Unterredungen über den zweiten Brief an die Korinther

Kapitel 5

Unterredungen über den zweiten Brief an die Korinther

Beim 5. Kapitel angelangt, bekommen wir zu wissen, dass trotz all der wunderbaren Dinge, von denen die vorigen Kapitel zu uns geredet haben, sei es vom Anschauen des Herrn, vom Verwandeltwerden in sein Bild, vom Offenbaren seines Lebens oder vom persönlichen Genuss seiner Herrlichkeiten, uns doch noch eins fehlt, und das ist: ihm gleichförmig sein. Gleichförmig sein ist nicht dasselbe wie umgestaltet werden. Unsere Umgestaltung vollzieht sich sehr langsam; sie ist derjenigen der Schmetterlingspuppen vergleichbar, die monatelang im gleichen Zustand zu bleiben scheinen, obgleich die Umgestaltung, aus der eines Tages der fertige Schmetterling hervorgeht, sich im geheimen vollzieht. Um ihm gleichförmig zu sein, müssen wir ihn mit unseren eigenen Augen sehen. Deshalb beschäftigt sich der Apostel jetzt mit der Frage unseres Leibes. Die Seele kann den Herrn genießen; aber was wird aus dem Leibe? Darauf gibt der Apostel die Antwort. „Wir wissen, dass, wenn unser irdisches Haus, die Hütte, zerstört wird, wir einen Bau von Gott haben, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, ein ewiges, in den Himmeln“ (V. 1). In allen Briefen drückt das Wort „wir wissen“ die unbedingte christliche Gewissheit aus. Aber ich möchte wohl wissen, ob das Wort „wir haben“ in diesem Vers den Freunden so zu schaffen macht, wie es einst mir zu schaffen gemacht hat. Der Apostel stellt den Leib als eine Hütte oder ein Zelt dar, das zerstört wird, und nach dem Ausdruck „wir haben“ zu urteilen, könnte man meinen, dass der Bau, nämlich unser verherrlichter Leib, uns schon im Voraus im Himmel bereitet wird. Das aber kann nicht sein, denn wir werden mit dem Leib in den Himmel eingehen, den wir hienieden gehabt haben, nur „umgestaltet zur Gleichförmigkeit mit seinem Leibe der Herrlichkeit“ (Phil 3,21). Mittlerweile habe ich die Stelle so verstanden, dass sie einerseits an die Stiftshütte und anderseits an den Tempel anspielt. Israel hat lange Zeit, selbst nach seinem Einzug in Kanaan, das von Moses in der Wüste aufgeschlagene Zelt als „Haus“ gehabt. Doch konnte dieses Zelt nicht dauernd bestehen bleiben. Als Salomo den Tempel erbaute, brachte er alle Geräte der Stiftshütte dorthin, während diese selbst vom Schauplatz verschwand. Alles, was sie enthielt, bildete fortan einen Teil des Tempels. Es war dasselbe Haus, aber das eine war für eine vorübergehende Zeit, während das andere in Herrlichkeit bestand. Trotzdem war auch der Tempel Salomos nur für diese Erde da; er war lediglich ein Bild der himmlischen Dinge, war „von dieser Schöpfung“ und „mit Händen gemacht“ (Heb 9,11). Wir haben heute eine Hütte, in der Gott wohnt, denn unser Leib ist sein Tempel; aber dieser Leib kann, wie die Stiftshütte, zerstört werden. Nur „wissen wir“, nur haben wir völlige Glaubenszuversicht, dass er, wenn zerstört, durch ein ewiges Haus in den Himmeln ersetzt werden wird. Es wird dasselbe Haus, aber nicht von dieser Schöpfung sein. Der Geist Gottes wird darin in Herrlichkeit wohnen, so wie er heute in Schwachheit in unserem irdischen Hause wohnt. Der Apostel freut sich in dem Gedanken, dass, wenn seine Hütte zerstört wird, sein zukünftiges Haus von ewigem Bestand sein wird im Himmel.

