Der erste Brief an Timotheus

Kapitel 5

Der erste Brief an Timotheus

Im ersten Teil dieses Kapitels spricht Paulus darüber, wie Timotheus die verschiedenen Personen in der Versammlung behandeln soll und wie die Witwen durch die Versammlung versorgt werden sollten.

Was das erste betrifft, so sollte Timotheus die nötige Bescheidenheit beobachten, aber vor allem stets die Reinheit des Herzens bewahren. „Einen Älteren fahre nicht hart an, sondern ermahne ihn als einen Vater, jüngere als Brüder, ältere Frauen als Mütter jüngere als Schwestern; in aller Keuschheit“ (Verse 1. 2). Wie nötig ist es für einen Arbeiter des Herrn, an diese Ermahnung zu denken, und wie oft wird dagegen gesündigt! Nicht jeder kann und darf auf die gleiche Art behandelt werden. Müssen ein alter Mann oder eine alte Frau ermahnt werden, so bedenke man, dass es betagte Leute sind, die wegen ihrer Jahre Achtung und Ehrfurcht verdienen; darum müssen sie als Väter und Mütter und in aller Sanftmut und mit aller Bescheidenheit ermahnt werden. Mit den jungen, Männern verhält es sich etwas anders; man kann diese freier behandeln, gleichwie man seinen eigenen Bruder ermahnen würde. Die jungen Frauen ermahne man als Schwestern; aber ihnen gegenüber kann sich leicht das Fleisch geltend machen, und darum ist es nötig, ein reines Herz zu bewahren, damit es keinen Anlass zu unreinen Gedanken oder Verlangen gibt.

Über die Witwen spricht der Apostel sehr ausführlich (Verse 3–16). Welche Witwen sollten zu Lasten der Versammlung kommen und von ihr unterhalten werden? Das ist die Frage, die der Apostel hier beantwortet. Das ergibt sich deutlich aus Vers 9 und 16. In Vers 9 sagt er: Eine Witwe werde verzeichnet, nämlich auf der Liste derer, die durch die Versammlung erhalten werden; und in Vers 16 wird bestimmt, welchen Witwen die Versammlung Hilfe leisten soll. Das erste Erfordernis ist, dass jemand wirklich Witwe ist. „Ehre die Witwen, die wirklich Witwen sind“ (Vers 3). Und wer ist wirklich Witwe? Sind denn nicht alle Frauen, deren Mann gestorben ist, Witwen? In gewissem Sinn wohl, aber nicht in dem Sinn, wie es Paulus meint. Nur diejenige ist im vollen Sinn des Wortes Witwe, die in ihrer Familie niemanden hat, der für sie sorgen kann. Wer aber Kinder oder Enkel hat, die imstande sind für ihre Mutter oder Großmutter zu sorgen, ist in diesem Sinn keine Witwe und darf nicht der Versammlung zur Last fallen. Die Versammlung soll nur denen Hilfe leisten, die niemanden haben, der für sie sorgt.

