Das wahrhaftige Licht
Eine Auslegung zum Johannesevangelium

Kapitel 20

Das wahrhaftige Licht

Einleitung

In jedem der vier Evangelien werden die Auferstehung und auch alles andere so dargestellt, wie es dem besonderen Charakter des betreffenden Evangeliums entspricht. Das Lukasevangelium zum Beispiel stellt den Herrn Jesus in seiner Vollkommenheit als den Sohn des Menschen dar. Deshalb finden wir hier Einzelheiten, die beweisen, dass Er nach seiner Auferstehung immer noch wahrer Mensch war. So aß Er Fisch und von einer Honigscheibe (Lk 24,42). Johannes dagegen hat das Ziel, den „Eingeborenen vom Vater“ (Joh 1,14) zu zeigen; deshalb zitiert nur er die Worte des Herrn nach seiner Auferstehung, dass Er im Begriff stehe, zu seinem Vater aufzufahren.

Im Verlauf des 20. Kapitels spielen sich drei verschiedene Szenen ab. Zuerst finden wir in den Versen 1–18 die Begebenheit, die sich früh am Morgen der Auferstehung ereignet. Maria Magdalene spielt darin eine bedeutende Rolle: Sie soll die Jünger mit der neuen Stellung bekannt machen, in der sie sich nun befinden. Der Herr gebraucht Maria, um die Seinen auf den neuen christlichen Boden zu führen. Zweitens finden wir in den Versen 19–23 den Bericht, wie der Herr seinen Jüngern am selben Tag am Abend erscheint und ihnen einen Vorgeschmack seiner Gegenwart und seiner Leitung inmitten der Versammlung gibt. Drittens wird in den Versen 24–31 berichtet, dass der Herr den Seinen acht Tage später erscheint. Diese Begebenheit scheint eine Vorausschau auf den gottesfürchtigen Überrest der Juden zu sein, der in der Zukunft besondere Segnungen empfangen und den Anfang der Wiederherstellung Israels bilden wird.

Das leere Grab

Johannes 20,1–10

Verse 1.2: Am ersten Tag der Woche aber kommt Maria Magdalene früh, als es noch dunkel war, zur Gruft und sieht den Stein von der Gruft weggenommen. Sie läuft nun und kommt zu Simon Petrus und zu dem anderen Jünger, den Jesus lieb hatte, und spricht zu ihnen: Sie haben den Herrn aus der Gruft weggenommen, und wir wissen nicht, wo sie ihn hingelegt haben.

Falls andere Frauen Maria begleiteten, wie es die synoptischen Evangelien anzudeuten scheinen, so stellt Johannes in seinem Bericht nur Maria in den Vordergrund. Sie war von Dämonen besessen gewesen, aber der Herr hatte sie aus diesem schrecklichen Zustand befreit. Nun hing ihr Herz an dem Einen, der sie befreit hatte: Zusammen mit einigen anderen Frauen hatte Maria den Herrn begleitet und Ihm aufopfernd gedient (Lk 8,23; 23,55; 24,10). Ihre Liebe war offenbar tiefer als die der anderen und wohl aus diesem Grund wird sie in dieser wunderschönen Szene in den Vordergrund gestellt. Was lernen wir daraus? Was Christus am meisten wertschätzt, ist Liebe zu Ihm; sie ist Ihm wertvoller als Dienst. Denken wir an die Versammlung in Ephesus: In ihren Werken und ihrer Arbeit bzw. Mühe war sie vorbildlich, aber der Herr musste ihr sagen: „Du hast deine erste Liebe verlassen“ (Off 2,4). Vielleicht werden viele Dienste mit mangelnder Liebe verrichtet; doch es gibt kaum hingegebene Liebe zum Herrn, ohne dass wir in seinem Dienst gebraucht werden. Wir werden daher noch sehen, wie der Herr diese hingegebene Frau als Bindeglied zwischen Ihm und seinen Jüngern gebraucht.