Indem der Apostel Jesum betrachtete, sah er, was sich zugetragen hatte in Bezug auf den Herrn, und infolgedessen auch, was sich zutragen muss in Bezug auf uns alle. „Brechet diesen Tempel ab“, hatte Jesus gesagt, „und in drei Tagen werde ich ihn aufrichten.“ Er war in diese Welt gekommen, um sein Leben zu lassen, und folglich konnte der Mensch es ihm nehmen. Der Tempel seines Leibes konnte abgebrochen werden, aber in der Auferstehung hat er einen verherrlichten Leib angenommen. Dieser Leib, den er hienieden ohne jede Spur von Sünde bewohnte, war ein heiliger, aber noch kein verherrlichter Leib; das ist er erst durch die Auferstehung geworden. Der Apostel blickt auf zum Himmel; dort sieht er Jesum in seinem verherrlichten Leibe und kann sagen: Ich habe ein Haus, das mir gehört, ein Haus in den Himmeln. Ein anderer Mensch ist schon mit dieser Behausung überkleidet worden; also werde auch ich damit überkleidet werden; und das erfüllt sein Herz mit Freude. „Denn in diesem freilich seufzen wir“, hat er vorher feststellen müssen. Dieses irdische Haus ist in der Tat ein Ort vieler Seufzer, vieler Tränen; aber er kann hinzufügen: „wir sehnen uns, mit unserer Behausung, die aus dem Himmel ist, überkleidet zu werden.“ Er beschäftigt sich mit dem Zerstörtwerden der Hütte; er seufzt darin, aber er wartet durchaus nicht auf den Tod. Sein Wunsch ist, nicht entkleidet, sondern überkleidet zu werden, damit das Sterbliche verschlungen werde von dem Leben. Er erwartet den Herrn Jesus, Dessen Kommen, während er zugleich die entschlafenen Heiligen auferweckt, unsere sterblichen Leiber, uns, die Lebenden, verwandeln wird, ohne dass wir durch den Tod zu gehen hätten. Das war es, was der Apostel wünschte. Er wünschte wie Christus zu sein, bei ihm und ewig mit ihm, ohne dass deswegen sein irdisches Haus zerstört zu werden brauchte. Diese bestimmte und in ihm allzeit lebendige Hoffnung ließ ihn jedoch nicht vergessen, dass die Zeit, seine Hütte abzulegen, nahe sein konnte. Und in Bezug hierauf fragt er gleichsam: Wäre das ein Verlust für mich? Weit davon entfernt! „So sind wir nun allezeit gutes Mutes und wissen, dass, während einheimisch in dem Leibe, wir von dem Herrn ausheimisch sind.“ Dies letztere war es, was er als Verlust betrachtete, und so fügt er hinzu: „Wir sind aber gutes Mutes und möchten lieber ausheimisch von dem Leibe und einheimisch bei dem Herrn sein.“ Hier haben wir den Zustand, wo die Seele von dem Leibe getrennt ist. Sollte er sterben, so würde er einheimisch bei dem Herrn sein. Was wählt er nun? Er wählt überhaupt nicht. Er ist zufrieden damit, durch Glauben, nicht durch Schauen zu wandeln. Es gibt eine Sache, die er „lieber möchte“, aber er „sehnt sich danach“, überkleidet zu werden. Die gleiche Wahl zwischen zwei Möglichkeiten hat er auch im Philipperbrief vor sich. (Kap. 1.) „Das Leben ist für mich Christus“, lesen wir dort. Ihm zu dienen, ist wohl der Mühe wert. Aber „Sterben ist Gewinn“. Deswegen „habe ich Lust, abzuscheiden und bei Christo zu sein, denn es ist weit besser“.

