Einführende Vorträge zum Markusevangelium

Kapitel 8

Einführende Vorträge zum Markusevangelium

Dieses Kapitel muss heute unser letztes sein, über das ich noch ein oder zwei Worte sagen möchte, bevor ich schließe. Wieder wird eine große Volksmenge gespeist. Es handelt sich natürlich nicht um dieselbe wie vorher. Hier sind es nicht fünftausend Männer, sondern nur viertausend; es bleiben nicht zwölf Körbe voll Brocken übrig, sondern nur sieben. Äußerlich gesehen, waren es weniger Menschen und ein kleinerer Rest, der übrig blieb. Aber beachten wir, dass es sich hier um die Sieben, die normale Zahl der geistlichen Vollkommenheit, handelt. Ich schließe daraus, dass dieses Ereignis, als Vorbild gesehen, sogar noch bedeutungsvoller ist als das vorherige. Es gibt keinen größeren Fehler bei der Beschäftigung mit der Schrift – und das gilt überhaupt für alle sittlichen Fragen – als die Dinge nach ihrem äußeren Schein zu beurteilen. Die sittliche Bedeutung von allem, was man sich vorstellen kann, ist immer von größerer Wichtigkeit als ihr physisches Aussehen. In diesem zweiten Wunder wurden weniger Menschen gespeist, die Ausgangsmenge war größer und das Übriggelassene weniger. Rechnerisch gesehen, erscheint das frühere Wunder ganz offensichtlich größer als das spätere. Die zugrunde liegende Wahrheit besteht darin: Im ersten Wunder wird besonders die Beteiligung der Menschen herausgestellt. Im zweiten handelt es sich darum, dass Jesus, obwohl Er Menschen benutzte, die Vollkommenheit seiner Liebe und Sympathie und die Sorge für sein Volk entfaltete, welcherart die Not auch sein mochte. Deshalb scheint es, als zeige die Zahl  Sieben  eine  höhere Vollkommenheit an als die Zwölf, obwohl sie beide an ihrem jeweiligen Platz bedeutsam sind.

Danach tadelte unser Herr die Jünger wegen ihres Unglaubens, der sich in grober Form zeigte. Je stärker sich Liebe und Mitleid bei Ihm offenbarten und je vollkommener seine Sorge zum Ausdruck kam, umso peinlicher erwies sich der Unglaube bei seinen Jüngern und noch mehr bei anderen. Unser Herr führte dann noch eine weitere Heilung aus, die nur im Markusevangelium berichtet wird. In Bethsaida wurde ein Blinder zu Ihm gebracht. Nach meiner Meinung geschah es ausdrücklich dazu, um die Geduld des Dienstes nach den Gedanken des Herrn vorzustellen, wenn Er zuerst seine Augen anrührte, worauf dann nur ein teilweises Sehvermögen folgte. In seiner Antwort bekannte der Mann: „Ich sehe die Menschen ... wie Bäume umherwandeln.“ Daraufhin legte der Herr zum zweiten Mal die Hände auf seine Augen. Damit war das Werk vollendet. Auf diese Weise hatte Er nicht nur den Blinden geheilt, sondern Er hatte es auch „wohl gemacht“ – eine weitere Illustration der Wahrheit, die wir schon betrachtet haben. Wenn Er seine Hand auflegte, um ein Werk auszuführen, dann nahm Er sie nicht wieder weg, bevor alles entsprechend seiner Liebe vollbracht war. Der Mann sah jetzt völlig klar. So passte alles zusammen. Die doppelte Handlung erwies den  guten Arzt. Aber die Wirkung seiner Handlungsweise, sei es durch Wort oder Hand, sei es durch einfache oder doppelte Anwendung, zeigte auch den  großen Arzt.