Es war die Liebe, die Maria unwiderstehlich dorthin zog, wo der Leib des Herrn – wie sie beobachtet hatte – ins Grab gelegt worden war. Dabei dachte sie überhaupt nicht an eine Auferstehung des Herrn – anscheinend erwartete nicht einer der Jünger, dass Er auferstehen würde. Maria findet keine Ruhe in einer Welt, wo Christus nicht ist. Sie kommt „früh, als es noch dunkel war, zur Gruft“, doch sie bemerkt, dass der Stein weggenommen und das Grab leer ist. In ihrer Verzweiflung eilt sie zu den beiden führenden Aposteln, um ihnen zu berichten: „Sie haben den Herrn aus der Gruft weggenommen, und wir wissen nicht, wo sie ihn hingelegt haben“ (V. 2). Das leere Grab ist offensichtlich kein Beweis für Maria, dass der Herr auferstanden war; das Einzige, was ihr in den Sinn kommt, ist der unwürdige Gedanke, dass es Weltmenschen erlaubt worden war, den Leib des Herrn wegzutragen.

Verse 3.4: Da ging Petrus hinaus und der andere Jünger, und sie gingen zu der Gruft. Die beiden aber liefen zusammen, und der andere Jünger lief voraus, schneller als Petrus, und kam als Erster zu der Gruft.

Die beiden Jünger laufen sofort zum Grab. Der Geist Gottes betont besonders, dass Petrus zwar scheinbar der Erste war, er jedoch eingeholt wird. Der Jünger, der sich selbst fünfmal als „den Jünger, den Jesus liebte“, bezeichnet (Johannes), holt den Jünger ein, der sich seiner Liebe zu Jesus gerühmt hatte (Petrus). Dieses scheinbar kleine Ereignis ist sicherlich zu unserer Belehrung aufgeschrieben worden. Vielleicht soll es uns nur daran erinnern, dass derjenige, der in der Liebe Christi ruht, im geistlichen Wachstum jene übertrifft, die sich ihrer Liebe zu Christus allzu sehr rühmen. Dies ist umso bedeutender in einem Abschnitt, der Marias hingegebene Liebe zu Christus hervorhebt. Vielleicht beneiden wir Maria wegen ihrer großen Liebe zu Christus; lasst uns jedoch vor allem in der Liebe Christi zu uns ruhen.

Verse 5–10: ... und sich vornüberbückend, sieht er die Leinentücher liegen; doch ging er nicht hinein. Da kommt auch Simon Petrus, ihm folgend, und ging in die Gruft hinein und sieht die Leinentücher liegen und das Schweißtuch, das auf seinem Haupt war, nicht bei den Leinentüchern liegen, sondern für sich zusammengewickelt an einem Platz. Dann ging nun auch der andere Jünger hinein, der als Erster zu der Gruft gekommen war, und er sah und glaubte. Denn sie kannten die Schrift noch nicht, dass er aus den Toten auferstehen musste. Da gingen die Jünger wieder heim.

Als die beiden Jünger am Grab stehen, bemerken sie, dass die Leintücher und das Schweißtuch „für sich zusammengewickelt an einem Platz“ liegen (V. 7). Diese Einzelheiten werden nur im Johannesevangelium berichtet. Offensichtlich war der Leib nicht aus dem Grab gestohlen worden, denn warum wären in solch einem Fall die Grabtücher zurückgelassen worden? Doch noch stärker ist das Zeugnis der Macht dieser herrlichen Person: Nachdem sie vom Todesschlaf auferstanden ist, hat sie die Grabgewänder geordnet hinterlassen. Lazarus kam in seine Grabgewänder gewickelt aus der Gruft heraus, während der Herr sie zurückließ. Angesichts solcher Beweise sind die beiden Jünger überzeugt, dass der Herr sich nicht mehr im Grab befindet. Doch dies ist ein Glaube, der sich auf Sichtbares gründet, so wie wir von Johannes lesen: „Er sah und glaubte“ (V. 8). Sie nahmen mit ihren Sinnen wahr, dass Er fort war, aber „sie kannten die Schrift noch nicht, dass er aus den Toten auferstehen musste“ (V. 10). Deshalb gehen die beiden Jünger wieder nach Hause.

