Einführender Vortrag zum 2. Petrusbrief

Kapitel 1

Einführender Vortrag zum 2. Petrusbrief

Im 2. Petrusbrief (und ich muß mich jetzt kurz fassen, wegen der vorgerückten Stunde; und ich darf auch kurz sein, weil der Judasbrief uns bald eine eingehendere Betrachtung ermöglicht) wird dieselbe wesentliche Wahrheit der gerechten Regierung Gottes festgehalten. Der Apostel ergänzt hier aber seinen ersten Brief, indem er die Wirkung dieser Regierung auf die Welt an jenem kommenden Tag und besonders in ihrem Gericht über das Christentum bzw. die verdorbene Christenheit vorstellt. Obwohl er natürlich zur Unterweisung der Erlösten geschrieben wurde, darf er durchaus als eine Warnung für Sünder dienen – seien sie in der unkirchlichen Welt oder seien es solche, welche die Gerechtigkeit und Wahrheit mißbrauchen.

Es gibt einen Ausdruck in Kapitel 1, Vers 3, auf den ich besonders eure Aufmerksamkeit richten möchte. „Da seine göttliche Kraft uns alles in betreff des Lebens und der Gottseligkeit geschenkt hat durch die Erkenntnis dessen, der uns berufen hat durch Herrlichkeit und Tugend.“ Hier steht wirklich „durch [Seine]1 Herrlichkeit und Tugend“ und nicht „zu Herrlichkeit und Tugend.“ Das scheint mir eine wichtige Aussage des Heiligen Geistes zu sein, die wir verstehen sollten. Was uns diese Wahrheit klarer macht, besteht darin: Adam wurde nicht „berufen“, als er im Paradies lebte. Als er unschuldig war, wurde er nicht durch die Herrlichkeit Gottes und durch Tugend berufen. Adam war verpflichtet, so zu bleiben, wie er war. Das heißt, er war verantwortlich, den Willen Gottes zu tun – oder vielmehr, das nicht zu tun, was Gott in seinem Fall verboten hatte. Es gab eine einfache Probe auf Gehorsam. Das Verbotene war keinesfalls etwas, das er unbedingt benötigte – nicht im geringsten. Er hatte alles, was er bedurfte und viel mehr; denn Gott zeigte sich als Derjenige, der Sich daran erfreut, überreichlich zu segnen, als Er den Menschen in das Paradies setzte. Die Aufgabe des Menschen war, seinen ersten Zustand zu bewahren. Er sollte einfach in seiner Stellung bleiben. Als er auf den Teufel hörte, wurde er nicht durch Gottes Herrlichkeit und durch Tugend berufen. Statt dessen war es ein Ruf zum Tun des Willens des Teufels. Er suchte seine eigene Unabhängigkeit im Ungehorsam gegen Gottes ausdrückliches Wort.

Wir hingegen sind durch Gottes Herrlichkeit berufen. Darin besteht der ganze Grundsatz des Christentums. Es nimmt den Gläubigen von dem Platz weg, auf dem er sich natürlicherweise befindet – und zwar, ach!, jetzt in Sünde. Darum wird davon als einer Berufung gesprochen. Die christliche „Berufung“ setzt voraus, daß das Evangelium da, wo es angenommen wird, sich mit der Seele in der Kraft des Geistes Gottes beschäftigt. Außerdem wird der, welcher es annimmt, aus der Lage herausgerufen, in die er durch die Sünde versunken ist, um nicht erneut in die Stellung Adams, sondern in eine ganz und gar andere Stellung versetzt zu werden. Es geht nicht länger um den Menschen auf der Erde. Er ist durch Gottes Herrlichkeit und durch Tugend berufen. Es geschieht durch Gottes eigene Herrlichkeit, weil Gott, wenn Er errettet, den Berufenen in nichts anderes als jene Herrlichkeit stellt. Die ausgesprochene Wirkung der Sünde ist, wie in Römer 3 gesagt wird, daß „alle nicht die Herrlichkeit Gottes (erreichen).“ Doch diese ist jetzt der Maßstab. Sind sie passend, um in der Gegenwart der Herrlichkeit Gottes zu stehen? – Die Herrlichkeit Gottes ist jetzt die Richtschnur des Gerichts für einen Sünder. Es geht nicht um den Wiedergewinn des verlorenen Paradieses oder das Halten des Gesetzes – selbst wenn es möglich wäre. Der Segen des Evangeliums besteht darin, daß es einen Menschen nicht auf den Platz des noch nicht gefallenen Menschen oder eines Juden auf der Erde, beruft, sondern durch Gottes Herrlichkeit – und, zusammen damit, durch Tugend. Es gibt eine heilige Einschränkung in Bezug auf eine Zulassung des Fleisches in irgendeiner Hinsicht. Das Evangelium führt nicht als den ersten großen Gesichtspunkt die Tugend ein, sondern Gottes eigene Herrlichkeit; und danach folgt die Tugend. Letztere ist der geistliche Mut, welcher der Befriedigung der alten Natur entgegen tritt.

