Einführende Vorträge zum Matthäusevangelium

Kapitel 23

Einführende Vorträge zum Matthäusevangelium

Aber wenn der Mensch schwieg, dann war jetzt die Zeit für den Herrn da – nicht um zu fragen, sondern um sein Urteil kundzutun. Und in Kapitel 23 sprach Er seinen ernsten Richterspruch über Israel aus. Er wandte sich in seiner Rede sowohl an die Volksmenge als auch an die Jünger und verkündete seine Weherufe über die Schriftgelehrten und Pharisäer. Dass diese Rede damals ein solch gemischtes Publikum fand, war ganz nach dem Willen des Herrn. Er traf damit nicht nur, wie mir scheint, Vorsorge für die Jünger, sondern auch für den Überrest Israels in späterer Zeit; denn dieser wird eine solch zwiespältige Stellung einnehmen. Er wird auf der einen Seite an Ihn glauben, und auf der anderen Seite noch mit jüdischen Hoffnungen erfüllt sein und mit jüdischen Einrichtungen in Verbindung stehen. Das scheint mir der Grund dafür zu sein, warum unser Herr so bemerkenswert anders sprach, als wir es gewöhnlich in der Bibel finden. „Die Schriftgelehrten und die Pharisäer“, sagte Er, „haben sich auf den Stuhl Moses gesetzt. Alles nun, was irgend sie euch sagen, tut und haltet; aber tut nicht nach ihren Werken, denn sie sagen es und tun es nicht. Sie binden aber schwere und schwer zu tragende Lasten zusammen und legen sie auf die Schultern der Menschen, sie selbst aber wollen sie nicht mit ihrem Finger bewegen. Alle ihre Werke aber tun sie, um sich vor den Menschen sehen zu lassen, denn sie machen ihre Gebetsriemen breit und die Quasten groß“ (V. 2–5). Dieser Grundsatz wird, wie damals, in den letzten Tagen seine volle Erfüllung finden; die Zeit der Kirche (Versammlung) ist nur ein Einschub. Es ist offenkundig, wie gut diese Belehrung in das Matthäusevangelium passt, deshalb wird sie auch nur hier gefunden. Außerdem scheuen wir uns davor, anzunehmen, dass das, was unser Herr lehrte, nur eine kurzfristige Erfüllung haben sollte. Nein, keineswegs! Die Belehrung hat für die, welche Ihm nachfolgen, eine fortdauernde Bedeutung. Natürlich verändern die besonderen Vorrechte der Kirche, welche sein Leib ist, und die zwischenzeitliche Beiseitesetzung des jüdischen Volkes und seines Systems die ganze Angelegenheit. Seinerzeit galten diese Worte jedoch buchstäblich; und so wird es auch in zukünftigen Tagen sein. Wenn es so ist, dann wird erneut die Würde des Herrn als der große Prophet und Lehrer an ihrem Platz aufrechterhalten. Im letzten Buch des Neuen Testaments haben wir, nachdem die Kirche von der Erde weggenommen ist, eine ähnliche Vermischung der Umstände. Die Gläubigen halten die Gebote Gottes und besitzen den „Glauben Jesu“ (Off 14,12). So werden hier die Jünger Jesu ermahnt, das zu halten, was von denen, die auf Moses Stuhl saßen, auferlegt wurde. Sie sollten dem folgen, was diese lehrten, nicht dem, was sie taten. Soweit sie die Gebote Gottes herausstellten, war ihre Lehre verbindlich. Doch in der Praxis waren sie nur eine Bake1 und kein Vorbild. Die Hauptsache bestand für sie darin, von den Menschen gesehen zu werden. Sie waren stolz auf ihre Stellung und suchten hochtönende Titel und Ehre im öffentlichen und privaten Leben im Gegensatz zu Christus und seinem oft wiederholten Wort: „Wer aber sich selbst erhöhen wird, wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigen wird, wird erhöht werden“ (V. 12). Die Jünger hingegen hatten natürlich den „Glauben Jesu“.

