sich selbst überlassen bleibt, immer gegen einen Dienst der Gerechtigkeit und Gnade erhebt. Zuletzt wird diese Haltung zur Gelegenheit, die Änderung der Haushaltung oder Zeitperiode aufzuzeigen, die bevorstand.

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