Maria Magdalene

Johannes 20,11–18

Verse 11–16: Maria aber stand bei der Gruft draußen und weinte. Als sie nun weinte, bückte sie sich vornüber in die Gruft und sieht zwei Engel in weißen Kleidern sitzen, einen zu dem Haupt und einen zu den Füßen, da, wo der Leib Jesu gelegen hatte. Und diese sagen zu ihr: Frau, warum weinst du? Sie spricht zu ihnen: Weil sie meinen Herrn weggenommen und ich nicht weiß, wo sie ihn hingelegt haben. Als sie dies gesagt hatte, wandte sie sich zurück und sieht Jesus dastehen; und sie wusste nicht, dass es Jesus war. Jesus spricht zu ihr: Frau, warum weinst du? Wen suchst du? Sie, in der Meinung es sei der Gärtner, spricht zu ihm: Herr, wenn du ihn weggetragen hast, so sage mir, wo du ihn hingelegt hast, und ich werde ihn wegholen. Jesus spricht zu ihr: Maria! Sie wendet sich um und spricht zu ihm auf Hebräisch: Rabbuni! - das heißt Lehrer.

Den Jüngern fehlt nicht nur die göttliche Einsicht, die das Wort gibt, sondern ihnen fehlt auch die ungeteilte Liebe zu Christus, die Ihn zum höchsten Ziel der Seele macht. Bei Maria ist es ganz anders. Es mag auch ihr an Verständnis fehlen, aber ihre Liebe zu Christus hat sie derart gefesselt, dass sie nur an Christus denkt. Sie kann keine Ruhe und keine Heimat finden in einer Welt, wo Er nicht anwesend ist. Daher lesen wir: „Maria aber stand bei der Gruft draußen und weinte“ (V. 11). Ihre Liebe zu Christus macht sie in diesem Moment zu einer einsamen Frau mit einem gebrochenen Herzen. Wenn Christus fort ist, dann ist für Maria alles verloren. Aber beachten wir, dass sie gerade an diesem einsamen Ort Christus findet und durch Ihn in neue, himmlische Beziehungen eingeführt wird. Ihre Liebe zu Ihm löst sie von dieser Welt und die Gemeinschaft mit Ihm führt sie hin in eine andere Welt.

In ihrer Verlassenheit wirft Maria einen Blick ins Grab und bemerkt zwei Engel, die zu ihr sagen: „Frau, warum weinst du?“ Maria, ganz versunken in ihre Gedanken an Christus, zeigt sich nicht überrascht, diese himmlischen Wesen zu sehen. Zu den Jüngern hatte sie gesagt: „Sie haben den Herrn weggenommen“; den Engeln dagegen antwortet sie: „weil sie meinen Herrn weggenommen haben“. Was andere auch immer von Jesus denken, Maria kann voll Zuversicht, die in der Liebe ihren Ursprung hat, sagen: „Er ist mein.“

Solch einem Menschen gibt der Herr sich gern zu erkennen. Maria dreht sich um und sieht jemand, den sie für den Gärtner hält und der sie fragt: „Frau, warum weinst du? Wen suchst du?“ Ohne den Namen des Einen, den sie sucht, zu nennen, erwidert sie: „Herr, wenn du ihn weggetragen hast, so sage mir, wo du ihn hingelegt hast, und ich werde ihn wegholen“ (V. 15). Da ihr Herz von Christus erfüllt ist, nimmt sie an, dass alle wissen, wen sie meint. Sofort gibt der Herr sich mit einem einzigen Wort zu erkennen: „Maria!“ Wie so oft in diesem Evangelium ruft der Hirte sein Schaf beim Namen; das Schaf hört seine Stimme und erkennt Ihn freudig als seinen Herrn an.

Verse 17.18: Jesus spricht zu ihr: Rühre mich nicht an, denn ich bin noch nicht aufgefahren zu meinem Vater. Geh aber hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater und meinem Gott und eurem Gott. Maria Magdalene kommt und verkündet den Jüngern, dass sie den Herrn gesehen und er dies zu ihr gesagt habe.