„Durch welche er uns die größten und kostbaren Verheißungen geschenkt hat, auf daß ihr durch diese Teilhaber der göttlichen Natur werdet.“ [V. 4]. Das ist die Wirksamkeit der Berufung der Gnade. Eine neue Natur wird mitgeteilt, welche den Willen Gottes liebt und das Böse verabscheut, womit Satan die Welt überschwemmt hat. „Indem ihr dem Verderben entflohen seid, das in der Welt ist durch die Lust.“ Danach zeigt Petrus, daß es keine Zeit für Abwarten und Muße gibt. „Ebendeshalb reichet aber auch dar, indem ihr allen Fleiß anwendet, in eurem Glauben die Tugend [jenen sittlichen Mut, den ich schon beschrieben habe], in der Tugend aber die Erkenntnis, in der Erkenntnis aber die Enthaltsamkeit, in der Enthaltsamkeit aber das Ausharren, in dem Ausharren aber die Gottseligkeit, in der Gottseligkeit aber die Bruderliebe, in der Bruderliebe aber die Liebe.“ [V. 5–7]. Die letzten beiden Eigenschaften sind nicht dieselben. „Liebe“ ist viel mehr und tiefer als „Bruderliebe“. Letztere macht den Bruder zu einem herausragenden Gegenstand. Erstere prüft alles an Gott und Seinem Willen und Seiner Herrlichkeit. Daher ist es durchaus möglich, einen Christen voll brüderlicher Liebe zu finden, der aber traurig versagt, wenn die Liebe geprüft wird. Diese empfindet und besteht darauf, daß die erste aller Pflichten die Verwirklichung der Wege Gottes beinhaltet. „Hieran wissen wir“, schreibt Johannes (und wer könnte die Liebe besser kennen?), „daß wir die Kinder Gottes lieben, wenn wir Gott lieben und seine Gebote halten.“ [1. Johannes 5, 2].

Im nächsten Abschnitt des Kapitels wird das Königreich vorgestellt, welches wirklich der Hauptgegenstand von Petrus Zeugnis sowohl im ersten als auch im zweiten Brief darstellt. Da er im Begriff stand abzuscheiden, öffnet er sozusagen den gesegneten Ausblick auf das Eingreifen des Herrn, um das Böse in der Welt wegzunehmen und Seine eigene Macht und Güte hienieden zu entfalten. Das ist das Reich, welches beim Kommen unseres Herrn Jesus Christus eingeführt wird. Sein Kommen bzw. Seine Gegenwart umfaßt das Reich in seinem weiten Umfang.

