Botschafter des Heils in Christo 1864

Der Brunnen bei Sichar

Während wir unseren Herrn Jesus in dem Evangelium Matthäus als den Messias der Juden, als den Sohn Davids, als den Sohn Abrahams, als den rechtmäßigen Erben des Thrones Davids und des Landes Israel, sowie in Markus: als den Diener, der in den verschiedenen Kreisen seines Dienstes mit unbeugsamem Eifer seine Bahn verfolgte, und endlich in Lukas: als den Sohn des Menschen mit seinem, ohne Unterbrechung bis zu Adam aufsteigenden Geschlechtsregister vor unsere Augen gestellt sehen, zeigt das Evangelium Johannes Ihn in der erhabendsten Gestalt, und zwar als den Sohn Gottes, als den, der vom Himmel ist, als das ewige Wort, als den Schöpfer aller Dinge und als den, der den Vater offenbart. Schon in dem ersten Kapitel dieses erhabenen Evangeliums erblicken wir Ihn als den, der von Anfang, vor allen Zeitaltern, war, durch den alle Dinge sind, und der als das Wort, welches von Ewigkeit her in dem Schoß des Vaters war. Fleisch geworden ist und unter uns gewohnt hat. Dennoch aber gibt es kein anderes Evangelium, wo wir dieses glorreiche Wesen so oft allein, dem Sünder gegenüber erblicken; und sicher geschieht dieses nicht ohne göttliche Absicht. Wir sehen Ihn allein bei Nikodemus, allein bei der Samariterin, allein bei der im Ehebruch ergriffenen Sünderin und allein bei verschiedenen anderen; und im Blick auf diese Tatsachen dürfen wir wohl behaupten, dass dieses Alleinsein des Sohnes Gottes bei dem Sünder dem Evangelium Johannes einen ganz besonderen Charakter verleiht. –

Indem wir nun zu unserer Unterweisung auf die Hilfe Gottes rechnen, gedenken wir etliche Augenblicke bei einer der rührendsten Szenen zu verweilen, welche uns den Herrn bei dem einsamen Brunnen bei Sichar einer armen Sünderin gegenüber zeigt. Das samaritische Weib bildet einen auffallenden Gegensatz zu Nikodemus im dritten Kapitel. Dieser hatte eine achtbare Stellung und einen ehrenvollen Ruf und Charakter, während jene nichts von diesem allen besaß. Er befand sich auf der Höhe des Rades, sie tief unten. Kaum konnte man in der Welt einem Höheren begegnen, als „einem Menschen von den Pharisäern, einem Obersten der Juden und einem Lehrer von Israel“, und andererseits kaum einer mehr herabgewürdigten Person, als einer ehebrecherischen Samariterin. Nichtsdestoweniger aber befanden sich beide, wenn es sich um die ewige Grund– und Lebensfrage, um ihre Stellung vor Gott, um ihr Befähigtsein, in seiner heiligen Gegenwart zu bleiben, und um das Recht, in den Himmel einzugehen, handelte, auf gleicher Stufe.

Vielleicht mag diese Behauptung etlichen unserer Leser etwas hart und fremd erscheinen. Wie? sollte der weise, religiöse und ohne Zweifel liebenswürdige Nikodemus in den Augen des Herrn keinen größeren Wert haben, als jenes elende Weib von Sichar? Keineswegs, wenn es sich darum handelt, vor Gott zu erscheinen. „Denn es ist kein Unterschied; denn alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes;“ (Röm 3,21) und das erste Wort, welches der Herr an Nikodemus richtet, lautet: „Wahrlich, wahrlich ich sage dir: Es sei denn, dass jemand von neuem geboren worden sei, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ Dieser kurze Ausspruch nahm den Boden der Sorglosigkeit unter den Füßen des Lehrers von Israel völlig hinweg. Nichts weniger als eine neue Natur ward von diesem „Menschen aus den Pharisäern“ gefordert; und nichts mehr bedurfte das ehebrecherische Weib von Sichar. Es ist klar, dass das Verbrechen nicht in den Himmel eingehen kann; aber der Pharisäismus vermag es ebenso wenig. Aber Beide, ein Verbrecher und ein Pharisäer, vermögen – Gott sei dafür gepriesen! – in den Himmel einzugehen, weil sowohl der Eine, wie der andere im Glauben an den Sohn Gottes das ewige Leben erlangen kann.

Diese große Fundamentalwahrheit des Christentums zu verstehen, ist für den Leser von der höchsten Wichtigkeit. Es ist unmöglich, ihm eine klarere und treffendere Vorstellung von derselben zu geben, als ihm in der Geschichte des Nikodemus und in derjenigen des Weibes von Sichar dargeboten wird. Hätte unser Herr das Weib zum „Gutwerden“ und den Nikodemus zum „Besserwerden“ ermahnt, so würde man in der Tat irgendeinen Beweis zu Gunsten jener Aufstellung gehabt haben, nach welcher gewisse Persönlichkeiten der gefallenen Menschheit besser und Gott näher als andere sind, sowie ferner einen Beweis für die Möglichkeit, die menschliche Natur bis zu dem Grad zu verbessern, dass sie endlich fähig sei, vor Gott erscheinen zu können. Allein wenn wir sehen, wie der Herr, indem Er die absolute Notwendigkeit einer neuen Geburt feierlich ankündigte, den gesetzmäßigen Boden, auf welchen der jüdische Oberste seinen Fuß stellte, gänzlich niederriss, dann sind wir zu der Folgerung gezwungen, dass die menschliche Natur unheilbar und unverbesserlich ist.

Die arme Samariterin befand sich auf keinem gesetzmäßigen Boden, der des Niederreißens bedurft hätte. Ihr moralischer Charakter und ihr religiöser Zustand standen lange schon auf der niedrigsten Stufe der Entartung. Nicht so war es bei Nikodemus; er fühlte, dass er etwas besaß, worauf er sich stützen und dessen er sich rühmen konnte. Er war ein hochgestellter Mann und hatte daher zu lernen, dass dieses alles keinen Wert in den Augen Gottes habe. Nun aber war es unmöglich, ihm diese Unterweisung in einer schärferen und bestimmten: Weise zu geben, als durch den kurzen Ausspruch des Herrn: „Du musst von neuem geboren werden.“ Man mache mit der menschlichen Natur was man will; man unterweise, man bilde und schmücke sie nach Belieben; man erhebe sie bis zur Zinne des Tempels der Kunst und der Philosophie; man rufe alle Mittel eines gesetzlichen Systems und der Religion zu ihrer Hilfe: man lege Gelübde ab und man fasse Sittenverbesserungsbeschlüsse; man häufe eine Zeremonie auf die andere; man werfe sich in einen Kreis religiöser Pflichten; man wache, man faste und bete; man gebe Almosen und vollbringe die ganze Reihe der „toten Werke“; – und trotz allem ist das samaritische Weib dem Reich Gottes ebenso nahe, wie ihr, da sowohl ihr, wie sie, „von neuem geboren werden müsst.“ Weder ihr, noch sie vermögt, in Betreff des Rechts auf das Reich, oder der Fähigkeit, sich dessen zu erfreuen, auch nur ein Jota oder einen Buchstabenstrich Gott darzubringen. Von Anfang an bis zu Ende ist und muss hier alles Gnade sein.