Der Herr gibt sich nicht nur gern dem zu erkennen, der an Ihm hängt, sondern Er weiht ihn auch in die Geheimnisse seines Herzens ein. Außerdem kann Er Maria in seinem Dienst gebrauchen: Er verleiht ihr die große Ehre, den Jüngern seine göttlichen Geheimnisse zu überbringen. Obwohl Maria vielleicht ebenso unwissend war wie die Jünger zu diesem Zeitpunkt, so ist doch echte Liebe vorhanden, und durch Liebe lernen wir die göttliche Wahrheit verstehen. Daher kann der Apostel Paulus später beten, dass wir „in Liebe gewurzelt und gegründet“ seien, damit wir „völlig zu erfassen vermögen“ (Eph 3,17.18). Maria war offensichtlich die Erste, die die Resultate der Auferstehung verstand. Sie repräsentiert die Gefühle des gottesfürchtigen jüdischen Überrests und klammert sich an ihren auferstandenen Herrn mit dem Gedanken: Nun, da Er wiedergekommen ist – nicht mehr in Erniedrigung, sondern in der Auferstehungsherrlichkeit –, wird Er seinen Platz auf der Erde als der rechtmäßige Erbe aller Dinge einnehmen. Aber Maria und der Überrest müssen lernen: Bevor die Herrlichkeiten des Königreichs kommen, hält Gott noch größere Herrlichkeiten für Christus und umfassendere Segnungen für sein Volk bereit. Deshalb kann der Herr sagen: „Rühre mich nicht an, denn ich bin noch nicht aufgefahren zu meinem Vater. Geh aber hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater und meinem Gott und eurem Gott“ (V. 17).

Damit deutet der Herr drei Dinge an:

  1. Man soll Ihn nicht mehr „anrühren“ (V. 17) oder nach dem Fleisch kennen (vgl. 2. Kor 5,16) – d. h. in Verbindung mit der Erde und mit einem irdischen Königreich sondern wir sollen Ihn in neuen, himmlischen Beziehungen kennen.
  2. Der Herr kann von seinen Jüngern als von seinen „Brüdern“ sprechen. Nie zuvor hatte Er seine Jünger als seine Brüder bezeichnet, aber nachdem Er sie durch seinen Tod geheiligt hat, „schämt er sich nicht, sie Brüder zu nennen“ (Heb 2,11). So wie die Braut im Hohelied Salomos sagen kann: „Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein“ (Hld 2,16), so sagt Maria mit liebendem Herzen: „Mein Herr“, und Jesus kann in seiner unermesslichen Liebe darauf eingehen, indem Er die Seinen „meine Brüder“ nennt.
  3. Wir erfahren, dass die Seinen in neue und himmlische Beziehungen gebracht worden sind. Der Herr spricht nämlich nicht nur davon, dass Er in den Himmel auffährt und folglich die Erde verlässt. Er spricht auch davon, dass Er zu einer Person zurückkehrt – zum Vater. Durch sein Werk bringt Er uns in eine Beziehung zum Vater, sogar in die Beziehung, die Er selbst zum Vater hat, und darum kann Er sagen: „mein Vater und euer Vater, mein Gott und euer Gott“. Der Sohn Gottes fährt auf zum Himmel, um uns vor dem Vater zu vertreten, und wir werden hier auf der Erde gelassen, um Ihn vor der Welt darzustellen.

Maria hat das große Vorrecht, dass sie gebraucht wird, um den Jüngern diese neuen, himmlischen Segnungen mitzuteilen. Dadurch werden wir an eine Wahrheit erinnert, die wir oft nur langsam lernen und auch schnell wieder vergessen: Es ist für den Herrn eine Freude, den Schwachen und den Niedrigen zu erwählen, um durch ihn den höchsten Dienst auszuführen. Wie oft hat ein großes Werk Gottes angefangen mit etwas, was in den Augen der Menschen gering und schwach ist! Das Christentum hat mit einem kleinen Kind in einer Krippe angefangen; das Reich der Himmel begann mit der Größe eines Senfkorns und die neuen, himmlischen Beziehungen werden durch eine weinende Frau bekannt gemacht.