Nachdem Petrus nachdrücklich davon gesprochen hat, unternimmt er äußerste Anstrengungen, um zu zeigen, daß es noch etwas Besseres gibt als den Ausblick auf das Königreich, so herrlich es auch sein wird. Es ist von überragender Bedeutung, hier klar zu sehen. Vers 19 eröffnet das Thema, den ich hier etwas genauer geben muß, als er in unserer Bibelversion steht2: „So besitzen wir das prophetische Wort befestigt, auf welches zu achten ihr wohl tut.“ Sie handelten durchaus richtig, indem sie die alten prophetischen Schriften festhielten. Besonders als Juden kannten sie jene Teile des Wortes Gottes; und der Apostel tadelt sie in keinster Weise dafür, daß sie ihnen eisern anhingen. So weit war alles gut. „Auf welches zu achten ihr wohl tut.“ Es war unnötig, sie zu einer wärmeren Aufmerksamkeit auf die Schriften zu drängen; und er lobt nachdrücklich ihre Beachtung des prophetischen Wortes im Alten Testament. Aber ob wir die Weissagungen im Alten oder Neuen Testament untersuchen – das darf nicht dazu führen, daß diese Studien zu einem alles andere ausschließenden Thema wird. Sie sollten unsere Gefühle nicht zu tief beschäftigen, denn sie vermögen unseren Sinn so weit zu erfüllen, daß für bessere Dinge kein Raum mehr bleibt. Schon ihr Wesen verbietet, daß sie unsere Herzen, welche durch den Glauben gereinigt sind, in dieser Weise ausfüllen. Daher meint der Apostel auch nicht, daß die Prophetie jemals einen solchen Platz einnehmen sollte. Wenn er sagt: „Auf welches zu achten ihr wohl tut“, fügt er noch den lehrreichen Vergleich hinzu: „Als auf eine Lampe, welche an einem dunklen Orte leuchtet.“ Das ist ein Bild von der Prophetie. Er hört hier nicht auf, sondern richtet die Blicke auf ein anderes und strahlenderes Licht – „bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen.“ Petrus schreibt also, daß die Weissagung eine von Gott gegebene Lampe für diesen dunklen Schauplatz ist. Niemand kann, ohne Schaden zu nehmen, das Licht verwerfen, welches sie auf diesen finsteren Ort wirft – diese Welt, die bald gerichtet wird. Die Prophetie zeigt uns das schreckliche Ende und dient uns als Schutz während unseres Weges hindurch.

Als eine Lampe für die Dunkelheit ist die Weissagung ausgezeichnet geeignet. Zu diesem Zweck wurde sie von Gott gegeben. Darum darf kein Christ sich erlauben, sie zu vernachlässigen oder über ihr Studium als eine wenig nützliche Beschäftigung hinwegzugehen, als hätte sie keinen Anspruch an Aufmerksamkeit und sei völlig ohne Lohn. Sie war damals durchaus wichtig. Aber jene Briefempfänger sollten sehen, daß das Herz einen weit besseren Schatz besitzt. Was könnte dieser sein? – Natürlich nicht das Christentum als Ganzes, sondern die christliche Hoffnung! Das Kommen des Herrn und alles das, was mit Ihm in der Höhe als Hoffnung für den Christen und die Kirche in Verbindung steht, darf nicht auf ein einfach nur prophetisches Ereignis herab gemindert werden. Die Prophetie beschäftigt sich mit der Erde, mit den Juden, mit den Nationen und mit dem Bösen hienieden. Sie verkündet den Menschen, daß sie so schlecht sind, daß der Herr kommen und sie richten muß, um dann Sein eigenes Königreich nicht länger nur im sittlichen Sinn oder im Zeugnis einzuführen, sondern in Macht und Herrlichkeit. Ist das indessen alles, was Christus für uns bedeutet? Verwechselst du die christliche Hoffnung mit dem Gericht über Babylon, der Überwältigung der Nationen und der Wiederherstellung Israels? Ein Christ besitzt den Glauben, daß dem Grundsatz nach alles Böse vor langer Zeit am Kreuz gerichtet worden ist. Es wurde schon unumschränkt und vollständig verurteilt über alles hinaus, was an Bösem in dem Erschaffenen auf der Erde vorhanden ist. Die Hoffnung des Christen erhebt sich daher weit über eine Offenbarung der Entfaltung der Macht in Gerechtigkeit sowie auch in Barmherzigkeit, welche das Böse wegnimmt und danach eine schon so lange Zeit mit Schuld beladene und elende Welt mit Friede, Freude und jeder Form einer Schöpfungsgüte segnet. Die christliche Hoffnung nimmt den Christen ganz und gar aus der Welt heraus, um in der Herrlichkeit mit Christus, dem Gegenstand seines Herzens, zu weilen. Darum sagt Petrus: „Bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen.“ Von welchem Zeitpunkt redet er hier? – Wenn der Christ sich diese Hoffnung zu eigen macht! Wenn die Prophetie ihn nicht mehr nur warnt, sondern auch sein Herz erreicht und mit der himmlischen Hoffnung erfüllt! Es geht um das Licht eines besseren Tages, ja, um Christus Selbst, der Quelle und dem Mittelpunkt von allem.