Aber was versteht man unter dieser neuen Geburt? Etwa die verbesserte menschliche Natur? Keineswegs. Und was denn? Sie ist das ewige Leben, genossen durch den einfachen Glauben an den Sohn Gottes. „Gleichwie Moses die Schlange in der Wüste erhöhte, also muss der Sohn des Menschen erhöht werden, auf dass jeder, der an Ihn glaubt, nicht verloren sei, sondern ewiges Leben habe. Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass Er seinen eingeborenen Sohn gegeben, auf dass jeder, der an Ihn glaubt, nicht verloren sei, sondern ewiges Leben habe.“ – das ist die neue Geburt, und das ist das Mittel, dieselbe zu erlangen. Gott hat geliebt – Gott hat gegeben – wir glauben und wir haben. Nichts ist einfacher. Das ist nicht die verbesserte Natur, nicht eine Wiederaufrichtung der gefallenen Menschheit, nein, es ist ein ganz neues Leben, und zwar das, durch den Glauben an Christus empfangene, ewige Leben, welches das arme Weib von Sichar ebenso völlig und durch dasselbe Mittel empfing, wie auch der Oberste der Juden. Es ist kein Unterschied; denn „Alle haben gesündigt.“ Man mag vom menschlichen oder vom göttlichen Gesichtspunkte aus diese Frage betrachten, es gibt hier keinen Unterschied; denn alle haben gesündigt, und Gott ist reich gegen alle. Der Lehrer in Israel und das samaritische Weib sind auf eine und dieselbe Stufe gestellt; und die reiche Gnade Gottes breitet sich kraft des Blutes Christi über den einen, wie über die andere aus, um einem jeglichen von ihnen das ewige Leben als ein Gnadengeschenk Gottes zu gewähren.

Nun ist aber dieses ewige Leben etwas durchaus ganz Neues. Adam, in dem Zustand der Unschuld, besaß nicht das ewige Leben. Er hatte eine unsterbliche Seele; allein die Unsterblichkeit der Seele und das ewige Leben sind zwei ganz verschiedene Dinge. Das schwächste Lamm der erkauften Herde Christi befindet sich in einer weit besseren Stellung, als Adam in den Tagen seiner Unschuld. Jenes hat ein unverderbliches und ewiges Leben in Christus empfangen, während Adam inmitten der köstlichen Früchte und der schönen Blumen Edens, nichts dergleichen kannte. Erst dann, als rings um ihn her alles verloren und er selbst inmitten der Ruinen eine Ruine geworden war, fiel ein matter Lichtstrahl in seine Seele durch die erste – jedoch nicht ihm, sondern dem zweiten Adam, dem „Herrn vom Himmel“, – gegebene Verheißung: „Der Same des Weibes wird der Schlange den Kopf zertreten.“ Durch den Glauben an diese Verheißung entging Adam nicht allein seinem eigenen traurigen Zustand, sondern auch dem ihn umringenden Verfalle, indem er seine Zuflucht suchte in Christus, dem Haupt eines neuen Geschlechts, einer neuen Schöpfung; und er nannte sein Weib Eva, d. h. die „Mutter aller Lebendigen.“ Und wahrlich, außer dem Samen des Weibes gibt es kein wahres Leben.

Bemerken wir ferner, dass, als die Kinder Israel unter das Gesetz gestellt wurden, sie keineswegs, selbst bei der treuesten Beobachtung desselben, das ewige Leben empfangen konnten. Die Sprache des Gesetzes lautete: „Der Mensch, welcher diese Dinge tut, wird dadurch leben.“ Aber nie spricht es vom ewigen Leben. Die Lebensdauer eines Israeliten knüpft sich an das Halten der Gebote. Das war ein zeitliches und bedingtes Leben; und mithin würde das Weib von Sichar, hätte sie ihre Schritte nach Sinai gerichtet, durchaus nichts erlangt haben. Die Übertretung eines einzigen Gebotes hätte sie hinsichtlich des ganzen Gesetzes schuldig gemacht und folglich unter den Fluch gebracht. Und so hätte sie weder auf das zeitliche, noch auf das ewige Leben Anspruch machen können. Nikodemus konnte sich einbilden, irgendwie ein Recht darauf zu haben; allein die Lage dieses Weibes war so verzweifelt, wie möglich, und keineswegs vermochte Moses ihr eine hilfreiche Hand zu bieten.

Welche Bedeutung aber hatte die eherne Schlange? Für wen war sie bestimmt? – Für arme, gebissene Kreaturen, und gerade darum, weil sie gebissen waren. Ihre Wunden verliehen ihnen ihr Recht. Welches Recht? – das Recht des Anblickens der Schlange. Und was folgt daraus? – Der, welcher die Schlange erblickte, genas und lebte. Ja, „er blickte an und lebte.“ Welch kostbare Wahrheit für Nikodemus und für die Samariterin, ja, für alle, von der alten Schlange gebissene Söhne und Töchter Adams! Keine Grenze, keine Bedingung, keine Schranke; nichts hindert die unaussprechliche Gnade Gottes. Der Sohn des Menschen ist erhöht worden, damit jeder, der Ihn in einfältigem Glauben anschaut, in den Besitz dessen gelangt, welches Adam in der Unschuld nimmer besaß und das Gesetz Moses nimmer verschaffen konnte, – in den Besitz des „ewigen Lebens.“ Beachten wir wohl, dass hier nicht von einer unsterblichen Seele die Rede ist; denn eine solche besaß Adam, sowohl vor, als nach seinem Fall, und ist auch jetzt das Gemeingut aller Menschen, sowohl der Gläubigen, als der Ungläubigen. Aber, „wer an den Sohn Gottes glaubt, hat das ewige Leben.“ Und mit einem zweifachen „Amen“ bekräftigt der Herr Jesus seine Worte, wenn Er sagt: „Wahrlich, wahrlich ich sage euch, wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, hat das ewige Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern ist aus dem Tod zum Leben hinübergegangen“ (Joh 5,24).

Hier gibt es keinen Mittelweg. Hier gilt, was man auch von der Macht der Fähigkeit und der Würde der menschlichen Natur, von der Erziehung des Menschengeschlechts, von den Fortschritten und der Entwicklung des Menschen und ähnlichen Dingen sagen mag, entweder der „Tod“ oder das „Leben.“ Die eben angeführte Stelle entscheidet die Frage in der bestimmtesten Weise. Wir erblicken hier entweder das Leben in Christus, oder den Tod außer Christus. Alle Fortschritte des Menschen, solange er nicht Christus ergriffen hat, sind und werden nur Fortschritte im Tod sein. Gleichviel wer oder was dieser Mensch ist, ob Pharisäer, Schriftgelehrter oder Zöllner, ob gelehrt oder unwissend, ob fromm oder gottlos, ob ehrbar oder unmoralisch, ob roh oder gesittet; – ist er nicht in Christus, so ist er im Tod. Wenn er hingegen in Christus ist, so bestehen seine Fortschritte darin: zu wachsen in der Gnade und in der Erkenntnis, und in moralischer und praktischer Beziehung immer gleichförmiger zu werden dem Bild Christi – dem zweiten Menschen, dem auferstandenen Heiland, dem Haupt der neuen Schöpfung.