Am Ende des Kapitels entfaltete sich der Glaube in Petrus im Gegensatz zum Unglauben der Menschen und dem Kleinglauben, der vorher unter den Jüngern wirksam war. Nun eilten die Dinge dem Schlimmsten entgegen. Das Bekenntnis des Petrus war deshalb an dieser Stelle durchaus passend. Der Bericht weicht auffallend von dem im Matthäusevangelium ab. Durch Markus wird uns erzählt, dass Petrus einfach sagt: „Du bist der Christus.“  Im Matthäusevangelium lauten seine Worte wie folgt: „Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“ (Mt 16, 16). Auch finden wir im Markusevangelium nicht die Worte: „Auf diesen Felsen will ich meine Versammlung bauen.“ Die Versammlung ist genau genommen nicht auf den Christus oder Messias als solchen aufgebaut, sondern auf das Bekenntnis von dem „Sohn des lebendigen Gottes“. So sehen wir, wie schön die Auslassungen in der Schrift voneinander abhängen. Der Heilige Geist inspirierte Markus dahingehend, dass er nur einen Teil von dem Bekenntnis des Petrus anführte, und folgerichtig wird nur ein Teil der Segnung unseres Herrn erwähnt. Da die größte Huldigung an unseren Herrn in dem Bekenntnis des Petrus weggelassen wird, verschweigt Markus folglich auch ganz den bevorstehenden großen Wechsel, der sich in der Bildung der Versammlung (Kirche) zeigt. Hier verlangte unser Herr von den Jüngern nur, dass sie niemanden von Ihm, dem Christus, erzählen sollten. Was für ein Ende des Zeugnisses seiner Gegenwart! Auch der Grund dafür ist sehr ergreifend: „Der Sohn des Menschen (muss) vieles leiden.“  Das war sein Teil, das Teil des wahren Dieners. Er war der Christus. Aber es hatte keinen Zweck, dem Volk weiterhin davon zu erzählen. Sie hatten es oft gehört; und sie wollten trotzdem nicht glauben. Nun stand Er im Begriff, ein anderes Werk zu beginnen. Er machte sich auf, um zu leiden. Das war Sein Teil. „Der Sohn des Menschen (muss) vieles leiden und verworfen werden ... von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten, und ... getötet werden und nach drei Tagen auferstehen.“

Demnach begann Er jetzt, angesichts der Verklärung, seinen herannahenden Tod anzukündigen. Er schilderte ihn sehr ausführlich. Er wollte seine Knechte vor der Annahme bewahren, als sei Er in irgendeiner Weise von seinem Tod überrascht worden. Er wurde erwartet. Der Herr kannte ihn schon vollkommen und in seinen Einzelheiten vor den Ältesten und Schriftgelehrten. Das Volk, das seinen Tod bewirken würde, wusste noch nichts davon. Sie planten eigentlich das Gegenteil von dem, was wirklich zur Zeit seines Todes geschah (Mt 26, 5). Noch weniger wussten sie von seiner Auferstehung. Als sie geschah, glaubten sie nicht daran. Die Juden verdeckten sie durch eine Lüge. Aber Jesus wusste alles über seinen Tod und seine Auferstehung. Und jetzt brachte Er den Jüngern zum ersten Mal diese Nachricht schonend bei und wies darauf hin, dass auch  ihr Weg ein gleicher Pfad der Leiden sein würde. Christi Tod wird hier als ein Werk der Sünde des Menschen gesehen. Deshalb wird kein Wort von der Sühnung gesagt. Es gibt kein größeres Missverständnis bei der Betrachtung der Schrift als ein Beschränken der Leiden des Herrn auf die Sühnung – ich meine, hinsichtlich des Kreuzes und des Todes. Sicherlich ist die Sühne der höchste Gesichtspunkt in den Leiden Christi. Deshalb kann man verstehen, dass auch die Christen dazu neigen, angesichts der Sühnung alles andere zu übersehen. Der Grund dafür, warum Gläubige nur die Sühnung sehen, liegt darin, dass sie nur sich selbst sehen. Aber wenn sie keine „ungläubigen“ Gläubigen wären, dann würden sie sehen, dass im Kreuz Christi viel mehr enthalten ist als die Sühnung. Sie würden auch keineswegs geringer von Jesus denken, wenn sie die Reichweite seiner Gnade und die Tiefe seiner Leiden mehr erkennen würden. Unser Herr sprach hier nicht von seinem Tod als eine Sühne für Sünden. Im Matthäusevangelium, wo Er davon spricht, dass Er sein Leben gibt als Lösegeld für viele, da handelt es sich natürlich wirklich um Sühnung (Mt 20, 28). Christus sühnte ihre Sünden; das nenne ich Sühnung. Aber hier, wenn Er davon spricht, dass Er von den Menschen getötet wird – ist das Sühnung? Es ist schmerzlich, dass Christen für diese Wahrheit so verschlossen und bezüglich derselben so verwirrt sind. Hätte Gott nicht im Gericht mit dem Heiland der Sünder gehandelt, dann gäbe es keine Sühnung. Seine Verwerfung durch die Menschen wird zwar von Gott benutzt, aber sie ist nicht dasselbe. Und, geliebte Freunde, das ist eine bedeutsamere und praktischere Frage, als manche denken möchten. Aber mehr kann ich jetzt nicht dazu sagen. Vor uns steht ein neuer Gegenstand, nämlich die Herrlichkeit, von der unser Herr im Zusammenhang mit seiner Verwerfung und seinen Leiden unmittelbar danach spricht.

Nächstes Kapitel »« Vorheriges Kapitel