Folglich bedeutet der Ausdruck „bis der Tag anbreche“ nicht „bis der Tag kommt“ – d. h. bis die Sonne der Gerechtigkeit mit Heilung in ihren Flügeln aufgeht und die Gesetzlosen wie Asche unter den Füßen zertreten werden. [Vergl. Maleachi 4, 2–3!]. Letzteres meint dieser Ausdruck keinesfalls. Es ist das Aufdämmern des Tages in unseren Herzen. Es ist eine Hoffnung, die wir jetzt verwirklichen sollen, weil wir Söhne des Tages sind. [Vergl. 1. Thessalonicher 5, 5!]. Demnach sollten wir schon jetzt in unseren Herzen das Tageslicht aufdämmern und den Morgenstern aufgehen sehen. Eine aus Gott geborene Seele mag allem in der Prophetie glauben – und es ist gut, sie ganz zu beachten! – das ist indessen nicht genug. Nicht der Untergang Ninives, nicht das Gericht über die große Hure, noch die Vernichtung des Tieres sind die christliche Hoffnung. Unsere Hoffnung besteht darin, daß wir und alle Christen aus der Welt herausgenommen und in die himmlische Herrlichkeit versetzt werden. Das Licht der Lampe genügt also nicht. Wir benötigen vor allem das Tageslicht. So gut eine Lampe auch sein mag – ihre Hauptaufgabe besteht darin, an einem dunklen Ort zu leuchten, „bis der Tag anbreche.“ Es geht nicht darum, noch mehr Licht von ihr zu empfangen, sondern daß das Licht ein viel strahlenderes Wesen entfaltet, nämlich als Tageslicht. Auch meint Petrus hier nicht die tatsächliche Ankunft des Tages, sondern das Licht des Tages, bevor er selbst erscheint: „Bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen.“ Christus wird in diesem himmlischen Licht dem Christen offenbar gemacht. Das ist nicht Christus, wie Er sich mit der Welt beschäftigt und die Nationen richtet. So wird Christus in der Prophetie beschrieben. Dem Christen wird Er indessen auf eine ganz andere Weise vorgestellt.

Kurz gesagt, meint der Apostel, daß es gut ist, die prophetische Lampe festzuhalten, anstatt sie in irgendeiner Weise herabzusetzen, vorausgesetzt, wir lassen sie an dem ihr gemäßen Platz. Sie zeigt im voraus das Gericht der Welt und trennt den Gläubigen, falls er ihr glaubt, von der Welt. Das ist indessen verneinend. Gehören wir nicht zu einem anderen Schauplatz? Es ist auf jeden Fall gut, der Welt unseren Rücken zuzukehren, welche von der prophetischen Lampe verurteilt wird. Aber wenden wir genauso unsere Gesichter dem Licht zu, das von oben herab aufdämmert? Es gibt zur Zeit viele Christen, die ganz und gar erfüllt sind von den Veränderungen in Bezug auf die Erde, sei es, daß sie schon ablaufen, sei es, daß wir sie voraussehen können. Mit dieser Beschäftigung vergeuden sie Gedanken und Zeit an einen keineswegs dazu würdigen, aufbauenden und heiligenden Gegenstand für ihre Gefühle. Wie kann jemand Gefühle bezüglich des Gerichts über Babylon oder das Tier empfinden? Dazu bin ich nicht berufen. Die Lampe zeigt mir diese Dinge; und ich bin froh, gewarnt zu werden. Zudem bin ich verantwortlich, andere zu warnen. Andererseits – bin ich nicht berufen, den einzigen dazu würdigen Gegenstand mein Herz füllen zu lassen? Das ist Christus Selbst, und zwar nicht in der Ausübung des Gerichts, sondern in der Fülle der Gnade, in der Er im Begriff steht, uns aus der Welt in den Himmel zu holen. Unsere Herzen sollten nicht zu sehr erfüllt sein von dem Gedanken, daß wir Beisitzer bei dem Gericht über die Welt sein werden, wenn Er in Herrlichkeit erscheint!

Darum stelle ich mich energisch jenen herabsetzenden Versuchen entgegen, die gemacht wurden, den Ausdruck „in euren Herzen“ von diesem Vers zu trennen. Es ist traurig, solche Versuche zu sehen und zu wissen, daß Christen sich davon beeinflussen lassen. Noch heute Morgen schaute ich in ein Buch, in welchem eine außerordentlich irreführende Klammer zu finden ist, als ob die Bedeutung der Worte wäre: „Auf welches zu achten ihr wohl tut in euren Herzen.“ Auf diese Weise wird die Beziehung von „in euren Herzen“ zu „bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe“ aufgehoben. Kann man dieses anders als widerwärtig bezeichnen?