Der Leser wird freundlich gebeten, hier ein wenig zu verweilen und über diesen feierlichen Gegenstand nachzudenken. Er enthält viel mehr, als manche sich vorstellen. Dieses neue Leben durchschneidet die Wurzel aller Anmaßungen des Menschen. Es vertreibt, als ebenso viele unnützen Lumpen, alle Religion des Menschen, alle seine gesetzliche Frömmigkeit und Gerechtigkeit, weit hinweg. Es lässt ihn erkennen, dass, solange er Christus nicht besitzt, er durchaus nichts besitzt, dass aber, wenn er Christus hat, er alles hat. Ja, so ist es: Nichts im Menschen, alles in Christus. Er mag ein sogenanntes gutes Herz haben, wie der Oberste der Juden, oder einen sehr schlechten Charakter, wie das Weib von Sichar; – es kommt auf eins heraus. Beide sind tot – geistlich tot. Es war nicht mehr geistliches Leben in Nikodemus, als er in der Nacht zu Jesu kam, als in der Samariterin, als Jesus am Tag zu ihr kam. Dass es ohne Zweifel in moralischer und gesellschaftlicher Beziehung zwischen beiden einen großen Unterschied gab, versteht sich von selbst. Auch wird man niemandem, der nur einiges Gefühl besitzt, zu sagen nötig haben, dass es besser sei, sittlich, mäßig und ein ehrbarer Mensch, als lasterhaft, dem Trunk ergeben und ein Dieb zu sein. Dieses ist völlig klar. Allein ebenso klar ist es, dass die Ehrbarkeit, die Mäßigkeit und die Sittlichkeit nicht das „ewige Leben“, ja sogar nicht einmal der Weg sind, der dahinführt. Wohl werden diese Erscheinungen in ihrer wahren und aufrichtigen Äußerung stets die Früchte – die notwendigen Früchte des neuen Lebens sein; allein sie sind weder das neue Leben selbst, noch das Mittel zu dessen Erwerbung. „Wer den Sohn hat, hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, hat das Leben nicht.“ Das ist bestimmt genug. Es existiert kein Mittelweg zwischen den Wörtchen: „hat“ und „hat nicht“, kein Raum zum Fortschreiten zwischen diesen einander entgegen gesetzten Begriffen. Der Schreiber, wie der Leser dieser Zeilen befinden sich in diesem Augenblick entweder in der einen, oder in der anderen dieser beiden Abteilungen. Welch ernster Gedanke! Wir fühlen tief die ganze Wichtigkeit in diesen, durch die stolzen Anmaßungen des Menschen gekennzeichneten Tagen, wo man sich sogar des Christentums als eines Mechanismus, um das Glück einer gefallenen und verdorbenen Menschheit herbei zu fuhren, oder als eines Zweiges eines zur Veredlung des Geschlechts hinstrebenden Erziehungssystems bedient, und wo man, nach Anweisung etlicher unserer neueren Gelehrten, dahin gelangt, das Heidentum, das Judentum und das Christentum als gleichbedeutende Dinge zu betrachten, die geeignet sind, auf den Menschen zu wirken und ihn auf der moralischen Leiter zur Höhe zu drängen. Welch trauriger Betrug und welch verderblicher Irrtum für die Seelen! O möchte doch der Heilige Geist vielen die Augen öffnen, um diesen Feind zu erkennen, und sie fähig machen, um demselben zu entfliehen! Möchte doch das Evangelium des Christus sich mit einer neuen Macht ausbreiten, und Einhalt gebieten der krankhaften Erscheinung des Rationalismus und des Unglaubens in diesen finsteren und bösen Tagen!

Kehren wir indessen zu dem Brunnen bei Sichar zurück. Der Gedankenlauf, dem wir gefolgt sind, wird uns in den Stand setzen, die bisher geschöpften heiligen und tiefen Lehren vollkommener würdigen zu können.

Der Christ findet einen ganz besonderen Reiz an den Erzählungen der Evangelien, weil es der Herr Jesus selbst ist, der dem Geist und dem Herzen so nahetritt. Sie bringen uns keine schwer verständlichen Wahrheiten oder trockene Lehrsätze; sie zeigen uns vor allem in Ihm eine Person, die nichts weniger ist als „Gott offenbart im Fleisch.“ Wir finden Ihn im Gespräch mit Sündern von jeglichem Stand und Charakter – mit Reichen und Armen, mit Religiösen und Irreligiösen, mit Pharisäern, Schriftgelehrten und Zöllnern. Wir erblicken Ihn in der Nähe der verächtlichsten Sünder, wie hier am Brunnen bei Sichar, und sehen, wie Er dieselben mit einer vollkommenen Gnade behandelt. Wir entdecken in Ihm eine Heiligkeit, die von keiner Sünde berührt werden kann, und Zugleich eine Gnade, welche sich bis zu den tiefsten Tiefen der Bedürfnisse des Sünders herabzulassen im Stand ist. Mit einem Wort, Gott ist auf die Erde herabgestiegen; und wir können Ihn betrachten in dem Angesicht Jesu Christi. Welch wunderbares Ereignis! Er kann erkannt werden, ja, erkannt in der vollen Gewissheit, welche die Offenbarung seiner selbst hervor zu bringen fähig ist. „Die Finsternis vergeht und das wahrhaftige Licht leuchtet schon.“ Die Wehklagen Hiobs: „Ach, wenn ich wüsste, wo ich Ihn finden könnte!“ ist fortan verklungen (Hiob 23,3).

Das Evangelium führt uns an den Brunnen bei Sichar und zeigt uns den Schöpfer des Weltalls in der Person eines mit Staub bedeckten, müden und durstigen Fremdlings, der für ein wenig Wasser der Schuldner einer ehebrecherischen Samariterin zu sein begehrt. Welch ein unausforschliches Geheimnis! Er, der da Gott ist über alles, gesegnet in Ewigkeit – Er redet mit Menschenlippen und bittet eine Ehebrecherin um einen Trunk Wasser. Wo, möchte man mit Recht fragen, wo in dem ganzen Bereich der Schöpfung könnte man etwas finden, was diesem gleich wäre? Wohl vermögen wir bei der Betrachtung der Schöpfung die bewundernswürdige Offenbarung der Weisheit, der Macht und der Güte zu unterscheiden; allein immer werden wir Gott in der Gleichheit des Fleisches der Sünde und in der Gestalt eines ermüdeten, von Hitze und Durst gequälten Menschen darin erblicken können, der da auf dem steinernen Geländer eines Brunnens sitzt und eine arme Sünderin um einen Tropfen Wasser bittet. Wenn wir von dieser Szene zu derjenigen übergehen, welche uns auf den ersten Seiten der Bücher Moses vor Augen gestellt wird, und wenn wir dort auf Gott, als den Schöpfer, unsere Blicke richten und sehen, wie Er die Stätte seiner ewigen Wohnung verlässt und durch das Wort seines Mundes Millionen Welten ins Dasein ruft, dann entdecken wir nirgends eine Spur von Müdigkeit oder von Durst. Doch mögen wir auch die Fußstapfen des Schöpfers verfolgen und mit Bewunderung schauen, wie Er auf dieser majestätischen Bahn von einer Sphäre seines glorreichen Werkes zur anderen dahin schreitet, so ist dennoch jene Herrlichkeit, welche an dem einsamen Jakobsbrunnen unseren Blicken begegnet, weit strahlender, als alles, was in dem ersten Kapitel des ersten Buches Moses sich vor uns entfaltet. Jenes: „Es werde Licht!“ war in der Tat ein glorreiches Wort; aber dieses: „Gib mir zu trinken!“ übertrifft jenes an Glorie. In Ersterem unterscheiden wir eine Majestät, die uns in Erstaunen setzt, und einen Glanz, der uns blendet; in Letzterem aber erblicken wir eine Gnade, die unser Vertrauen gewinnt, und eine Zärtlichkeit, die unser Herz erweicht.

Wo entdecken wir während der ganzen mosaischen Haushaltung etwas gleich jenem, welches sich an dem Brunnen bei Sichar ereignet? Hätte der Gesetzgeber eine Ehebrecherin um ein Glas Wasser bitten können? Unmöglich. Wäre die Samariterin vor den mit Feuer brennenden Berg gestellt worden, so würde ohne Barmherzigkeit eine Verfluchung und Steinigung ihr Los gewesen sein. Sicherlich hatte eine solche Person von dem „Dienste des Todes und der Verdammnis“ nichts anders zu erwarten. Und dennoch begegnet man seltsamer Weise noch Leuten, welche uns sagen: „Wenn ihr das Gesetz von dem Evangelium trennt, so bleibt nichts übrig, was des Namens des Evangeliums würdig ist.“

Was denkst du, mein Leser, von einer solchen Meinung? Wie erscheint sie dir, wenn du sie in dem am Brunnen Sichars strahlenden Licht betrachtest? Wer hätte je geglaubt, dass in unseren Tagen, wo die Bibel frei und in weiten Kreisen verbreitet wird, von den Lippen oder der Feder sogenannter Prediger des Evangeliums eine solche Behauptung ausgehen würde? Wie? Lässt eine Trennung des Dienstes des Todes und der Verdammnis von dem Dienst des Lebens und der Gerechtigkeit – eine Trennung dessen, was den Sünder verflucht und verfluchen muss, von dem, was ihm Vergebung, Heil und Segen verschafft – eine Trennung dessen, was „Zorn wirkt“ (Röm 4,15), von der Fülle jener göttlichen Liebe, die uns in der Person und in dem Werk unseres Herrn Jesus Christus offenbart ist, – lässt eine solche Trennung nichts übrig, was des Namens des Evangeliums würdig ist? – Doch verweilen wir nicht länger bei der groben Unwissenheit und Abgeschmackheit einer solchen Behauptung. Kehren wir lieber zu dem Brunnen bei Sichar zurück, um jener bemerkenswerten Unterhaltung unser Ohr zu leihen, die zwischen Gott, „offenbart im Fleisch“, und einem auf der niedrigsten Stufe des Verfalls stehenden, samaritischen Weibe stattfindet.