Als nächstes schleuderte der Herr seine „Wehe“ über „Wehe“ gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer2. Sie waren Heuchler. Sie schlossen das neue Licht Gottes in ihrem maßlosen Eifer für ihre eigenen Ansichten aus. Sie untergruben mit ihrer Kasuistik3 die Gewissen, während sie auf die genaueste Erfüllung in den Äußerlichkeiten achteten. Sie bemühten sich um äußerliche Reinheit, während sie von Raub und Unmäßigkeit erfüllt waren. Sie fürchteten sich nicht, voller Heuchelei und Gesetzlosigkeit zu sein, wenn sie nur nach außen hin gerecht erschienen. Schließlich bezeugten ihre Denkmäler zu Ehren erschlagener Propheten und verdienstvoller Männer des Altertums eher ihre Verwandtschaft mit den Mördern als mit den Gerechten. Ihre Väter töteten die Zeugen Gottes, die sie während ihres Lebens verurteilten. Sie, die Söhne, bauten ihnen erst dann Denkmäler, wenn es kein Zeugnis an ihr Gewissen mehr gab und die Totenehrung einen Heiligenschein auf sie selbst zurückwarf.

Das ist die weltliche Religion mit ihren Häuptern! Ihre Führer hemmen die göttliche Erkenntnis, obwohl sie doch nur dazu da sind, ihr als Kanäle der Austeilung zu dienen. Sie sind kleinlich, wo sie großzügig sein sollten. Sie sind kalt und lau für Gott, jedoch eifrig für sich selbst. Einerseits verraten sie sich, wo die Verpflichtungen gegen Gott von großer Bedeutung sind, als kühne Sophisten4, andererseits in den kleinsten Einzelheiten als pedantischste Haarspalter, indem sie die Mücke aussieben und das Kamel verschlucken. Sie sorgen ängstlich für das Äußere, ohne sich besonders um das, was unter der Oberfläche verborgen liegt, zu kümmern. Die Ehren, welche sie denen erweisen, die in vergangenen Zeiten gelitten haben, sind der Beweis, dass sie nicht deren Nachfolger sind, sondern die ihrer Feinde. Sie sind die rechtmäßigen Nachfolger jener, welche die Freunde Gottes erschlugen. Die Nachfolger solcher, die in alten Zeiten gelitten haben, sind diejenigen, die jetzt leiden müssen. Dagegen bauen die Erben der Verfolger den von jenen Verfolgten pompöse Grabstätten, errichten Standbilder, gießen riesige Grabplatten und erweisen ihnen jede denkbare Ehre. Wenn das Zeugnis Gottes das verstockte Herz nicht länger mehr durchbohrt und wenn diejenigen, die es verkünden, nicht mehr da sind, dann dienen die Namen dieser gestorbenen Heiligen oder Propheten als Mittel, um religiöses Ansehen zu gewinnen. Die Wahrheit wird nicht mehr gegen sie angewandt; das Schwert des Geistes ist nicht mehr in der Hand derer, die es so gut benutzen konnten. Das billigste Mittel für die Menschen dieser Generation, um Einfluss für sich zu erringen, besteht darin, die Verstorbenen zu ehren. Man bläht das Ansehen der Überlieferung mit denen auf, die einst Gott gedient haben, aber jetzt gestorben sind, und deren Zeugnis den Schuldigen nicht mehr sticht. Ihre Ehrung beginnt mit dem Tod, und trägt somit ganz offensichtlich den Stempel des Todes aufgeprägt. Brüsteten sie sich mit dem Fortschritt der Zeit? Dachten und sagten sie: „Wenn wir in den Tagen unserer Väter gelebt hätten, dann hätten wir nicht an dem Vergießen des Blutes von Propheten teilgenommen?“ Wie wenig kannten sie ihre Herzen! Sie standen dicht vor ihrer Prüfung. Ihr wahrer Charakter würde sich bald zeigen. Sie waren Heuchler, eine Schlangenbrut. Wie konnten sie dem Gericht der Hölle entfliehen?!