Es gibt noch eine andere Weise, in der, wie ich bemerkt habe, die Wahrheit zerstört werden soll, und zwar indem der Ausdruck „in euren Herzen“ mit „indem ihr dies zuerst wisset“ verbunden wird. Dafür finden wir weder bei Petrus noch irgend jemand sonst einen Vergleichsfall. Außerdem sehe ich darin keinen Sinn außer die offensichtliche Absicht, den Wert der himmlischen Hoffnung für das Herz auszulöschen. Solch einen Umgang mit dem Text kann ich nicht einfach als Irrtum bezeichnen, sondern vielmehr als einen unverantwortlichen Eingriff in das Wort Gottes. Es besteht nicht die geringste Grundlage für die erste sowie die zweite Abänderung der Satzzeichensetzung. Unsere Bibelversion ist auf jeden Fall in dieser Hinsicht korrekt.

Es mag vielleicht für einige Untersucher der Bibel hilfreich sein, wenn ich ihnen zeige, daß Petrus diese Gedanken für einen einfachen Leser des englischen [und auch des deutschen; Übs.] Textes vollkommen bestätigt. Im ersten Brief steht geschrieben: „Heiliget Christus, den Herrn, in euren Herzen.“ [1. Petrus 3, 15]. Daraus wird ersichtlich, daß der Ausdruck „in euren Herzen“ in den Petrusbriefen nicht bedeutungslos ist. Wenn wir nicht „Christus, den Herrn, in unseren Herzen“ heiligen, empfangen wir sowohl aus der Prophetie als auch aus der himmlischen Hoffnung nicht viel Segen. Wenn wir es indessen tun, besteht die höchste Bedeutung darin, daß Christus als der Morgenstern in unseren Herzen aufgeht. Hingegen befriedigt uns eine Kenntnis der Prophetie, wie sie ein gottesfürchtiger Jude früherer Zeit besessen hat, nicht. Beachte auch den Ausdruck „dieses zuerst wisset“ in 2. Petrus 3, 3! Wir finden dort genauso wenig eine Verbindung zu „in euren Herzen“ wie in unserem Vers.

Es ist schwer, mit Geduld von diesen übereilten Umgangsweisen mit dem Wort Gottes zu reden. Tatsächlich halte ich es für eine große Sünde, wenn die Schrift verdreht wird in Hinsicht auf die Absicht, zu der Gott sie geschrieben hat. Wenn vorgebracht wird, daß diese Neuerungen mit bester Absicht geschehen, erhebt sich die Frage, ob jemand die Freiheit hat, ohne sehr guten Grund die Gestalt des Textes zu ändern, insbesondere wenn uns davon nichts mitgeteilt wird.3 Zu dieser Bibelstelle zum Beispiel finden wir in einem Buch, das versichert, eine bevollmächtigte Version der Bibel zu sein, diese Abänderung. Ein Leser nimmt dieses Buch unvoreingenommen, ohne von irgendeiner Änderung in der Zeichensetzung zu wissen – und seine Hoffnung ist zerstört, bevor er überhaupt weiß wodurch. Das folgt, wenn du der Form des Buches, wie es die Zusammensteller (Kompilatoren) von dir wünschen, vertraust.