„Als nun der Herr erkannte, dass die Pharisäer gehört hatten, dass Jesus mehr Jünger mache und taufte, als Johannes, (wiewohl Jesus selbst nicht taufte, sondern seine Jünger) verließ Er Judäa und ging von da wiederum nach Galiläa. Er musste aber durch Samaria gehen. Er kommt nun in eine Stadt Samariens, genannt Sichar, nahe bei dem Feld, welches Jakob seinem Sohn Joseph gab. Es war oder daselbst ein Brunnen Jakobs. Jesus nun, ermüdet von der Reise, setzte sich also an dem Brunnen nieder. Es war um die sechste Stunde. Es kommt ein Weib aus Samaria, um Wasser zu schöpfen. Jesus spricht zu ihr: ‚Gib mir zu trinken!‘“ –

Hier tritt eine wunderbare Szene vor unsere Blicke – eine Szene, die uns weder durch die Schöpfung, noch durch das Gesetz, noch durch die Vorsehung dargestellt werden konnte. Der Herr der Herrlichkeit ist herabgekommen in diese Welt, um als Mensch der Müdigkeit, dem Hunger und dem Durst ausgesetzt zu sein, und um, gleich wie wir versucht, das Bedürfnis nach einem Becher Wasser zu erkennen. „Jesus nun, ermüdet von der Reife, setzte sich an dem Brunnen nieder.“ Diese Welt war für den Christus ein ausgedörrtes und durstiges Land. Die einzige Erquickung, die Er hier fand, bestand für Ihn in dem Dienst seiner Gnade gegen arme, elende Sünder, gleich jenem Weib, welches am Brunnen vor Ihm stand. Und welchen Kontrast bilden seine, an die Samariterin gerichteten Worte mit denen, welche das Ohr des Lehrers von Israel trafen! Zu ihr sagt Er nicht: „Du musst von neuem geboren werden!“ – obwohl dieses ohne allen Zweifel für sie ebenso erforderlich war, wie für Nikodemus. Warum dieses? Wir haben die Ursache bereits von ferne gesehen. Der jüdische Lehrer stand, so zu sagen, auf der höchsten Leitersprosse der gesetzlichen Gerechtigkeit, der Sittlichkeit und der überlieferten Religion, während die arme Samariterin sich auf der niedrigsten Stufe der Straffälligkeit und des moralischen Schmutzes befand. Und weil der Herr herniedergekommen war, um dem Menschen in der elendesten Lage desselben zu begegnen, und weil Er gekommen war, um den Toten das Leben zu geben und auf den Menschen zu wirken, sowie Er denselben fand, so war Er genötigt, den Nikodemus zu der demütigenden Anerkennung der Notwendigkeit einer neuen Geburt zu führen, sowie das ganze Gerüst, worauf er sich befand, unter seinen Füßen zu zertrümmern und ihm zu zeigen, dass er alles, was er in Betreff seiner Religion und seiner Stellung besaß, verlassen und als ein neugeborenes Kind in das Reich eingehen müsse, und mithin nichts, durchaus nichts besitze, was in der neuen, von dem Herrn angekündigten Stellung Anerkennung finde. Ist die neue Geburt durchaus notwendig, dann ist der Oberste der Juden in nichts besser, als die samaritische Sünderin. In Betreff der Letzteren war es augenscheinlich, dass ihr etwas mangelte; sie vermochte nicht mit ihren Sünden in das Reich einzugehen; und aus diesem Grund beginnt der Herr ihr gegenüber, sogleich seine Gnade zu entfalten. Nikodemus hingegen konnte sich einbilden, dass er etwas habe und etwas sei vor Gott, während es auf der Hand lag, dass die Samariterin solchem Gedanken keinen Raum geben durfte. Darum sagt der Herr zu dem Ersten: „Du musst von neuem geboren werden!“ und zu der Letzteren: „Gib mir zu trinken!“ In dem einen dieser Worte unterscheiden wir die „Wahrheit“, in dem anderen die „Gnade“. Beide: „die Gnade und Wahrheit sind durch Jesus Christus geworden.“ Die „Wahrheit“, um alle Anmaßungen eines Pharisäers niederzureißen; und die „Gnade“, um den tiefsten Bedürfnissen einer ehebrecherischen Sünderin zu begegnen.

Allein obwohl Nikodemus und die Samariterin in gewissen Punkten einen Gegensatz zu einander bilden, so ist es doch auch von Interesse, in anderen Beziehungen eine Ähnlichkeit zwischen beiden wahrzunehmen. Beide antworten dem Herrn durch ein „Wie?“ Sobald die Wahrheit das Ohr des Lehrers in Israel berührt, fragt er: „Wie kann dieses geschehen?“ – und als dem Weib von Sichar die Gnade gezeigt wird, fragt sie: „Wie bittest du, der du ein Jude bist, von mir zu trinken, die ich ein samaritisches Weib bin?“ Ach! wir alle tragen dieses „Wie“ in unseren Herzen. Die Wahrheit Gottes ist in ihrer ganzen majestätischen Autorität vor unsere Seele gestellt; und wir nehmen sie auf mit einem „Wie“. Die Gnade Gottes ist in ihrer ganzen Lieblichkeit vor unseren Blicken entfaltet; und von unseren Lippen dringt als Antwort ein „Wie“. Gleichviel, ob es ein theologisches oder ein rationalistisches Wie ist – es ist immer das arme Herz, welches, anstatt die Wahrheit zu glauben, und die Gnade Gottes anzunehmen, seine Einwendungen machen will. Der eigene Wille ist tätig, und obwohl demzufolge sich das Gewissen unbehaglich fühlt und das Herz mit sich selbst und mit seiner Umgebung unzufrieden ist, so tritt nichtsdestoweniger das „Wie“ des Unglaubens in der einen oder der anderen Form zum Vorschein. Nikodemus fragt: „Wie kann der Mensch geboren werden, wenn er alt ist?“ – und die Samariterin sagt: „Wie, bittest du von mir zu trinken?“ –

So ist es immer. Wenn das Wort Gottes uns die totale Unwürdigkeit unserer Natur aufdeckt, so erhebt das Herz, anstatt sich mit Demut der heiligen Schrift zu unterwerfen, seine unheiligen Einwürfe. Und wenn dasselbe Wort die unbegrenzte Gnade Gottes und das unverdiente Heil in Christus Jesus vor unsere Augen stellt, so beginnt wieder das Herz, anstatt die Gnade anzunehmen und des Heiles sich zu erfreuen, mit seinen Klügeleien, indem es fragt: „Wie kann dieses geschehen?“ Das menschliche Herz ist geschlossen für Gott, geschlossen für die Wahrheit seines Wortes und für die uns darin gezeigte Liebe. Wenn der Teufel spricht, so schenkt das Herz ihm leicht Glauben; wenn der Mensch spricht, so nimmt das Herz gern seine Worte auf. Lügen des Teufels und Torheiten des Menschen finden leicht einen Eingang in dem armen menschlichen Herzen; aber sobald Gott es ist, welcher, sei es in der vollen Machtsprache der Wahrheit, oder in dem süßen Lockton der Gnade, zum Menschen spricht, ach! dann findet Er in dem menschlichen Herzen ein ungläubiges, zweifelndes, rationalistisches, treuloses Wie. Alles passt für das natürliche Herz nur nicht die Wahrheit und die Gnade Gottes.