„Deswegen siehe“, sagte der Herr, nachdem Er sie so entlarvt und angeprangert hatte, „ich sende Propheten und Weise und Schriftgelehrte zu euch; und einige von ihnen werdet ihr töten und kreuzigen, und einige von ihnen werdet ihr in euren Synagogen geißeln und werdet sie verfolgen von Stadt zu Stadt“ (V. 34). Es ist in den Einzelheiten vorwiegend eine jüdische Verfolgung; und am Ende droht die Vergeltung, „damit über euch komme alles gerechte Blut, das auf der Erde vergossen wurde: von dem Blut Abels, des Gerechten, bis zu dem Blut Sacharjas, des Sohnes Berekjas, den ihr zwischen dem Tempel und dem Altar ermordet habt. Wahrlich, ich sage euch, dies alles wird über dieses Geschlecht kommen“ (V. 35–36). Der gepriesene Herr wandte sich damals, als Er die „Wehe“  über Chorazin, Bethsaida und Kapernaum, die seine Worte und Werke verwarfen, ausgesprochen hatte, sofort den unendlichen Reichtümern der Gnade zu (Mt 11,20–30); und Er holte aus der Tiefe seiner Herrlichkeit das Geheimnis von höheren Segnungen für die Armen und Bedürftigen hervor. Genauso geschah es auch hier und in diesem Augenblick. Aus Lukas 19 wissen wir, dass der Herr, kurze Zeit bevor Er diese „Wehe“ mit ihrem ernsten und verhängnisvollen Inhalt für die stolzen religiösen Führer Israels aussprach, über die schuldige Stadt geweint hatte, in der notwendigerweise nicht nur seine Knechte, sondern auch ihr Herr umkommen mussten. Wie treu war auch hier sein Herz gegen sie! „Jerusalem, Jerusalem, die da tötet die Propheten und steinigt, die zu ihr gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken versammelt unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt! Siehe, euer Haus wird euch öde gelassen“ (V. 37–38). Hier steht nicht: „Ich lasse“, sondern: „Euer Haus wird euch öde gelassen; denn ich sage euch: Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen [wie bitter ist ihre Not – der Messias, Jahwe selbst, verwirft die, die Ihn verwerfen!], bis ihr sprecht: ,Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!‘“ (V. 39).

Fußnoten

  • 1 Baken dienen in der Seefahrt zur Kenntlichmachung von Gefahrstellen, z.B. Untiefen; sie geben aber nicht die Richtung an, auf die man zusteuern muss (Übs.).
  • 2 „Die ältesten Texte, wie die Codices Vaticanus, Sinaiticus, Beza's Cambridge, L. von Paris (C. und Alexandrinus sind fehlerhaft) und die Abschrift von Dublin lassen Vers 14 weg, welcher wahrscheinlich nach Markus 12,40 und Lukas 20,47 hier eingefügt worden ist. Dann bleibt eine vollständige Serie von sieben „Wehe“ übrig“ (W.K.). (Vgl. „Nestle-Aland“, 26. Aufl., und „Elberfelder Bibel“ mit „Lutherbibel“). – Kelly muss diesen textkritischen Anmerkungen große Bedeutung beigemessen haben, sonst hätte er sie kaum bei der Bearbeitung der stenographierten Vorträge (vgl. Vorwort) eingefügt. Deshalb seien sie hier gegeben (Übs.).
  • 3 Kasuistik: Haarspalterei, Spitzfindigkeit (Übs.).
  • 4 Sophistik: altgriechische Weisheitslehre oder, abwertend, die Kunst der Scheinbeweise und Scheinschlüsse; Sophisten: hier Wortverdreher, Spiegelfechter (Übs.).
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