Der Apostel befindet sich also hier dreierlei Möglichkeiten gegenüber: Erstens seine Hütte zerstört zu sehen und alsbald aufzuerstehen, um ein Haus zu haben, das nicht mit Händen gemacht, sondern ewig ist, in den Himmeln. Zweitens beim Kommen des Herrn mit seiner Behausung, die aus dem Himmel ist, überkleidet zu werden, ohne durch den Tod zu gehen. Drittens diese Hütte zu verlassen und ausheimisch vom Leibe zu sein, in einem Zustand, der noch nicht das Vollkommene ist, aber der das Einheimischsein bei dem Herrn bedeutet. Selbst dieser dritte Fall genügt ihm; er kann von ihm sagen: „Es ist weit besser.“

Wenn wir nun jetzt einen Blick in unser Inneres werfen und uns fragen: Wie stehen wir diesen drei Möglichkeiten gegenüber? Wie wird dann unsere Antwort lauten? Sprechen wir angesichts der Möglichkeit des Todes: Ich bin völlig glücklich im Gedanken, diese arme Hütte gegen ein verherrlichtes Haus eintauschen zu können, das ich gut kenne, weil ja mein Heiland damit überkleidet worden ist? Oder sagen wir vielleicht: Ich erwarte den Herrn von einem Augenblick zum anderen? Gott hat mich nicht dazu bereitet, zu sterben, sondern er hat mich „eben hierzu bereitet“, das heißt, überkleidet zu werden, damit das Sterbliche verschlungen werde von dem Leben, und ich besitze schon seinen Geist als Unterpfand meiner Hoffnung? (V. 4.5) Oder sagen wir, bei dem Gedanken an den Tod und an eine noch in mehr oder weniger weiter Ferne liegende Auferstehung, dass wir lieber ausheimisch von dem Leibe und einheimisch bei dem Herrn sein möchten? Woran liegt es, liebe Freunde, dass diese Dinge so wenig Wirklichkeitswert für uns haben? Die ganze vorliegende Schriftstelle sagt es uns: Die Person des Herrn Jesus hat für uns nicht den Wert, den sie haben sollte, den Wert, den sie für den Apostel Paulus hatte. Christus war die tägliche Hoffnung seiner Seele. Sein Herz war nur mit ihm beschäftigt. Er hatte in dieser Welt keinen anderen Gegenstand, der ihn anzuziehen vermocht hätte. Das Leben war für ihn Christus. Für andere Dinge war in seinem Herzen kein Platz.

Ergreifen uns Freudeschauer, liebe Geschwister, bei dem Gedanken, dass der Herr jeden Augenblick kommen kann? Oder auch, wenn wir daran denken, dass er uns rufen kann, um unsere Hütte abzulegen und bei ihm auf die Vollkommenheit zu warten, in die er bereits eingetreten ist, und in der auch wir seine Genossen sein werden in Ewigkeit?