In Maria sehen wir das, was für Christus so kostbar ist: ein Herz voller überwältigender Liebe zu Ihm. So einem Menschen kann Er sich offenbaren, so jemand kann Er in das Verständnis göttlicher Dinge einführen und in seinem Dienst gebrauchen. Die sieben Sendschreiben beschreiben, wie die Kirche in ihrer Verantwortung versagt hat: Es fing an in Ephesus mit einem Dienst ohne erste Liebe und endet in Laodizea mit Erkenntnis ohne Hingabe. Bloße Erkenntnis wird nie zu einem liebenden Herzen führen, wogegen ein liebendes Herz gewiss Erkenntnis erlangen wird. Denn es gefällt dem Herrn, dem, der Ihm in Liebe zugeneigt ist, Einsicht in geistliche Dinge zu geben. Wir mögen viel

Erkenntnis in göttlichen Dingen haben, aber wenn dies unsere Herzen nicht näher zu Christus bringt und Christus nicht in uns Gestalt gewinnt, wird dies nur die Eitelkeit des Fleisches befriedigen. „Die Erkenntnis bläht auf, die Liebe aber erbaut“ (1. Kor 8,1). Das, was am Anfang des Zeitalters der Versammlung vor allem anderen die Zustimmung unseres Herrn fand – nämlich die Liebe des Einzelnen zum Ihm –, danach hält Er auch noch am Ende Ausschau – auch dann, wenn alles in unseren Händen zerstört ist, weil wir die erste Liebe verlassen haben. Inmitten des Verfalls ist seine letzte Bitte an uns, dass wir uns an seine Liebe zu uns erinnern, und Er wartet darauf, dass wir diese Liebe erwidern. Deshalb hören wir Ihn sagen: „Ich überführe und züchtige, so viele ich liebe. Sei nun eifrig und tu Buße! Siehe, ich stehe an der Tür und klopfe an; wenn jemand meine Stimme hört und die Tür öffnet, zu dem werde ich hineingehen und das Abendbrot mit ihm essen, und er mit mir“ (Off 3,19.20). Er fordert nicht irgendein großes Opfer oder einen Dienst, der vor der Welt groß erscheint oder uns in den Augen der Menschen erhebt. Nein, Er sucht ein Herz, das seine Liebe erwidert und so in die Gemeinschaft mit Ihm geführt wird. So jemand wird Er gewiss eine Tür für den Dienst öffnen, doch es wird ein Dienst sein, der aus Liebe heraus getan wird.

Der Herr Jesus in der Mitte der Seinen

Johannes 20,19–23

Verse 19–23: Als es nun Abend war an jenem Tag, dem ersten der Woche, und die Türen da, wo die Jünger waren, aus Furcht vor den Juden verschlossen waren, kam Jesus und stand in der Mitte und spricht zu ihnen: Friede euch! Und als er dies gesagt hatte, zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da freuten sich die Jünger, als sie den Herrn sahen. Jesus sprach nun wieder zu ihnen: Friede euch! Wie der Vater mich ausgesandt hat, sende auch ich euch. Und als er dies gesagt hatte, hauchte er in und spricht zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist! Welchen irgend ihr die Sünden vergebt, denen sind sie vergeben, welchen irgend ihr sie behaltet, sind sie behalten.

Im zweiten Teil des Kapitels werden uns die Ereignisse berichtet, die sich am gleichen Tag gegen Abend zutragen, als der Herr zu den Seinen kommt. In dieser Szene wird die neue Ordnung des Segens vorweggenommen und wir sehen ein Bild der Versammlung und ihrer Vorrechte. Die Jünger versammelten sich am „ersten Tag der Woche“, der später „des Herrn Tag“ genannt wird (Off 1,10) – im Gegensatz zu dem Sabbat der Juden. Es war der Tag, an dem die Jünger damals zusammenkamen, „um Brot zu brechen“ (Apg 20,7).

Als die Jünger zusammenkamen, waren die Türen aus Furcht vor den Juden verschlossen. Offensichtlich waren die Jünger ganz abgesondert vom religiösen Verfall jener Zeit. Sie bildeten eine abgesonderte Gemeinschaft.