Indes lässt sich unser Herr hier durch das Wie des Weibes von Sichar nicht abweisen. Er hatte auf das Wie des Menschen von den Pharisäern geantwortet, und will auch antworten auf das Wie der Samariterin. Er hatte dem Nikodemus eine Antwort gegeben, indem Er ihn hinwies auf die eherne Schlange und mit ihm redete über die, durch die Sendung seines Sohnes kund gegebene Liebe Gottes; und Er gibt auch der Samariterin eine Antwort, indem Er mit ihr ebenfalls redet über die „Gnade Gottes.“ – „Jesus antwortete und sprach zu ihr: Wenn du die Gabe Gottes kanntest und wer der ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken, du würdest Ihn gebeten haben, und Er hätte dir lebendiges Wasser gegeben.“

Welch ein weites Gebiet köstlicher Wahrheiten öffnet hier vor der Seele dieses Wörtchen „Gabe“! Der Herr sagte nicht: „Wenn du kanntest das Gesetz, so würdest du gebeten haben.“ In der Tat, wenn sie es gekannt hätte, so würde sie sich verloren und verdammt unter demselben gesehen haben, weit entfernt, zu einer Bitte ermutigt zu sein. Niemand hat je „lebendiges Wasser“ erhalten durch das Gesetz. „Tue das, so wirst du leben!“ – das ist die Sprache des Gesetzes. Das Gesetz gab niemandem etwas, außer dem Menschen, welcher es stets beobachtet hatte, und welcher es hätte bis ans Ende und vollkommen halten können. Und wo war dieser Mensch? Gewiss das Weib von Sichar hatte das Gesetz nicht gehalten. Dieses war zu augenscheinlich. Sie hatte wenigstens in einem Punkt gefehlt, und war deshalb schuldig in allem (Jak 2).

Aber warum, möchte jemand fragen, stellt man beständig das Gesetz und die Gnade als Gegensätze einander gegenüber? Bildet nicht jedes für sich einen Teil jenes großen Systems, mittelst dessen Gott den Menschen unterweisen und ihn für den Besitz des Himmels befähigen will? Wir antworten, dass, wenn wir sie als Gegensätze betrachten, dieses deshalb geschieht, weil der Heilige Geist zu wiederholten Malen dasselbe tut. Man lese z. B. Apostelgeschichte 15, Galater 3 und 4, und 2. Korinther 3; und dann teile man uns den Inhalt dieser Kapitel mit. Zeigt sich hier nicht der Gegensatz in der bestimmtesten Weise? Wer kann diese bewundernswürdigen Stellen der heiligen Schrift lesen und zugleich behaupten, dass das Gesetz ein notwendiger, ergänzender Teil des Evangeliums sei, der, wenn beseitigt, nichts übrig lasse, was den Namen des Evangeliums verdiene? Dass das Gesetz, von dem Augenblick seiner Erscheinung bis zur Ankunft Christi, ein Zuchtmeister der Juden war, sagt uns der Apostel in seinem Brief an die Galater. Dass bei gesetzmäßigem Gebrauch das Gesetz gut ist, versichert uns derselbe Apostel in seinem ersten Brief an Timotheus; (Kap 1,7–9) indem er hinzufügt, dass das Gesetz nicht für den Gerechten gegeben sei. Dass das Gesetz ihn getötet habe, meldet uns Paulus in dem 7. Kapitel der Brief an die Römer; und dass endlich das Gesetz, weit entfernt, ein ergänzender Teil des Evangeliums zu sein, in dem Zeitraum zwischen der dem Abraham gegebenen Verheißung und ihrer in der Person eines getöteten und auferstandenen Christus geschehenen Erfüllung entstanden sei, verkündet uns dieser Apostel in dem 3. Kapitel der Brief an die Galater. Aber die Behauptung, dass das Gesetz einen notwendigen Teil des Evangeliums bilde, ist ebenso ungereimt, als wenn man behaupten wollte, dass der Fluch, der Zorn, der Tod und die Verdammnis notwendige Teile der Segnung, der Gnade, des Lebens und der Gerechtigkeit seien. Möge der Herr die Seelen von dem traurigen Einfluss der Unterweisungen derer befreien, „welche Gesetzlehrer sein wollen und nicht verstehen, weder was sie sagen, noch worüber sie etwas behaupten“ (1. Tim 1,8).

Welch ein Glück für die sittlich versunkene Samariterin, dass der Herr für sie etwas anderes hatte, als die Donnerschläge des Gesetzes? Er konnte mit ihr von einer „Gabe“ reden; und gewiss, was streng gefordert wird, kann nicht ein notwendiger und ein ergänzender Teil einer Gabe sein. „Die Gabe Gottes ist das ewige Leben“, und zwar nicht erlangt durch das Gesetz, sondern durch „unseren Herrn Jesus Christus.“ Zudem hat das Gesetz nie das ewige Leben in den Himmeln in Aussicht gestellt, sondern nur von einem „fortbestehenden Leben auf der Erde“ gesprochen; aber das Evangelium bietet uns schon hienieden ein ewiges Leben und hernach eine ewige Herrlichkeit im Himmel an. Dieses sind also zwei ganz verschiedene Systeme und nicht etwa zwei Teile eines und desselben Systems. „Wenn du kanntest die Gabe Gottes (d. h. Christus Jesus selbst), du würdest Ihn gebeten haben, und Er hätte dir lebendiges Wasser (d. h. den Heiligen Geist) gegeben.“ So gab es also unter dem Gesetz nur Forderungen, Verbote und Flüche, während unter dem Evangelium alles Gabe, Gnade und Segen ist.

Und woher kam dieser Unterschied? Der Gesetzgeber war herabgestiegen von dem Gipfel des mit Feuer brennenden Berges. Er hatte seine Donnerschläge verstummen lassen und sich in unsere Menschheit gehüllt. Und in dieser Weise herabgestiegen und in dieses Kleid gehüllt, sitzt Er müde und durstig an dem Brunnen bei Sichar und bittet, wiewohl Er seine Hand nach allen Schätzen des Weltalls auszustrecken vermochte, eine elende Sünderin um einen Trunk Wasser. Wie, mein Leser, wirst du angesichts dieser rührenden Szene sagen können: „Wenn ihr das Gesetz von dem Evangelium trennt, so bleibt nichts übrig, was des Namens des Evangeliums würdig wäre?“ Was würdest du denken von einem Menschen, der sich zu behaupten erkühnte, dass, wenn man das sechste Gebot von dem 4. Kapitel des Evangeliums Johannes trenne, nichts übrigbliebe, was den Namen eines Evangeliums verdiene? Bilden denn die Donner des Berges Sinai einen ergänzenden Teil jener Herrlichkeit, die am Brunnen bei Sichar in unsere Augen strahlt? Wahrlich, beklagenswert ist der, welcher solche Gedanken besitzen und nähren kann!

Ohne Zweifel wird den Leser bei fernerer Betrachtung der bemerkenswerten Szene am Brunnen bei Sichar das unablässige Fragen des Weibes in Erstaunen setzen. Kaum hat sie eine Antwort erhalten, so schwebt schon wieder eine neue Frage auf ihren Lippen. Auf ihr erstes „Wie?“ hat der Herr geantwortet, indem Er mit ihr über die „Gabe Gottes“ sprach; aber eben diese Antwort wird für sie ein Beweggrund zu einer anderen Frage. „Herr!“ sagt sie, „Du hast kein Schöpfgefäß und der Brunnen ist tief, woher hast du denn das lebendige Wasser?“

Armes Weib! Wie wenig kennst du noch den, der mit dir redet! – In der Tat, der Brunnen mochte tief sein; allein tiefer noch waren die Bedürfnisse ihrer Seele; und selbst tiefer noch, als diese Bedürfnisse, war die Gnade, welche den Christus aus den Himmeln hatte herabsteigen lassen, um denselben zu begegnen. Allein sie kannte Ihn so wenig, dass sie sagen konnte: „Bist du größer, als unser Vater Jakob, der uns den Brunnen gab? Und er selbst trank aus demselben, und seine Söhne und sein Vieh.“ – Sie wusste nicht, dass sie sich wandte an den Gott Jakobs, an den, der Jakob geschaffen und ihm alles, was er sein Eigentum nennen konnte, gegeben hatte. Von diesem allen verstand sie nichts. Ihre Augen waren noch geschlossen; und das ist der Schlüssel ihrer wunderlichen Fragen.

