Betrachtung über das Evangelium nach Lukas

Lukas 18,31 bis 43

Betrachtung über das Evangelium nach Lukas

In diesem Abschnitt unseres Evangeliums finden wir eigentlich nichts Charakteristisches. Der Herr spricht hier, wie an den entsprechenden Stellen bei Matthäus und Markus, von Seinem Weg nach Jerusalem, und zwar in vollkommener Voraussicht der Leiden und des Todes, womit er enden sollte.

Während dieses ganzen Weges offenbart der Herr eine Erhabenheit, die wunderbar und anbetungswürdig ist. Jerusalem und der Kelch der Leiden stehen klar vor Ihm. Er findet kein Mitgefühl bei denen, die Ihm angehören, und Er erntet auch keine Anerkennung bei der Welt. Er ist berufen, das Kreuz und die damit verbundene Schmach zu erdulden, wobei alle menschliche Hilfe und Unterstützung Ihm versagt sind. Dennoch geht Er voran ohne das geringste Nachlassen Seiner Kraft in der Fürsorge und im Dienst für andere. Wir halten uns für berechtigt, an uns selbst zu denken, wenn wir in Trübsal kommen, und zu erwarten, dass auch andere an uns denken. Aber dieser vollkommene Dulder war auf Seinem ganzen Weg für andere besorgt, obwohl Ihn jeder Schritt in noch tiefere Leiden führte und Er wusste, dass keiner Seiner Schritte Ihm Dank von Menschen einbringen würde. Selbst Seine eigene kleine Schar verstand nichts von den Leiden, über die Er mit ihnen sprach.

Wir sahen im Verlauf des ganzen Evangeliums, dass der Herr als der vollkommene Lehrer Sich mit den Gedanken, Herzen und Gewissen der Menschen beschäftigte, und doch müssen wir beobachten, welche große Unwissenheit über die Schriften selbst die Apostel fortwährend offenbarten. Es scheint nicht, als hätte die Kenntnis der Propheten sie vorher auf die Ansprüche des Herrn Jesus vorbereitet, noch scheinen sie durch die Unterhaltungen mit Ihm in ihrer Erkenntnis gewachsen zu sein. Sie verwunderten sich fortwährend über die Dinge, die Er sagte oder tat, obwohl alles „nach den Schriften“ geschah oder „damit die Schriften erfüllt würden“.

Ihre Herzen waren geöffnet worden, wie später das Herz der Lydia. Die Anziehungskraft, die von dem Herrn Jesus ausging, hatte sie angezogen und sie von ihren Fischernetzen, ihren Verwandten und den Zöllnertischen gelöst. Auch ihre Gewissen mögen mehr oder weniger, wie bei Petrus, von einem überführenden Strahl Seiner Herrlichkeit getroffen worden sein, aber ihr Verständnis war nur wenig berührt worden.

Zur rechten Zeit wurde ihnen allerdings auch diese große Gnade zuteil. Nachdem der Herr aus den Toten auferstanden war, als alle die Tröstungen Seiner eigenen persönlichen Unterweisungen aufzuhören begannen, dann „öffnete er ihnen das Verständnis, um die Schriften zu verstehen“ (Lk 24,45). Das erste Kapitel der Apostelgeschichte liefert uns, noch vor der Gabe des Heiligen Geistes, ein Beispiel von der Frucht dieses neuen Geschenks, des geöffneten Verständnisses, um die Schriften zu verstehen (Apg 1,16.20). Das alles war ein großer Trost in der wachsenden Traurigkeit und Dunkelheit ihrer Umstände. Der Herr war von ihnen gegangen, aber der Feind war lebendig und mächtig, und deshalb begann nun das Licht von Gott seine Strahlen in geöffnete Augen zu werfen, damit sie durch nichts Geringeres als dieses göttliche Licht durch die Finsternis der Welt wandeln könnten. Ihr gnadenreicher Lehrer hatte sich persönlich zurückgezogen, und demgemäß wurde ihr Verständnis für die Schätze, Tröstungen und Stärkungen Seines Wortes geöffnet.

Jetzt war es aber noch nicht so weit, wie wir aus dieser Stelle ersehen. Der Herr selbst setzt Seinen Weg in vollem Bewusstsein der Leiden und Schmach fort, die ihn beenden sollten, aber Er findet kein Mitgefühl bei denen, die stets die Gegenstände Seiner Fürsorge und Belehrungen gewesen sind. Es war ein einsamer Weg für Ihn.

Wir sind jedoch auch Zeugen von Freude und Ermunterung für Seine Seele, die Ihm die unsichtbare Hand des Vaters zuteil werden lässt. Denn diese Hand zieht einige wenige Sünder zu Ihm, die unter diesem Zug (Joh 6,44) im Glauben zu Ihm kommen, während Er auf der Reise nach der schuldbeladenen Stadt ist, in der die Propheten getötet wurden. Er brauchte keine eigene, mühsame Arbeit darauf zu verwenden, was diese Fälle in lieblicher Weise von anderen unterscheidet. Diese Menschen waren ganz allein durch die geheimen Belehrungen und den Zug des Vaters zu Seiner Freude zubereitet. Gleichsam als die Freude einer Ernte werden sie in diesen dunklen, einsamen Stunden dem Herrn Jesus zugeführt: der blinde Bettler, dessen Glauben wir hier finden, Zachäus, der Ihm im nächsten Kapitel begegnet, und der sterbende Räuber, der Ihn gerade noch am Ende seines Lebens anruft. Diese alle sind Seine Speise auf Seinem Weg. Sie hatten Ihm keine Mühe und Arbeit verursacht wie jene, die täglich Seine Begleiter waren, und Ihn auch nicht geübt durch die Trägheit ihrer Herzen oder durch ihren Kleinglauben, sondern sie waren für Ihn wie die Freude der Ernte für den Schnitter.

Die große Entschiedenheit und das Verständnis ihres Glaubens sind in diesen Fällen außerordentlich köstlich. Der blinde Bettler, den wir hier vor uns haben, lässt sich nicht durch die religiöse Förmlichkeit der Volksmenge abhalten, „die Jesus, den Nazaräer“ nicht bedrängt sehen wollte, sondern er offenbarte seine Lage dem Ohr und Herzen des „Sohnes Davids“ in herzbewegender Weise. Das war entschlossener und verständnisvoller Glaube. Er wusste, was und wer Jesus war. Und der Herr Jesus nimmt diese Ermunterung und Erquickung an, die der Glaube dieses Mannes Ihm gewährt, denn Er steht auf die Bitte des Glaubens sofort still und stellt Sich selbst ihm zur Verfügung, indem Er zu dem armen Mann sagt: „Was willst du, das ich dir tun soll?“

So belebte der Gott der Gnade den mühevollen Weg dieses pilgernden Dieners der Gnade. Welche Befriedigung wird es für Ihn sein, wenn Er die volle Frucht der Mühsal Seiner Seele schauen wird!

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