Es folgt noch ein weiterer Ausdruck, zu dem es gut sein mag, ein Wort zu sagen: „Keine Weissagung der Schrift (ist) von eigener Auslegung.“ [V. 20]. Viele fragen sich: Was bedeutet das? Natürlich wird hier nicht an den Irrtum des Katholizismus gedacht. Das Gegenmittel dafür, die Prophetie zu einer Angelegenheit eigener Auslegung zu machen, ist nicht die kirchliche Überlieferung. Ich spreche jetzt nicht zu Personen, die von solchen Gedanken beeinflußt sind, und brauche daher nicht ihre bedeutungslose (irrelevante) Ungereimtheit herauszustellen. Es gibt hingegen auch viele Protestanten, die wie Bischof Horsley4 denken, das Mittel, um eigene Auslegung der Weissagung zu verhindern, liege darin, die Geschichte die Prophetie auslegen zu lassen. In dieser Vorstellung sehe ich, wie ich bekenne, nur eine geringe Änderung zum Besseren. Wenn du von der Kirche eine Auslegung der Weissagung erwartest oder in die Welt hineinblickst, um dort die Auslegung zu lesen, so ist das eine klägliche Auswahl. Außerdem ist diese Verfahrensweise so weit wie möglich von dem Sinn dieser Bibelstelle entfernt. Der Vers besagt, daß keine Weissagung der Schrift von eigener unabhängiger Auslegung ist. Beschränke eine Prophezeiung auf das besondere Ereignis, welches vermutlich jene Schriftstelle meint, so macht du sie zu einem Gegenstand „eigener“ Auslegung. Wenn du zum Beispiel die Prophezeiung von Babylons Fall in Jesaja 13 und 14 so betrachtest, machst du sie zu einer eigenen Auslegung. Wieso? – Weil du das Ereignis mit der Prophezeiung zur Deckung bringst – du legst die Weissagung durch das Ereignis aus! Das ist genau das, was die biblische Prophetie nie tun wird. Um den Leser von diesem Irrtum zu befreien, schreibt der Apostel diese Worte. Die Wahrheit liegt hingegen darin, daß jede Prophetie die Aufrichtung des Reiches Christi zum Thema hat. Wenn du die Linien der Prophetie von diesem großen Mittelpunkt trennst, auf den alles zuläuft, zerstörst du die eigentliche Verbindung der Prophetie mit dem Zentrum. Das ist wie ein Absägen der Zweige von einem Baum, zu dem sie gehören, oder das Abtrennen der Glieder von einem Leib, von dem sie wesentliche Bestandteile sind.

So ist es mit der Weissagung. Alle Prophetie läuft hin auf das Königreich Christi, denn sie kommt vom Heiligen Geist. Wenn es sich um Vorhersagen von Menschen handeln würde, dürfte man sie auf ein besonderes Ereignis anwenden. Damit wären sie erfüllt. Sie wären dann eine weise Vermutung gewesen, anderenfalls ein Irrtum. Aber setzen wir voraus, die Vorhersage war richtig, so geschah sie doch innerhalb der Grenzen des Verstandes eines Menschen. Das gilt aber nicht für die Prophetie der Bibel. Dem Geist Gottes genügt kein Ziel, welches nicht das Reich Christi ist. Darum schaut die Prophetie als Ganzes gesehen voraus auf jenes strahlende Ende. Sie mag schon eine teilweise Erfüllung gefunden haben, eine richtige, aber beiläufige Anwendung. Sie verfehlt jedoch nie, von Christi Kommen und „jenem Tag“ zu sprechen. Aus demselben Grund wurden Mose und Elia mit den Worten „Dieser ist mein geliebter Sohn, ihn höret!“ [Markus 9, 7] weggenommen, als Petrus auf dem Berg der Verklärung beide mit dem Herrn Jesus annähernd auf einen Boden stellte. Gottes Gegenstand ist nicht Mose oder Elia; es ist Christus, der geliebte Sohn Gottes. Genauso handelt der Geist Gottes in der Prophetie. Er hat denselben Gegenstand wie der Vater vor Augen, nämlich die Herrlichkeit des Herrn Jesus. Wie der Vater ausschließlich an der Herrlichkeit Seines Sohnes festhält, blickt der Heilige Geist in der Prophetie auf das Königreich, das dem Herrn Jesus unterstellt werden soll. Darum lesen wir: „Die Weissagung wurde niemals durch den Willen des Menschen hervorgebracht, sondern heilige Männer Gottes redeten, getrieben vom Heiligen Geiste.“ [V. 21]. Sie konnten folglich keinen anderen Gegenstand vor Augen haben als der Heilige Geist, der sie inspirierte. Von dieser Voraussetzung aus muß die Weissagung ausgelegt werden und nicht für sich. Sie bildet einen Teil des Zeugnisses des Heiligen Geistes zu Gottes Absicht, Christus zu verherrlichen.

Fußnoten

  • 1 Vergl. „Lutherbibel“! (Übs.).
  • 2 Anm. d. Übers.: In der „King-James-Bible“ steht: „We have also a more sure word of prophecy; whereunto ye do well that ye take heed.“ („Wir besitzen auch ein gewisseres prophetisches Wort, auf welches zu achten ihr wohl tut.“)
  • 3 z. B. in einer Anmerkung oder Fußnote. (Übs.).
  • 4 Wahrscheinlich der anglikanische Bischof Samuel Horsley (1733–1806). Nach Encyclop. Britann., 11. Aufl., 1910–11. (Übs).
Nächstes Kapitel »