Kapitel 5,10-15

Wie von anderer Seite einmal bemerkt worden ist, ist dieses Kapitel das einzige im Neuen Testament, in welchem das Wort „wir“ ohne Unterschied auf alle Menschen angewandt wird, während es sich überall sonst auf die Gläubigen allein bezieht. Man muss also in diesem Kapitel sorgfältig die Stellung unterscheiden, die Gläubige oder Ungläubige den großen Tatsachen gegenüber einnehmen, die unterschiedslos alle Menschen angehen: Sünde, Tod und Gericht. Die Beobachtung dieses Unterschiedes ist von der größten Wichtigkeit für die Verkündigung des Evangeliums. Im Anfang dieses Kapitels haben wir gesehen, dass alle Menschen einmal vor Gott erscheinen müssen. Für sich selbst begehrte der Apostel dieses Erscheinen; nicht dass er wünschte, entkleidet zu werden (obgleich er zugab, dass das geschehen konnte), aber er wünschte, mit seinem verherrlichten Leibe überkleidet zu werden. Ob der Herr kommen würde, wenn er, der Apostel, bereits ins Grab gebettet war, oder wenn er noch in dieser Welt lebte, in jedem Fall erwartete er, mit einem verherrlichten Leibe überkleidet zu werden, um so vor Gott zu erscheinen. Aber gleichzeitig zeigte er, dass alle Menschen auferstehen müssen. „So wir anders“, heißt es im dritten Vers, „wenn wir auch bekleidet sind, nicht nackt erfunden werden.“ Alle müssen in ihren Leibern vor Gott erscheinen, aber die einen werden mit einem verherrlichten Leibe überkleidet, die anderen dagegen einfach mit einem Auferstehungsleib bekleidet sein. Die ersteren haben teil an der ersten Auferstehung; die Auferstehung der letzteren dagegen, die viel später stattfinden wird, wird der zweite Tod genannt. Man kann mit einem Auferstehungsleib bekleidet sein und doch vor Gott nackt erfunden, das heißt in einem Zustand erfunden werden, in welchem notwendigerweise das Gericht Gottes den Menschen treffen muss. Als Adam sich nach dem Fall bekleidet zu haben glaubte, fand er sich trotzdem nackt vor Gott, und das war seine Verurteilung. Es ist immer so: Der vor Gott nackt erfundene Mensch muss seine Strafe tragen. Deshalb überkleidete Gott, der Adam retten wollte, ihn selbst mit Fellen von geopferten Tieren. Wenn die Gläubigen vor Gott erscheinen, so werden sie nicht nur mit einem auferweckten Leib bekleidet sein, denn dieser letztere könnte sie nicht schützen, sondern mit einem verherrlichten Leib überkleidet, mit einem Leib, der dem ihres Heilandes gleicht, überkleidet mit der Herrlichkeit, die ihm gehört, überkleidet mit der Gerechtigkeit Gottes selbst. Das ist ihre Sicherheit. Denn wie sollte Gott uns nicht in seiner Gegenwart empfangen, wenn wir überkleidet sind mit all den herrlichen Eigenschaften, die das Teil seines Geliebten sind? Dann müsste er ja Christum selbst verwerfen!

In dem heute gelesenen Abschnitt finden wir aber noch eine zweite Wahrheit, die gleichzeitig Gläubige und Ungläubige angeht: „Wir müssen alle vor dem Richterstuhl des Christus offenbar werden, auf dass ein jeder empfange, was er in dem Leibe getan, nach dem er gehandelt hat, es sei gut oder böse“ (V. 10). Wie es zwei Auferstehungen gibt, so gibt es auch zweierlei Erscheinen vor dem Richterstuhl Christi. Wenn es sich um die Auferstehung der Bösen, „die Toten“ genannt, handelt, so hören wir, dass sie mit einem auferweckten Leibe bekleidet sein werden, um vor dem „großen, weißen Thron“ zu erscheinen, der dann errichtet werden wird, wenn weder für die Erde noch für den Himmel eine Stätte mehr gefunden wird. (vgl. Off 20,11-15) Dieser Thron ist für sie der Richterstuhl des Christus. Auf diesem Thron wird der Herr Jesus dann sitzen, um zu richten, denn von ihm steht geschrieben, dass Gott ihn zum Richter gesetzt hat, nicht allein der Lebendigen, sondern auch der Toten. (vgl. Apg 10,42) So sind diese Menschen, obgleich alle auferstanden, „Tote“. Vor diesem Richterstuhl werden die Bücher aufgetan, das Buch des Lebens sowohl als auch das Buch der Verantwortlichkeit. Nicht ein Wort kommt über die Lippen derer, die vor diesem Richterstuhl stehen. Sie werden gerichtet nach ihren Werken, wenn sie nicht geschrieben gefunden werden in dem Buche des Lebens.

Es gibt aber noch eine zweite Seite des Richterstuhls, und diese bezieht sich ausschließlich auf die Kinder Gottes. „Wir müssen alle vor dem Richterstuhl des Christus offenbar werden.“ Es wird ein Augenblick für uns Gläubige kommen, wo alles, was wir gewesen sind, oder was wir getan haben, vor dem Richterstuhl Christi, in der Gegenwart Gottes, voll und ganz ins Licht gebracht werden wird. Nicht das Geringste wird dort verborgen bleiben. Meine ganze Geschichte, von Anfang an bis zu dem Augenblick, wo es Gott gefällt, mich zu Sich zu rufen, wird dort an den Tag kommen. Alles, was wir hier getan haben, wird dort unter den Augen Gottes ins volle Licht gebracht werden; wir müssen offenbar werden vor dem Richterstuhl des Christus!