Und so ist es noch immer. Überall, wo man Menschen findet, welche Fragen aufwerfen, kann man mit Sicherheit schließen, dass ihre Augen noch nicht geöffnet sind. Der Rationalist, der Zweifler, der Ungläubige – alle sind Blinde; und eben dieses ist es, was sie nötigt, Fragen zu stellen, Einwendungen zu machen und Zweifel zu hegen. Sie mögen sehr kenntnisreich sein; aber nichtsdestoweniger ist man erstaunt, bisweilen zu hören, welch törichte Fragen sie hervorzubringen im Stand sind. Ein Kind an geistlichem Verständnis hätte oft Ursache, über die Einwendungen zu lächeln, welche von ergrauten ungläubigen Gelehrten erhoben werden.

Indes waren bei der Samariterin diese Fragen nicht so sehr die Wirkung eines vermessenen Unglaubens, als vielmehr eine Folge der natürlichen Blindheit und Unwissenheit. Auch der Herr hört sie mit Geduld an. Bei gewissen Gelegenheiten wusste Er wohl einen schwatzhaften oder neugierigen Frager zum Schweigen zu bringen und abzuweisen; aber in anderen Fällen konnte Er, voll von erbarmender Herablassung und mit einer vollkommenen Geduld, den armen und unwissenden Frager anhören, und zwar in der Absicht, um seine Fragen zu beantworten, seine Zweifel zu lösen und seine Furcht zu zerstreuen.

So geschah es am Brunnen bei Sichar. Der Heiland hatte beschlossen, diesem unglücklichen, strafbaren Weibe sich zu erkennen zu geben; und deshalb erträgt Er sie und folgt ihr in allen ihren Fragen. Er vernichtet nach und nach alle ihre Einwendungen und verlässt sie nicht, bevor Er sie vollkommen überführt und ihre Seele durch die Offenbarung seiner selbst befriedigt hat. Sie dachte an die Tiefe des Brunnens und fragte mit Erstaunen, ob der, welcher mit ihr redete, größer sei, als ihr Vater Jakob. Sie vermochte nicht zu begreifen, wie Er sich dieses Wasser, wovon Er sprach, verschaffen könnte. „Jesus antwortete und sprach zu ihr: Jeder, der von diesem Wasser trinkt, wird wiederum dürsten.“ – Wie tief der Brunnen auch sein mochte, so enthielt er doch im Vergleich mit dem Durst, den er stillen sollte, nur wenig Wasser. Die tiefsten und wasserreichsten Brunnen der Erde mögen erforscht und ausgeschöpft werden; und dennoch bleibt der Durst der Seele ungestillt. Die Worte, die durch die Hand Jesu gleichsam als eine Inschrift in das steinerne Gerüst der Quelle bei Sichar gegraben wurden, können über alle Quellen dieser armen und vergänglichen Welt geschrieben werden; denn von allen wird es heißen: „Jeder, der von diesem Wasser trinkt, wird wiederum dürsten.“ Der reiche, in Purpur gekleidete Mann im Evangelium Lukas hatte zum Überfluss getrunken aus den Quellen dieser Welt; und dennoch dürstete er wiederum. Ja, als er in dem Hades seine Augen aufschlug und sich in den Qualen befand, da flehte er vergebens um einen einzigen Tropfen Wassers, um seine ausgedörrte Zunge zu kühlen. Ach! nicht einen einzigen Wassertropfen gibt es in den Qualen der Hölle? Welch ein ernster Gedanke! Ernst für alle; aber entsetzlich ernst für jene, welche der Üppigkeit und den Vergnügungen folgen und ihre Zeit damit verschwenden, dass sie von einer Quelle in dieser Welt zur anderen rennen, ohne an die Ewigkeit des brennenden Durstes in dem Feuersee zu denken. Möge Gott durch seinen Geist diesen Unglücklichen in den Weg treten und sie zu Christus führen, welcher jenes lebendige Wasser gibt, nach dessen Genüsse niemand wieder dürsten wird.

Welch einen Trost enthalten die Worte: „Jeder, der von dem Wasser trinkt, welches ich ihm geben werde, den wird nicht dürsten in Ewigkeit, sondern das Wasser, welches ich ihm geben werde, wird in ihm ein Quell Wassers werden, welches in das ewige Leben quillt.“ Das ist es, was die Bedürfnisse einer Seele stillt und befriedigt und sie besitzt in sich eine Quelle lebendigen Wassers, welches, stets frisch und fortwährend fließend, beständig nach oben zu ihrer Urquelle zurücksprudelt; denn die Fluten suchen immer den Höhepunkt ihrer Quelle. Unser Herr will hier von dem Heiligen Geist reden, welcher in jedem Gläubigen wohnt, und welcher das mächtige Mittel der Gemeinschaft mit dem Vater und seinem Sohn Jesus Christus ist. In Johannes 3,5 wird der Heilige Geist als der betrachtet, welcher das Leben wirkt, während Er in Kapitel 4,14 als die Kraft der Gemeinschaft, und in Kapitel 7, als die Kraft des Dienstes dargestellt wird. Durch den Heiligen Geist ist die Seele wiedergeboren; durch Ihn sind wir fähig gemacht, mit Gott Gemeinschaft zu haben und darin zu bleiben; und durch Ihn werden wir zu Segens Kanälen für andere. Die Quelle von diesem allen ist der Heilige Geist, der uns durch ein ewiges Band mit Christus, dem Haupt der neuen Schöpfung, vereinigt, in welchem und durch welchen wir alle die Segnungen und alle die Vorrechte genießen, womit Er, um uns zu bereichern, von dem Vater überschüttet ist.

Dieses alles finden wir in unserer Erzählung. „Das Weib spricht zu Ihm: Herr! gib mir dieses Wasser, damit ich nicht dürste und nicht hierherkomme, um zu schöpfen.“ Sie ist noch immer in Finsternis. Ihr Herz scheint noch nicht getroffen zu sein. Ihre Augen sind geschlossen; ihr Verstand ist verfinstert. Der Heiland der Sünder stand vor ihr; aber sie erkannte Ihn nicht. Er ließ sie Worte der Gnade hören; aber sie begriff sie nicht. Er hatte sie um einen Trunk Wasser gebeten: aber sie antwortete Ihm durch ein „Wie?“ Er hatte mit ihr von der Gabe Gottes geredet; sie aber ließ ein „Woher?“ vernehmen. Er hatte sie von ferne in eine ewige Quelle blicken lassen, allein sie sah darin nur den Vorteil, der Mühe des Wasserschöpfens überhoben zu sein. Was bleibt in Betreff ihrer noch zu tun übrig? Einzig und allein dieses: „Gehe hin, rufe deinen Mann, und komm hierher!“

In der Tat, diese Aufforderung gab den Gedanken dieses unglücklichen Weibes eine ganz andere Richtung. Unser Herr ist, so zu sagen, gezwungen, einen Pfeil aus seinem Köcher zu nehmen und denselben direkt in das Gewissen der Samariterin zu schleudern. Nachdem sie gesagt hatte: „Gib mir dieses Wasser!“ – antwortete ihr der Herr mit den Worten: „Gehe hin, rufe deinen Mann!“ – was so viel heißen sollte, als: „Wenn du dieses Wasser begehrst, wovon ich zu dir geredet habe, so kannst du es nur empfangen als eine arme Sünderin mit einem durch das Gefühl deiner Unwürdigkeit gebrochenen Herzen.“ Wie wunderbar! Wer vermöchte die ganze Tiefe dieser beiden Worte: „Geh“ und „komm!“ in dem Mund des Herrn zu ergründen? Sie sollte nicht nur gehen und ihren Mann rufen, sondern auch, gerade sowie sie war, zu Christus zurückkommen. Das war für sie das Mittel, um das lebendige Wasser zu erhalten. Das Wort: „Geh, rufe deinen Mann!“ warf einen Strahl der Wahrheit auf das Gewissen des Weibes, und zwar zu dem Zweck, um ihren wirklichen moralischen Zustand zu offenbaren, während jenes: „Komm hierher!“ die gesegnete Gnade ausdrückte, die ein solch elendes Geschöpf, gerade sowie es war, zu sich einzuladen vermochte, um das lebendige Wasser als eine freiwillige Gabe seiner Hand zu empfangen.

