Esra - die Rückkehr der Gefangenen nach Jerusalem

Kapitel 5-6

Bei der Verfolgung unseres Gegenstandes werden wir finden, dass die Geschichte der zurückgekehrten Gefangenen uns noch mehr zu sagen hat, als das was wir im vorigen Abschnitt hörten. Neben Belehrung und Ermunterung finden wir in ihr auch vor allen Dingen Warnung. Wenngleich nach Jerusalem zurückgehrt, bedürfen die Juden doch der Wiederbelebung, gerade so wie sie derselben bedurften, als sie noch in Babylon waren.

Die Verordnung des König Artaxerxes hatte dem Bauen des Tempels Einhalt getan. Und siehe da, die Natur oder das Fleisch benutzt dies sogleich zu seinem Vorteil: sobald die Gefangenen Erleichterung verspüren und von der Arbeit am Haus Gottes frei werden, beginnen sie ihre eigenen Häuser auszuschmücken.

Welch ernste Warnung liegt hierin für uns! Man hat oft gesagt, es sei leichter, einen Sieg zu erringen, als ihn auszunutzen. Wir können erfolgreich kämpfen, aber durch den Sieg selbst eine Niederlage erleiden. Die zurückgekehrten Juden hatten einen Sieg davongetragen, als sie die Anerbietungen der Samariter und eine Verbindung mit ihnen zurückwiesen. Sie taten recht daran, auf jede Hilfe zu verzichten, die ihrer heiligen Absonderung irgendwie Eintrag getan haben würde. Aber jetzt missbrauchen sie den Sieg. Die Samariter hatten einen Erlass von dem Perserkönig erwirkt, durch den dem Weiterbau des Tempels gewehrt wurde; die Muße, zu der der Überrest sich so verurteilt sah, wurde eine Schlinge für ihn. Man benutzte die Zeit dazu, die eigenen Häuser zu bauen und zu täfeln.

Das ist sehr natürlich, aber zugleich auch sehr demütigend. Abraham hatte weit besser gehandelt. Mit Hilfe seiner geübten Knechte gewann er den Tag seines Zusammenstoßes mit den verbündeten Königen; und dann führte bei ihm der erste Sieg nur den zweiten herbei: er wies die Anerbietungen des Königs von Sodom, die ihm unmittelbar nachher gemacht wurden, zurück. Hier aber wurde die Muße Siegerin über die, die noch kurz vorher die Samariter besiegt hatten. Dies war mehr dem David ähnlich; er erkämpfte sich in schöner Weise seinen Weg von der Zeit des Löwen und des Bären bis zu dem Tag, an dem er den Thron bestieg; aber dann zeigten sich sofort Sorglosigkeit und Erschlaffung: er stellte die Lade Gottes auf einen neuen Wagen, der von Ochsen gezogen wurde!

„Ist es für euch selbst Zeit, in euren getäfelten Häusern zu wohnen, während dieses Haus wüst liegt?“ So lautet das überführende und tadelnde Wort des Geistes durch den Mund des Propheten Haggai. (Kap. 1,4) Das ist, wie gesagt, sehr demütigend; zugleich enthält es eine heilsame Warnung für uns. Unsere Herzen verstehen es sehr wohl, wie die Natur schnell und begierig Vorteil aus den ihr gebotenen Gelegenheiten zieht.

Aber wenn auch die Gefangenen sich der persischen Vorschrift fügen mussten, war doch der Geist Gottes nicht gebunden, und Er konnte Seine früheren Gnadenerweisungen erneuern, indem Er ihnen Seine Propheten sandte. Denn darin hatte auch ehedem Seine Gnade bestanden. Es war dies Sein wohlbekannter Weg gewesen, von  der Zeit vor König Saul bis nach König Zedekia, d.h. vom ersten der Könige Israels bis zum letzten, von 1. Sam 1 bis 2. Chr 36. In dieser ganzen langen Zeit, von Geschlecht zu Geschlecht, waren wieder und wieder Propheten aufgestanden, um die Könige und ihr Volk zurechtzuweisen, zu belehren oder zu ermutigen. Samuel, Nathan und Gad, Schemaja und Asarja, Elia und Elisa, und viele andere mit ihnen, hatten ihren Dienst ausgeübt, während Israel noch eine Nation war; und jetzt werden Haggai und Sacharja in  gleicher Eigenschaft zu den zurückgekehrten Gefangenen gesandt: ein schönes Zeugnis davon, dass die alte Form, in welcher die Gnade Gottes Seinem Volk begegnete, immer noch im Gebrauch war, um es erkennen zu lassen, dass es zu jeder Zeit und in allen Lagen in Ihm nicht „verengt“ war.