Zweitens bestimmt der Apostel, dass nur alte Witwen der Versammlung versorgt werden sollen. „Jüngere 'Witwen aber weise ab“, sagt er; „denn wenn sie üppig geworden sind wider Christus, so wollen sie heiraten und fallen dem Urteil anheim, weil sie den ersten Glauben verworfen haben“ (Verse 11. 12). Anstatt, gleichwie am Anfang, als sie bekehrt wurden, sich an Christus festzuklammern und in Ihm ihre Freude zu finden, sind sie üppig geworden; die Begierden des Fleisches haben die Oberhand gewonnen. Zudem aber, wenn die Versammlung für ihren Lebensunterhalt sorgen würde, dann würden sie in Gleichgültigkeit „lernen müßig sein, umherlaufend in den Häusern nicht allein aber müßig, sondern auch geschwätzig und vorwitzig, indem sie reden, was sich nicht geziemt“ (Vers 13). Um dem vorzubeugen und zu erwirken, dass die jungen Witwen nicht vom Glauben abfallen und dem Satan folgen, und dass die Versammlung nicht durch ein solches Betragen Schaden leide, sagt der Apostel: „Ich will nun, dass jüngere Witwen heiraten, Kinder gebären, Haushaltung führen, dem Widersacher keinen Anlass geben der Schmähung halber“ (Vers 14). Bezüglich der Witwen, die der Versammlung zur Last fallen, bestimmt er dann: „Eine Witwe werde verzeichnet, wenn sie nicht weniger als sechzig Jahre alt ist, eines Mannes Frau war“, d. h. die nur einmal verheiratet gewesen ist, „ein Zeugnis hat in guten Werken: wenn sie Kinder auferzogen, wenn sie Fremde beherbergt, wenn sie der Heiligen Füße gewaschen, wenn sie Bedrängten Hilfe geleistet bat, wenn sie jedem guten 'Werk nachgegangen ist“ (Verse 9. 10). Solche haben sich durch ihren gottseligen Wandel der Hilfe der Versammlung würdig gemacht und werden dann auch eine Zierde der Versammlung sein, wie die Prophetin Anna im Evangelium eine Zierde der Heiligen in Jerusalem war. Denn „die aber wirklich Witwe und vereinsamt ist“ sagt Paulus, die „hofft auf Gott und verharrt in dem Flehen und den Gebeten Nacht und Tag“ während dagegen die, welche in Wollust leben, „lebendig tot sind“.

Sind die Bestimmungen betreffs der Ältesten und Diener in der Versammlung von großem Gewicht, so ist das, was der Apostel bezüglich, des Unterhalts der Witwen sagt, nicht weniger wichtig. „Wenn aber eine Witwe Kinder oder Enkel hat“ dann müssen diese Kinder oder Enkel „zuerst lernen, gegen das eigene Haus fromm zu sein“ und ihren Eltern, die sie erzogen und gepflegt haben, vergelten durch den Unterhalt ihrer Witwen, „denn dieses ist angenehm vor Gott“ (Vers 4). „Wenn ein Gläubiger oder eine Gläubige Witwen hat“ in ihrer Familie, „der leiste ihnen Hilfe; und die Versammlung werde nicht beschwert, dass sie denen Hilfe leiste, die wirklich Witwen sind“ (Vers 16). Wie viel wird gegen diese Gebote des Herrn verstoßen! Wir dürfen wohl ernsthaft darüber nachdenken und, wenn nötig, uns demütigen. Was der Apostel in Vers 8 hinzufügt, macht die Übertretung dieses Gebotes sehr ernst: „Wenn aber jemand für die Seinigen und besonders für die Hausgenossen nicht sorgt, so hat er den Glauben verleugnet und ist schlechter als ein Ungläubiger.“

Der Apostel kommt nun noch einmal auf die Ältesten zurück und sagt: „Die Ältesten, welche wohl vorstehen lass doppelter Ehre würdig geachtet werden, sonderlich die da arbeiten in Wort und Lehre. Denn die Schrift sagt: ‚Du sollst dem Ochsen, der da drischt nicht das Maul verbinden', und: ‚Der Arbeiter ist seines Lohnes wert“ (Verse 17–19). Hieraus geht hervor, wie wir schon bei der Betrachtung des dritten Kapitels bemerkten, dass das Amt eines Ältesten in der Beaufsichtigung einer Versammlung besteht und nicht im Predigen. Die Ältesten, die gut vorstehen, sollen doppelter Ehre würdig geachtet werden, vor allem die da arbeiten in Wort und Lehre.

Ein Ältester kann zu seinem Amt auch die Gabe eines Lehrers oder Hirten oder Evangelisten empfangen haben, und in diesem Fall war er vor allem doppelter Ehre würdig; erstens als Ältester und dann als Hirte oder Lehrer. Wer bei seinem Amt als Ältester noch in Wort und Lehre arbeitete, wer alle seine Zeit und Kraft in den Dienst des Herrn stellte, der konnte nicht für seine, leiblichen Bedürfnisse sorgen und musste darum von den Heiligen, in deren Mitte er arbeitete, unterhalten werden. „Also hat auch der Herr denen, die das Evangelium verkündigen, verordnet, vom Evangelium zu leben“ (1. Kor 9, 14).