Jeder Leser wird selbst bei der geringsten Aufmerksamkeit die mächtige Wirkung wahrnehmen, die der scharfe Stachel der Überführung in dem Gewissen des Weibes hervorbrachte. Jetzt zum ersten Male sagt sie: „Herr! ich sehe.“ Das war schon viel für sie; ihre Augen begannen, sich zu öffnen; sie sah etwas. Sie begriff, dass sie sich in der Gegenwart eines geheimnisvollen Menschen befand, den sie für einen Propheten hielt. Wie mit Gewalt dringen mitten durch ihr Gewissen die ersten Strahlen des göttlichen Lichts in ihr ganzes moralisches Wesen. Sie entdeckt, dass der, welcher sie um einen Trunk Wasser gebeten hatte, in Betreff ihrer alles wusste und dennoch aber seine Bitte an sie gerichtet. Sich mit ihr unterhalten und sie keineswegs verachtet hatte. Gerade hier war der entscheidende Moment in ihrem geistlichen Leben.

Hast du, mein Leser, je einen ähnlichen Augenblick durch Erfahrung kennen gelernt? Hat sich dein Gewissen wirklich einmal in der Gegenwart dieses. Alles offenbar machenden Lichtes befunden? Aast du dich je als ein armer Sünder betrachtet, der, schuldig, verloren und ohne Christus, die Hölle verdiente? Ist jener Pfeil auch in dein Gewissen gedrungen? Wahrlich der Herr hat Pfeile von verschiedener Art in seinem Köcher. Er besaß einen Pfeil für den Menschen von den Pharisäern, und einen Pfeil für das Weib von Sichar. Es waren verschiedene Pfeile, aber jeder derselben erfüllte seine Aufgabe. „Wer die Wahrheit tut, kommt zu dem Licht“, – das war der Pfeil für den Menschen von den Pharisäern. „Gehe hin, rufe deinen Mann!“ – das war der Pfeil für das Weib von Sichar. Sie sind in der Tat ganz verschieden, aber jeder derselben hat sein Werk zu verrichten. Das Gewissen muss getroffen werden. Die Frage der Sünde und der Gerechtigkeit muss in der Gegenwart Gottes gelöst sein. Wohlan, mein Leser, ist dein Gewissen getroffen worden? Ist diese große und äußerst wichtige Frage zwischen deiner Seele und Gott in Ordnung gebracht? Wenn es so ist, dann wirst du im Stand sein, den noch übrigen Teil dieser anziehenden Erzählung zu verstehen.

Angelangt an diesem Punkt unseres Gegenstandes, vermögen wir in der Geschichte der Samariterin drei Dinge wahrzunehmen. Wir erblicken 1. einen offenbarten Sünder, 2. einen offenbarten Erretter und 3. einen zum Dienst geweihten Heiligen. Die Worte: „Gehe hin, rufe deinen Mann!“ offenbaren die Sünderin. Aber, haben wir nicht öfters bemerkt, dass, wenn das Gewissen eines Sünders wegen seiner Sünden und der Rechtsansprüche Gottes erwacht ist, er eine starke Neigung zeigt, sich mit Fragen bezüglich der Weise und des Ortes des Gottesdienstes zu beschäftigen? Ist dieses nicht bei vielen unter uns der Fall gewesen? Es gibt in der Tat wenige, welche, wie man es zu nennen pflegt, die ersten Gerade religiösen Lebens durchlaufen haben, ohne dass ihr Herz mehr oder weniger durch die wetteifernden Ansprüche verschiedener Kirchengemeinschaften oder Benennungen beunruhigt worden ist. Wo soll ich Gott anbeten? Welcher Benennung soll ich mich anschließen? In welcher Kirchengemeinschaft soll ich mich aufnehmen lassen? Welche von ihnen ist am meisten der Schrift gemäß? Genug, da gibt es der Fragen in Menge, die viele unter uns ernstlich prüfen zu müssen glaubten, und zwar oft lange vor der Zeit, ehe unsere Seelen in dem Glauben an einen offenbarten Heiland Ruhe gefunden hatten. Ebenso war es bei dem Weib von Sichar. Kaum hatte sie dem Wort: „Ich sehe!“ freien Lauf gelassen, als sie auch schon über den Ort der Anbetung eine Unterhaltung anknüpfte, indem sie sagte: „Unsere Väter haben auf diesem Berg angebetet, und ihr sagt, zu Jerusalem sei der Ort, wo man anbeten soll.“ – Die einen beten hier, die anderen dort an; wo sollen denn wir anbeten?

Ohne im geringsten der Welt das Interesse solcher Fragen streitig machen zu wollen, behaupten wir nichtsdestoweniger sehr bestimmt, dass es Fragen sind, mit denen sich ein Sünder, der sich als solcher erkannt hat oder überführt ist, nicht beschäftigen soll. Für einen solchen Menschen ist das eine, was alles andere verschwinden lässt, notwendig, dass er gefunden sei in der Gegenwart eines offenbarten Erretters. Ja, wir wiederholen es in der feierlichsten Weise, dass der aufgewachte Sünder nicht eines Anbetungsortes, nicht einer Sekte, einer Kirche oder einer Benennung bedarf, sondern eines offenbarten Erretters. Möge in der Seele der Gedanke ernstlich erwogen, wohl verstanden und sorgfältig bewahrt werden, dass ein überführter Sünder nimmer ein zum Dienst geweihter Heiliger werden kann, bevor er glücklich seinen Platz zu den Füßen eines offenbarten Heilands gefunden hat!

Dieser Punkt ist von der äußersten Wichtigkeit. Man hat oft sehr übel an den Seelen gehandelt; man hat die wahren Interessen des praktischen Christentums bloßgestellt, indem man diese Seelen mit den Kirchen und deren Benennungen beschäftigte, anstatt mit ihnen von Gott dem Heiland zu reden. Wer sich, bevor er Christus gefunden, irgendeinem Bekenntnis anschließt, setzt sich der großen Gefahr aus, dasselbe als Leiter zu gebrauchen, um darauf zu Christus hin zu gelangen, während solche Leitern nur zu oft dazu dienen, um von Christus abzuführen. Wir bedürfen keiner Leiter, um zu Christus zu gelangen; denn Er hat sich uns so sehr genähert, dass dadurch jedes derartige Mittel nutzlos geworden ist. Die ehebrecherische Samariterin bedurfte nichts dergleichen. Der Herr, wiewohl sie Ihn nicht erkannte, stand vor ihr und war bemüht, sie aus allen Schlupfwinkeln, in denen sie Schutz suchte, zu vertreiben, damit sie sich als eine große Sünderin, und Ihn als einen großen Erretter erkannte, der aus vollkommener Gnade vom Himmel gekommen, um sie nicht allein von der Schuld und den Folgen der Sünde, sondern auch von der Macht dieser Sünde zu retten. Was konnte ihr jener „Berg“, was konnte ihr „Jerusalem“ nützen? War es nicht augenscheinlich, dass eine Vor– und Hauptfrage ihre Aufmerksamkeit ernstlich fesselte, die dahin lautete: „Wie werde ich errettet von meinen Sünden?“ Konnte sie ihren Mann rufen und sich dann auf den Berg Samariens oder in den Tempel Jerusalems begeben? Welche Erleichterung vermochten diese Orte ihrem geängstigten Herzen oder ihrem beladenen Gewissen zu bringen? Konnte sie dort das Heil finden? Konnte sie dort den Vater im Geist und in der Wahrheit anbeten? War es nicht klar, dass sie, bevor sie an irgendeinem Ort anbeten konnte, des Heils bedurfte?