Auf welche Weise aber werden wir dort offenbar werden? Wir sahen bereits, dass die Menschen, die vor diesem Richterstuhl als Sünder erfunden werden, die Folgen ihrer Werke tragen müssen. Wir Gläubige dagegen werden dort im gleichen Charakter wie der Richter selbst erfunden werden, überkleidet mit all seinen Vollkommenheiten in einem in Herrlichkeit auferweckten Leib. Wir werden das Licht nicht fürchten, das dort auf unser ganzes vergangenes Leben fällt, denn wir wissen schon, dass die Gnade Gottes Mittel gefunden hat, sich aus unserer Armseligkeit heraus zu verherrlichen. Ja, dass selbst unsere Sünden ein Anlass für ihn sein werden, seine Herrlichkeit hervorleuchten zu lassen, wobei er uns freilich die Strafe oder Züchtigung in dieser Welt hat tragen lassen mit dem Endziel, uns dahin zu führen, wo er uns haben wollte, in die Herrlichkeit des Christus. Liebe Freunde, diese Erwägung macht mich glücklich bei dem Gedanken an den Richterstuhl. Wenn mein Leben dort nicht in all seinen Einzelheiten offenbar würde, so würde die Gnade Gottes, der es trotz allem gelungen ist, mich in die Herrlichkeit zu bringen, nicht in ihrer vollen Herrlichkeit zur Darstellung kommen. Das ist Stärkung für das Herz. Anstatt mit Furcht daran zu denken, dass meine Erbärmlichkeiten ans helle Tageslicht kommen werden, denke ich daran, dass Christus trotz all meiner Fehler verherrlicht worden ist; und darüber sollte ich mich nicht freuen? Wenn die Gnade Gottes nicht während meines ganzen Lebens über mir gewesen wäre, wie hätte ich dann zur ewigen Seligkeit und zum endlichen Sieg gelangen sollen?

Woran liegt es nun, dass ein Christ sich vor dem Richterstuhl Christi fürchtet? Weil er kein ruhiges Gewissen hat.

Wir hören hier, dass jeder vor dem Richterstuhl empfangen wird, „was er in dem Leibe getan, nach dem er gehandelt hat, es sei gut oder böse“. Jeder Gläubige wird eine Belohnung empfangen oder einen Verlust erleiden, je nach der Art, wie er hienieden dem Herrn gedient hat. Dem, der einen schlechten Lebenswandel führt, kann ich nicht sagen: Du wirst trotzdem gerettet werden! Vielmehr frage ich ihn: Wo wird deine Krone sein? Was für einen Platz wirst du in der Herrlichkeit einnehmen? Wirst du keinen Verlust erleiden, und was für einen Verlust?! So wird es sein mit jedem Gläubigen, der nicht seiner hohen Berufung gemäß gewandelt hat. Deshalb sagt der Herr zu Philadelphia: „Halte fest, was du hast, auf dass niemand deine Krone nehme.“ Die der Treue verheißene Krone kann uns genommen und anderen gegeben werden. Das haben die Worte zu bedeuten: „Empfangen, was er in dem Leibe getan, nach dem er gehandelt hat.“ Wenn ich meine Krone verloren, wenn ich Christum verunehrt habe, so wird dies ein großer Verlust für mich sein, in dem Augenblick, wo es ernste Wirklichkeit wird, dass ich vor dem Richterstuhl zu erscheinen habe; dort aber angelangt, werde ich der allererste sein, der dieses Urteil als gerecht anerkennt, zur Verherrlichung des heiligen Gottes und seines Christus. Mich tröstet der Gedanke, dass, wenn Gott mir in jenem Augenblick nimmt, was meine Treue hätte erlangen können, und es einem anderen gibt, dessen Frömmigkeit ich vielleicht nur wenig geschätzt habe, dies eine gerechte Handlung sein wird, die zu völliger Verherrlichung des Herrn ausschlagen wird.