Zu diesen versammelten Jüngern „kommt Jesus und steht in ihrer Mitte“ (V. 19). Er bildet den Mittelpunkt ihrer Zusammenkunft. Obwohl Er seit seiner Himmelfahrt unter seinem Volk nicht mehr sichtbar erschienen ist, sind doch seine Worte immer noch gültig: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte“ (Mt 18,20). Diese kleine Gruppe schwacher Menschen war in ihrer Umgebung wahrscheinlich unbekannt, oder falls man sie doch kannte, so waren sie verachtet und ohne Bedeutung; doch an diesem Tag war sie sicherlich die ehrwürdigste Gruppe in Jerusalem, da der Herr in ihrer Mitte war. Wir stellen fest, dass der Herr in seinem verherrlichten Leib in ihre Mitte kommt, als „die Türen verschlossen waren“, und acht Tage später kommt Jesus noch einmal: „Da kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren“ (V. 26). Jemand hat darauf hingewiesen, es werde nicht erwähnt, dass die Türen sich öffneten, um den Herrn einzulassen, so wie sie sich öffneten, um Petrus aus dem Gefängnis zu lassen (Apg 12,10; 5,19). Wir dürfen dies auch nicht als ein Wunder ansehen, so wie es ein Wunder für unseren Körper in seiner jetzigen Beschaffenheit wäre. Es war etwas ganz Normales für den Herrlichkeitsleib, so wenig wir dies auch verstehen können.

Nachdem der Herr zu den Seinen gekommen ist, verkündet Er seinen Jüngern Frieden. Dann zeigt Er ihnen seine Hände und seine Seite, um sie durch diese Wundmale an das große

Werk zu erinnern, durch das Frieden gemacht worden ist. Frieden kann weder durch Tränen oder Seufzer oder Gebete erlangt werden noch dadurch, dass wir uns selbst verurteilen oder verleugnen, noch indem wir unsere Sünden bekennen und Dinge wiedergutmachen. Frieden konnte nur durch das am Kreuz vergossene Blut zustande gebracht werden und wird erlangt durch Glauben an sein Wort.

Nachdem der Herr sich den Jüngern offenbart und ihnen Frieden verkündet hat, sind ihre Herzen mit Freude erfüllt: „Da freuten sich die Jünger, als sie den Herrn sahen“ (V. 20). Unsere Herzen werden nur froh, wenn wir die Augen von uns selbst und von anderen abwenden und den Herrn in seiner Schönheit anschauen.

Dadurch sind die Jünger ausgerüstet, um ihren Dienst für den Herrn zu beginnen, und Er kann sagen: „Wie der Vater mich ausgesandt hat, sende auch ich euch“ (V. 21). Sie sollen hinausgehen und den Sündern die Gnade Gottes verkünden, aber sie sind ausgesandt von der Versammlung der Heiligen, mit dem Herrn in ihrer Mitte. Um die Jünger zu ihrem Auftrag zu befähigen, „hauchte er in sie und spricht zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist!“ (V. 22). Wir wissen, dass der Heilige Geist tatsächlich erst zu Pfingsten kam. Ist hier nicht das neue Auferstehungsleben gemeint, das in der Kraft des Heiligen Geistes gelebt wird? Es scheint im Vergleich zur ersten Schöpfung zu stehen: Damals hauchte Gott den Odem des Lebens in die Nase Adams und der Mensch wurde eine lebendige Seele (1. Mo 2,7). Jetzt, in Auferstehung und im Hinblick auf die neue Schöpfung, haucht der Herr in die Jünger ein neues Leben, das in der Kraft des Heiligen Geistes gelebt wird. Von diesem Leben lesen wir in Römer 8,2: „der Geist des Lebens in Christus Jesus“.

Darüber hinaus gibt der Herr seinen Jüngern im Zusammenhang mit dieser neuen Aufgabe die administrative Befugnis, Sünden zu vergeben. In diesem Sinn lesen wir später, dass bußfertige Seelen zur Vergebung ihrer Sünden getauft wurden (Apg 22,16); dagegen wurden zum Beispiel Simon und Elymas die Sünden behalten (Apg 8,20; 13,11). Dies hat nichts mit ewiger Sündenvergebung zu tun, die kein Mensch verleihen und keine Taufe zustande bringen kann. Nur Gott kann auf der Grundlage des teuren Blutes ewige Vergebung der Sünden gewähren. Hier geht es um Vergebung in Verbindung mit Gottes Regierungswegen auf der Erde. Als Paulus sich taufen ließ, hatte er sich vollkommen von seinem früheren Leben mit all seinen Sünden getrennt; deshalb wurde er ins Volk Gottes aufgenommen als einer, dem Vergebung zuteilgeworden war.