Timotheus sollte diese Dinge der Versammlung vorstellen; denn sie ist berufen und verantwortlich, für die Arbeiter des Herrn zu sorgen. Der Arbeiter selber hat damit nichts zu tun: er soll sich nicht mit den Sorgen des Lebens einlassen; er ist sowohl für seine geistlichen, als auch für die leiblichen Bedürfnisse ausschließlich vom Herrn abhängig. Dieser schenkt ihm die Gabe und Er ist es, der ihn beruft. Er sendet ihn wohin Er will, und Er sorgt für ihn. Die Gemeinde wird ebenso durch den Herrn geleitet und zugleich gewürdigt, durch die Unterstützung und Erhaltung der Arbeiter des Herrn Gottes Mitarbeiterin zu werden. Das vierte Kapitel des Philipperbriefes lehrt uns, wie gesegnet dieses Werk, wie lieblich und angenehm es in Augen des Herrn ist, und welch eine herrliche Belohnung damit verbunden ist.

„Wider einen Ältesten nimm keine Klage an, außer bei zwei oder drei Zeugen“ (Vers 19). Wurde gegen einen Ältesten eine Klage eingereicht – wegen Nachlässigkeit in der Ausübung seines Amtes oder wegen Unordentlichkeit in seinem Verhalten – dann sollte Timotheus eine solche Anklage nicht annehmen, es sei denn zwei oder drei Zeugen, welche die Sache bestätigen konnten. Ohne Zweifel denkt Paulus an Gottes Gebot in 5. Mose 19, 15: „Ein einzelner Zeuge soll nicht wider jemand auftreten wegen irgendeiner Ungerechtigkeit…, auf Zeugen Aussage oder auf dreier Zeugen Aussage soll eine Sache bestätigt werden.“ (Siehe auch Mt 18, 16 und 2. Kor 13, 1.) War dies in jedem gewöhnlichen Fall Gottes Verordnung, wie viel mehr dann gegenüber einem Ältesten, der um seines Amtes willen geehrt werden sollte.

Hatte jedoch ein Ältester gesündigt und war dies durch zwei oder drei Zeugen bewiesen, dann durfte er nicht geschont, sondern musste im Gegenteil öffentlich, vor der ganzen Versammlung bestraft werden, damit sich auch die andern Ältesten fürchten sollten. „Die da sündigen, ueberfuehre vor allen, dass auch die übrigen Furcht haben“ (Vers 20).

Und weil das alles höchst schwierig auszuführen war und große Gefahr bestand, dass man sich hierin durch persönliche Gefühle, durch Sympathie oder Antipathie, leiten ließ, fügt Paulus ernst und feierlich hinzu: „Ich bezeuge ernstlich vor Gott und Christus Jesus und den auserwählten Engeln, dass du diese Dinge ohne Vorurteil beobachtest, indem du nichts nach Gunst tust“ (Vers 21). Merkwürdig ist hier die Beifügung von „den auserwählten Engeln“. Nicht nur Gott und Christus Jesus, sondern auch die auserwählten Engel, die Gottes Thron umringen, sehen alle diese Dinge, die in der Gemeinde vorkommen. (Vgl. 1. Kor 11, 10.) Auserwählt sind die Engel im Sinn von 1. Petrus 2, 4, wo von Christus, dem lebendigen Stein gesagt wird, dass er zwar von Menschen verworfen, bei Gott aber auserwählt und kostbar ist.