Was sollten wir nun tun im Blick auf den Richterstuhl? Verwirklichen, was die beiden Aussprüche des Apostels besagen: „Da wir nun den Schrecken des Herrn kennen“, und: „Wir sind Gott offenbar geworden“ (V. 11). Wir müssen uns schon hienieden in dem Licht dieses Richterstuhls aufhalten und nicht auf den Himmel warten, um dort zu erscheinen. Bei Paulus war es so. Er lebte im vollen Licht des Richterstuhls Christi. Ohne sich irgendeiner Täuschung hinzugeben, sah und wusste er, dass in ihm, das ist in seinem Fleische, nichts Gutes war. Er lebte in gründlichem und beständigem Selbstgericht. Da er keinerlei Selbstvertrauen besaß, stützte er sich auf nichts, was er etwa in sich selbst hätte haben können; aber eins begehrte er: „Gott offenbar zu sein“, ähnlich wie es im 139. Psalm heißt: „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz!“ Für ihn war in der Tat der Richterstuhl schon hienieden eine Wirklichkeit, und er begehrte zu wissen, ehe er im Himmel dort erschien, ob „ein Weg der Mühsal“ in seinem Herzen sei, um „auf ewigem Wege“ geleitet zu werden. Seine Seele weilte beständig in Gottes Gegenwart und begehrte, von ihm erkannt zu sein, indem sie nur einen Wunsch hatte. Dieser bestand darin, dass Gott seine Seele jeden Augenblick im vollen Lichte seines Angesichtes erhalten möchte, um ihn alles entdecken zu lassen, was ihm zum Fallstrick und zum Anlass hätte werden können, sich von Gott zu entfernen, alles, was den Verlust der Belohnung des christlichen Zeugnisses hätte herbeirühren können. Und beachten wir noch dies: Der Apostel konnte sich das Zeugnis geben: „Wir sind Gott offenbar geworden, und wir hoffen, auch in euren Gewissen offenbar geworden zu sein“, mit anderen Worten, wir wünschen euch genau so wenig zu verbergen, wie wir vor Gott etwas verborgen haben.