Gott tut keine Schritte, um die zurückgekehrten Juden wieder an ihren ursprünglichen Platz zu stellen. Das wäre weder der Stellung angemessen gewesen, die das Volk zu Gott einnahm, noch hätte es der Gewalt entsprochen, welche Er den Heiden anvertraut hatte; ebenso wenig hätte es dem Volk im Blick auf die Regierungswege Gottes zur Belehrung gedient. Die Dinge blieben, wie die regierende Hand Gottes sie angeordnet hatte. Der Heide behält die Oberhand auf Erden, und die Herrlichkeit kehrt nicht zu Israel zurück. Der Thron Davids bleibt im Staub liegen; die Urim und Thummim werden nicht zurückgegeben, und die Bundeslade wird nicht wieder gebaut. Dabei hat aber der Geist, wie bemerkt, Seinen Platz des Dienstes nicht verlassen. Er erweckt Propheten, gerade wie in vergangenen Tagen, wo der Thron Davids in Jerusalem war und der Tempel mit seiner Priesterschaft in Pracht und Schönheit dastand.

Es wäre gewiss nützlich, die Art und Weise zu betrachten, wie diese Propheten ihren Dienst der Wiederbelebung an den Zurückgekehrten ausübten; doch möchte ich hier nicht weiter darauf eingehen. Infolge ihres Zeugnisses wandte sich die allgemeine Aufmerksamkeit dem Tempel wieder zu; der Glaube des Volkes lebte auf, und damit ihr eifriger Dienst. In den vier Jahren, vom zweiten Jahr des Darius, wo Haggai und Sacharja ihren Prophetendienst begannen, bis zum sechsten, wo das Haus vollendet wurde, arbeiteten sie mit erneutem Eifer.

Dann findet die Einweihung des Tempels statt. Sie stellt dem inneren Zustand des Volkes ein schönes Zeugnis aus. Was sie tun können ist nur wenig, sehr wenig; aber sie tun, was in ihren Kräften steht. Salomo hatte 22.000 Rinder und 120.000 Schafe bei der Einweihung des ersten Tempels geschlachtet; die Zurückgekehrten können nur einige hundert Stiere, Widder und Lämmer darbringen. Aber sie tun was sie können; und wer kann sagen, ob das Scherflein der armen Witwe, die Jahrhunderte später lebte, nicht mehr wert war, als alle Opfer ihrer reicheren Vorfahren? Sie taten was sie vermochten, ohne wegen ihrer Armut zu erröten. „Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir.“ Kostbar ist solche Schwachheit, und etwas besonders Annehmliches liegt in solchen Opfern, wenn „bei großer Drangsalsprüfung die Überströmung der Freude und die tiefe Armut überströmen in den Reichtum der Freigebigkeit“. (vgl. 2. Kor 8,2)

Dann feiern sie das Passah; das können und wollen sie tun. Sie können das Haus einweihen und das Fest feiern, und zu beidem sind sie voller Willigkeit. Priester und Leviten sind hier gleich rein; sie „hatten sich gereinigt wie ein Mann“, was unter der Regierung Hiskijas nicht der Fall gewesen war. (vgl. 2. Chr 29,34 mit Esra 6,20) Wir können deshalb wohl sagen, dass wir hier trotz des Fehlens jeder offenbaren Herrlichkeit, wie bei Salomo, mehr anziehende Gnade und sittliche Kraft entdecken als dort; es ist eine ähnliche Sache wie bei dem Auszug aus Babylon, etwa zwanzig Jahre vorher, im Vergleich mit dem Auszug aus Ägypten. In dem zweiten Auszug und der zweiten Einweihung des Tempels finden wir Züge von persönlicher Schönheit, die in den glänzenderen, weit glänzenderen Tagen Ägyptens und Salomos nicht so in die Erscheinung traten.

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