Wie wir bereits früher erwähnten, wurden die Ältesten nicht von der Versammlung gewählt, sondern auf Gottes Befehl und Anweisung von den Aposteln oder deren Bevollmächtigten angestellt. Das geht einmal aus Apostelgeschichte 14, 23 hervor, wo wir lesen, dass, nachdem Paulus und Barnabas in jeder Versammlung unter Gebet und Fasten Älteste erwählt hatten, sie diese dem Herrn anbefahlen, an Den sie geglaubt hatten. Zweitens ergibt sich das aus den Briefen an Timotheus und Titus. In keinem einzigen Brief an eine Versammlung gibt Paulus Anweisungen betreffs der Ältesten, sondern ausschließlich in seinen Briefen an Timotheus und Titus, weil er diesen Auftrag gegeben hat, an seiner Stelle in den Versammlungen Älteste einzusetzen. Titus hatte er in Kreta gelassen, damit er in jeder Stadt Älteste anstelle. Überdies liegt das im Wesen der Sache. Ein Ältester war ein Aufseher über die Versammlung, von Gott als solcher verordnet; und ebenso wenig wie die Kinder ihre Lehrer wählen, wählt die Versammlung ihre Aufseher; Gott setzt sie ein durch das Mittel Seiner Apostel oder deren Bevollmächtigten.

Timotheus, der von Paulus den Auftrag dazu erhalten hatte, musste darum mit den Erfordernissen bekannt gemacht werden, denen jemand entsprechen sollte, um für dieses Amt tauglich zu sein (siehe Kapitel 3). Doch zugleich musste auf die Möglichkeit hingewiesen werden, sich in jemandes Tauglichkeit zu irren. Darum mahnte Paulus zur Vorsicht. „Die Hände lege niemandem schnell auf und habe nicht teil an fremden Sünden“ (Vers 22); denn wenn er jemanden, der keinen guten Wandel führte, als Ältesten einsetzen würde, dann würde er dadurch an dessen Sünden teilhaben. „Von etlichen Menschen sind die Sünden vorher offenbar und geben voraus zum Gericht“ d. h. von einigen Menschen weiß ein jeder, was sie sind; ihr Leben und Wandel sind bekannt; bei andern jedoch „folgen sie nach“ (Vers 24); sie sind nicht bekannt, doch werden sie später offenbar. Ebenso ist es mit den guten Werken; von einigen weiß sie ein jeder, während sie von andern verborgen sind, doch nicht verborgen bleiben können (Verse 22–25). Darum sollte Timotheus, ehe er jemanden als Ältesten einsetzte, gut untersuchen, ob er wirklich für dieses Amt geeignet und dessen würdig war.

In einem Zwischensatz fügt hier Paulus die beachtenswerte Mahnung bei: „Bewahre dich selbst keusch. Trinke nicht länger nur Wasser, sondern gebrauche ein wenig Wein, um deines Magens und deines häufigen Unwohlseins willen“ (Vers 23). Welch eine zarte Fürsorge für Timotheus, und welch ein treffender Beweis für uns, wie der Herr, unser Gott, sich mit allen unseren Umständen befasst und um unsere Gesundheit besorgt ist. Timotheus bemühte sich, in allem ein gutes Zeugnis zu geben, und in keiner Hinsicht einen Anstoß zu geben oder ein Hindernis zu sein; und da schon in jener Zeit die Trunkenheit eine allgemein verbreitete Sünde war, und die Ältesten und Diakone nicht vielem Wein hingegeben sein durften, so enthielt er sich gänzlich des Weines und trank bloß Wasser. Das sollte er jedoch nicht tun, sagt Paulus; „um deines Magens und deines häufigen Unwohlseins willen musst du ein wenig Wein trinken“.

Außer Gottes Sorge für die Seinen können wir hieraus auch lernen, dass jede gesetzliche Enthaltung, wie alle gesetzlichen Bestimmungen betreffs Speisen und Getränke, mit Gottes Gedanken nicht in Übereinstimmung sind, und dass der Herr, wiewohl Er mächtig ist, in einem Augenblick alle Leiden und Krankheiten zu heilen, es oft für gut findet, sie zu unserem oder andern Heil fortdauern zu lassen.

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