Steht es so auch mit uns? Leben auch wir so vor Gott und Menschen, dass wir weder vor dem Einen noch vor den anderen irgendetwas zu verbergen haben? Bei dem Apostel war das der Fall. Er fühlte den ganzen Ernst des Richterstuhls Christi, aber dieser Gedanke ließ ihn vollkommen glücklich und ruhig sein, und am Ende seines Weges angelangt, konnte er in voller Zuversicht sagen: „Fortan liegt mir bereit die Krone der Gerechtigkeit“ (2. Tim 4,6-8). Paulus kommt dann auf seinen Dienst zurück. Was war die Wirkung des Richterstuhls auf Paulus als Diener Christi? Wenn er in Bezug auf ihn für sich selbst ohne jede Furcht ist - was die Sünder betrifft, weiß er, dass es für sie furchtbar sein wird, vor dem Thron des Gerichts erscheinen zu müssen. Dieser Gedanke drängt ihn, die ganze Kraft der Überzeugung, die Gott ihm gegeben hat, anzuwenden, um den Menschen zu zeigen, wie sehr der Herr zu fürchten ist, und sie zu überreden, das Hintreten vor Gott nicht auf später zu verschieben. Aber er wird nicht allein durch die Furcht zum Handeln gedrängt. Im 14. Vers fügt er hinzu: „Denn die Liebe des Christus drängt uns.“ Der Schrecken des Herrn und die Liebe Christi, das sind die beiden großen Beweggründe, die den Evangelisten drängen, seine Botschaft zu verkündigen. Wir können von dieser Liebe reden, weil wir deren Gegenstände sind, und von diesem Schrecken oder dieser Furcht, weil wir sie kennen. Für uns ist indessen diese Furcht nicht Angst, dem gerechten Gott zu begegnen, sondern wir fürchten uns, ihm zu missfallen oder ihn zu verunehren. Wenn die Folgen des Richterstuhls wirklich vor unseren Seelen stünden, wie würden wir uns dann gedrängt fühlen, den Menschen zuzurufen: Entflieht dem kommenden Zorn! Gott hat uns selbst gelehrt, diesem Zorn zu entfliehen, und hat uns davon befreit. So macht es wie wir, sprecht, während es noch Zeit ist, euch selbst das Urteil, damit ihr nicht dem Gericht überliefert werdet! So lautet die Sprache des Apostels. Er „überredete die Menschen“. Die Liebe Christi drängte ihn ohne Ruhe und ohne Rast. Sein ganzes Leben lang hat dieser Mann sich an die Sünder in dieser Welt gewandt, um sie dahin zu bringen, die freie Gnade anzunehmen, die Gott den Menschen durch Christum anbietet. „Denn die Liebe des Christus drängt uns“, sagt er, „indem wir also geurteilt haben, dass Einer für alle gestorben ist, und somit alle gestorben sind. Und er ist für alle gestorben, auf dass die, welche leben, nicht mehr sich selbst leben, sondern Dem, der für sie gestorben ist und ist auferweckt worden“ (V. 14.15). Hier finden wir abermals Gläubige und Ungläubige zusammen genannt. Wenn Christus für alle gestorben ist, Bekehrte und Unbekehrte, so beweist das, dass alle tot sind. Wenn ein einziger Mensch von diesem sittlichen Tod aller Menschen hätte ausgenommen werden können, so hätte Christus nicht für alle zu sterben brauchen. Gibt es nun solche, die aus diesem Tode herausgekommen sind? Ja; und zwar sind es die, welche im Glauben das Opfer Christi angenommen haben. Diese leben. Aber wenn der Herr nun für alle gestorben ist, warum leben dann nicht alle? Was ist das Hindernis, das dem Heil aller Menschen entgegensteht? Ach, das einzige und alleinige Hindernis ist der Wille des Menschen!

Das christliche Leben besteht darin, nicht mehr sich selbst zu leben. Wenn es recht verstanden wird, so hat die Selbstsucht des natürlichen Sünderherzens keinen Platz mehr in diesem Leben. Wenn Gott uns durch den Glauben an Christum ewiges Leben gibt, so will er, dass wir nicht mehr uns selbst leben. Gott hat uns in der Person Christi einen Gegenstand für unsere Herzen gegeben: „Den, der für uns gestorben ist und ist auferweckt worden.“ Ist es nicht der Mühe wert, für diesen Menschen zu leben?