Hier haben wir also im Bild die Versammlung: Sie besteht aus einer Gemeinschaft von Gläubigen, die Christus in Liebe anhängen und als Kinder Gottes anerkannt sind; sie werden durch den aufgefahrenen Christus vor Gott vertreten; sie sind vom religiösen Verfall um sie her getrennt; sie haben Christus in ihrer Mitte als den Mittelpunkt, um den sie sich versammeln; sie genießen den Frieden, den Er gemacht hat, und sie sind ausgesandt im Dienst des Herrn.

Der ungläubige Thomas

Johannes 20,24–31

Verse 24–29: Thomas aber, einer von den Zwölfen, genannt Zwilling, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Da sagten die anderen Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er aber sprach zu ihnen: Wenn ich nicht in seinen Händen das Mal der Nägel sehe und meinen Finger in das Mal der Nägel lege und meine Hand in seine Seite lege, so werde ich nicht glauben. Und nach acht Tagen waren seine Jünger wieder drinnen und Thomas bei ihnen. Da kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren, und stand in der Mitte und sprach: Friede euch! Dann spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott! Jesus spricht zu ihm: Weil du mich gesehen hast, hast du geglaubt. Glückselig sind, die nicht gesehen und doch geglaubt haben!

In der letzten Begebenheit, die acht Tage später stattfindet, nimmt Thomas einen herausragenden Platz ein. Er war nicht dabei gewesen, „als Jesus kam“ (V. 24). Was der ersten Zusammenkunft solch einen Wert gab, war die Tatsache, dass „Jesus kam“, und dies hatte Thomas verpasst – er hatte das erste Zusammenkommen, als die Jünger um die Person

Jesu versammelt waren, versäumt. Bei diesem zweiten Erscheinen des Herrn unter den Seinen werden wir im Bild unweigerlich in die Zeit nach der Versammlung versetzt, zu den letzten Tagen, wenn es wieder einen gottesfürchtigen Überrest unter den Juden geben wird. Dieser Überrest wird hier durch Thomas versinnbildlicht. Genauso wie für die Juden ist es für Thomas schwierig zu glauben, ohne zu sehen und zu fühlen. Wenn in den letzten Tagen der Geist der Gnade auf die Juden ausgegossen wird, werden „sie auf mich blicken, den sie durchbohrt haben“ (Sach 12,10), und sie werden sagen: „Gesegnet sei, der da kommt im Namen des Herrn! ... Der Herr ist Gott ... Du bist mein Gott“ (Ps 118,26–28; Mt 23,39). So kann Thomas, auf den Herrn blickend, ausrufen: „Mein Herr und mein Gott!“

Der Herr erkennt Thomas' Glauben durchaus an, Er fügt jedoch hinzu: „Glückselig sind, die nicht gesehen und doch geglaubt haben!“ (V. 29). Das ist das lobenswerte Teil derjenigen, die die Versammlung Christi während der Zeit seiner Abwesenheit bilden. Der Apostel Petrus drückt es so aus: „Den ihr, obgleich ihr ihn nicht gesehen habt, liebt; an welchen glaubend, obgleich ihr ihn jetzt nicht seht, ihr mit unaussprechlicher und verherrlichter Freude frohlockt“ (1. Pet 1,8).

Verse 30.31: Auch viele andere Zeichen hat nun zwar Jesus vor seinen Jüngern getan, die nicht in diesem Buch geschrieben sind. Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr glaubend Leben habt in seinem Namen.

Die beiden abschließenden Verse dieses Kapitels berichten uns, dass Jesus zwar noch andere Wunder tat, dass jedoch genügend Wunder aufgeschrieben worden sind, damit das großartige Ziel dieses Evangeliums erreicht wird: Jesus, den Sohn Gottes, vorzustellen, damit die, die an Ihn glauben, Leben haben in seinem Namen.

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