Eine vollständige und treue Antwort auf alle diese Fragen ist uns in den Worten des Herrn gegeben: „Weib, glaube mir, es kommt die Stunde, da ihr weder auf diesem Berg, noch zu Jerusalem den Vater anbeten werdet. Ihr betet an, was ihr nicht wisst; wir beten an, was wir wissen; denn das Heil ist aus den Juden. Es kommt aber die Stunde und ist jetzt, wo die wahrhaftigen Anbeter den Vater in Geist und Wahrheit anbeten werden; denn der Vater sucht auch solche, die Ihn anbeten. Gott ist ein Geist, und die Ihn anbeten, müssen Ihn in Geist und Wahrheit anbeten.“

In dieser Weise zeigte also der Herr dem Weib klar, dass sie nicht nur eine Sünderin, sondern auch, dass es nutzlos sei, ihren Geist mit Fragen bezüglich der Orte der Anbetung zu beschäftigen. Sie bedurfte des Heils; und dieses Heil konnte sie mir in der Erkenntnis Gottes finden, der als Vater offenbart war in dem Angesicht Jesu Christi. Dieses ist das Fundament aller wahren und geistlichen Anbetung. Um den Vater anzubeten, muss man Ihn erkennen, und Ihn erkennen, ist das ewige Leben.

Hier, mein christlicher Leser, können wir von dem Brunnen bei Sichar eine heilige und nützliche Lehre, in Betreff der richtigen Behandlungsweise mit beunruhigten Seelen, mit uns auf den Weg nehmen. Begegnen wir einer solchen Seele, so lasst uns sie nicht beschäftigen mit Fragen über Sekten und Parteien, über Kirchen und Benennungen, über Glaubensbekenntnisse und Konfessionen. Es ist in der Tat grausam, also zu handeln. Diese Seelen bedürfen des Heils, sie bedürfen der Erkenntnis Gottes, sie bedürfen Christi. Richten wir ihre Aufmerksamkeit nur auf diese eine Sache, und nötigen wir sie, sich nicht zu zerstreuen, bis sie den Herrn gefunden haben. Die Kirchenfragen haben ihren Platz, ihre Wichtigkeit und ihr Interesse; aber es ist augenscheinlich, dass sie den Seelen nichts nützen, die wegen ihrer Sünden in Unruhe sind. Ich fürchte, dass Tausende verhindert worden sind, tief zu graben und alle ihre Hoffnungen auf den Felsen zu gründen, weil man sie unkluger Weise mit kirchlichen Fragen in dem Augenblick beschäftigt hat, wo ihre Augen, um zu sehen, kaum geöffnet waren, und sie noch nicht ausrufen konnten: „Jesus hat mich geliebt.“ Ach, so viele sind so geneigt, die Reihen ihrer Partei zu vergrößern, dass dieses sie oft der Gefahr aussetzt, mehr daran zu denken, die Menschen zum Anschlüsse an sie zu bewegen, als sie einfach und direkt zu Christus zu führen. Dieses Übel muss gerichtet werden. Denken wir über das Beispiel nach, welches uns der Herr in seiner Handlungsweise gegenüber dem Weib von Sichar vor Augen stellt; und lasst uns nie die Torheit begehen, teuer erkaufte Seelen durch unzeitige Untersuchungen über die verschiedenen Orte der Anbetung von dem Grund, dem Gegenstand und dem Geist dieser Anbetung abzulenken.

Richten wir jetzt unsere Blicke auf den glücklichen Erfolg dieser weisen und vorsichtigen Handlungsweise des Herrn. Das Weib findet sich jetzt wie eingeschlossen in eine einzige Sache. Jetzt ist sie bereit, einen offenbarten Erretter zu empfangen. „Ich weiß“, sagt sie, „dass Messias kommt, der Christus genannt ist. Wenn Er gekommen ist, wird Er uns alles kundtun.“ Mit ihren Einwendungen und Fragen hat es, wie es scheint, ein Ende genommen. Ihre Fragen: „Wie? Woher? Wo?“ hatte Er ihr beantwortet. Was bleibt ihr jetzt noch zu wünschen übrig? Sie bedurfte eines Christus und sie hatte Ihn. „Ich bin es, der ich zu dir rede“, – sagt der Herr; und das ist genug. Alles ist jetzt beendet, seit sie ihr alles in Christus gefunden hat. Es ist weder ein „Berg“ noch ein „Tempel“, weder „Samaria“ noch „Jerusalem“, dessen sie bedarf. Sie hat Jesus, den Messias, den Heiland Gott gefunden. Eine überführte Sünderin und ein offenbarter Heiland stehen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber; und alles ist ein für alle Mal in Ordnung gebracht. Sie hatte die wunderbare Tatsache entdeckt, dass der, welcher sie um einen Trunk Wasser gebeten hatte, alle ihre Umstände kannte, dass Er ihr alles zu sagen vermochte, was sie getan hatte, und dem ungeachtet mit ihr von dem Heil redete. Was bedurfte sie weiter? Nichts. „Das Weib aber ließ ihren Wasserkrug stehen und ging weg nach der Stadt und sagt zu den Leuten: Kommt, seht einen Menschen, der mir alles gesagt hat, was ich getan habe; ist dieser nicht der Christus?“

Hier finden wir eine zum Dienst geweihte Heilige. Das Werk war vollkommen. Wie konnte es auch anders sein? War es doch die Hand des Herrn, die es ausgeführt hatte. Er hatte das Gewissen der Samariterin bis in seine geheimsten Tiefen auf die Probe gestellt und den Zustand ihrer Seele vor ihren eigenen Augen aufgedeckt; Er hatte sie bis in alle geheimsten Winkel und falschen Zufluchtsorte verfolgt und sie herausgetrieben; Er hatte ihr den nutzlosen Betrug, sich mit den Orten der Anbetung zu beschäftigen, vor Augen gestellt und sie fühlen lassen, dass außer Christus nichts ihre Bedürfnisse zu befriedigen vermöchte; und endlich hatte Er sich ihr offenbart, hatte vollen Besitz von ihrer Seele genommen und sie durch eine gesegnete Erfahrung die ganze Umwandlungskraft genießen lassen, deren eine neue Zuneigung mächtig ist. Als ein elendes Weib, als eine herabgewürdigte Ehebrecherin hatte sie am Morgen Sichar verlassen; und als eine losgekaufte, glückliche Heilige, als eine dem Herrn geweihte Magd trat sie wieder hinein. Sie ließ den Krug stehen und kehrte zurück zu dem Schauplatz ihrer Verbrechen und ihrer Schmach, um denselben in den Schauplatz ihres glänzenden und entschiedenen Zeugnisses für Christus umzuwandeln. „Kommt“, ruft sie, „seht einen Menschen, der mir alles gesagt hat, was ich getan habe.“ Welch ein herrliches Zeugnis! Welch eine herrliche Einladung!

O mein christlicher Leser! Möchte es doch stets auch unser Hauptziel sein, die Sünder zu Jesu einzuladen! Mit welchem Eifer unternimmt es dieses Weib! Kaum hat sie für sich selbst den Herrn gefunden, so schreitet sie auch schon zu dem gesegneten Werk, andere zu den Füßen des Heilands zu führen. Lasst uns hingehen und dasselbe tun! Trachten wir, wie der Apostel uns ermahnt, durch Wort und Wandel Seelen in großer Zahl um den Sohn Gottes zu sammeln! Ohne Zweifel werden sich viele unter uns wegen ihrer Lauheit in diesem vortrefflichen Werk zu richten haben. Wir sehen große Haufen dahin eilen auf dem breiten, geräumigen Wege, der ins ewige Verderben hinabführt; und dennoch, wie wenig bewegt uns dieser Anblickt Wie träge und langsam sind wir, das so wahre und für ihren Zustand so geeignete Wort: „Kommt“! an ihre Ohren gelangen zu lassen! O hätten wir doch mehr Eifer, mehr Kraft, mehr Inbrunst! Möge der Herr uns hinsichtlich des Wertes unsterblicher Seelen, sowie hinsichtlich des unendlichen Preises Christi und der ernsten und furchtbaren Wirklichkeit der Ewigkeit ein so tiefes Gefühl schenken, dass es uns antreibe, mit mehr Ausdauer und mit größerer Treue auf die Seelen unseres Gleichen zu wirken!

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