Kapitel 5,13-21

Wir haben uns das letzte Mal mit der Frage beschäftigt, welche Stellung die Welt und anderseits die Christen den drei Tatsachen: Sünde, Tod und Gericht, gegenüber einnehmen. Wenn der Sünder vor diese Frage gestellt wird, so ist seine Lage verzweifelt, und er hat nichts zu erwarten als ewiges Verderben. Ganz anders der Christ. Wo sind seine Sünden? Sie sind verschwunden, da für ihn die Frage der Sünde am Kreuz geregelt wurde, wo Christus an unserer Statt zur Sünde gemacht worden ist. Und wie steht es im Blick auf den Tod? Nun, er ist für uns nichts weiter als die Vorstufe der Auferstehung, oder besser ausgedrückt, der Tod ist gleichsam nur eine Nebenerscheinung auf unserem Wege, während die Auferstehung die Wirklichkeit ist. Der Apostel wusste das. „Wo ist, o Tod, dein Stachel?“ ruft er, „wo ist, o Tod, dein Sieg?“ Die Macht des Todes ist für uns ebenso völlig geschwunden wie die der Sünde. Bleibt noch das Gericht. Was ist darüber zu sagen? Dass der Richterstuhl des Christus eine unendlich gesegnete Sache für jeden Christen ist, der weiß, dass die Gnade ihn vom ersten Schritt an begleitet hat, um ihn endlich vor diesen Richterstuhl zu führen. Dort wird alles, was sie getan haben, mit allen Einzelheiten, wie ein Bild vor den Augen der verherrlichten Heiligen, vor den Augen Gottes und den Augen Christi stehen. Gott wird alles ins volle Licht rücken, nicht, um uns die Strafe für unsere Sünden tragen zu lassen, sondern zur Verherrlichung seiner Gnade. Indessen gibt es noch etwas anderes, das wir nicht vergessen dürfen: Unser Verhalten in dieser Welt wird ewige Folgen haben, wenn wir in der Herrlichkeit sind, nicht zu unserer Verurteilung, sondern weil der Richterstuhl der Ort der Kronen und der Belohnungen ist. Der Apostel wusste am Ende seiner langen Laufbahn, dass seiner eine Belohnung wartete, denn er sagt: „Fortan liegt mir bereit die Krone der Gerechtigkeit, welche der Herr, der gerechte Richter, mir zur Vergeltung geben wird an jenem Tage“ (2. Tim 4,8). Gewiss sind wir nicht dazu berufen, dem Herrn wie Arbeiter um Lohn zu dienen, wohl aber so, dass wir ihm in unserem ganzen Verhalten wohlgefällig sind, damit wir dann vor seinem Richterstuhl aus seinem eigenen Munde die Worte vernehmen dürfen: „Wohl, du guter und treuer Knecht! ... Geh ein in die Freude deines Herrn.“ Das ist etwas anderes, als hören zu müssen: Du bist untreu gewesen; ich hatte eine Krone für dich bereit, aber ich kann sie dir nicht geben. Ich gebe sie einem anderen, und du, du gehst leer aus.

Der Apostel Paulus konnte mit Gewissheit darauf rechnen, eine schöne Krone der Herrlichkeit zu empfangen: alle die, welche er zu Christo geführt hatte, würden sie bilden. Was für eine Krone aber werden andere Christen in der Herrlichkeit erhalten, Christen, die für sich selbst oder für die Welt gelebt haben, die sich an ihren Gedanken, ihren Plänen und ihrem Verhalten genug sein ließen, anstatt an die Seelen zu denken, mit denen der Herr sie in Verbindung gebracht hat? Der Herr bedient sich daher dieses Ausblicks, um uns zu ermuntern, aber auch, um uns ernst zu stimmen. Es ist nicht gut damit, dass ich weiß: Der Richterstuhl Christi ist für mich nicht ein Ort ewiger Verdammnis. Es ist ein feierlicher Gedanke, wir könnten am Ende unserer irdischen Laufbahn vor dem Richterstuhl erscheinen, ohne auch nur ein Zeugnis der Zufriedenheit von unserem geliebten Herrn zu empfangen hinsichtlich dessen, was wir für ihn getan haben. Gehen wir nach dieser Wiederholung nunmehr zur Betrachtung der heute gelesenen Stelle über: „Denn sei es, dass wir außer uns sind, so sind wir es Gott; sei es, dass wir vernünftig sind - euch“ (V. 13). Hier möchte vielleicht der eine und andere erstaunt aufhorchen, wenn ich behaupte, dass diese Tatsache auch uns kennzeichnen sollte. Nicht so, als ob wir etwa dazu berufen wären, „außer uns zu sein“, wie der Apostel Paulus es gewesen ist. Diese Ermunterung hat Gott nur ihm auf seiner mühseligen und mit so vielen Schwierigkeiten besäten Laufbahn geschenkt. Aber wir haben hier das Beispiel eines Menschen, bei dem das Ich, die Selbstsucht des natürlichen Herzens, keinerlei Rolle spielte. Befand Paulus sich in einer Entzückung, so war es nicht für ihn, sondern für Gott; war er vernünftig, d. h. in ruhiger Besonnenheit, so war es ebenfalls nicht für ihn, sondern für seine Kinder im Glauben. So war das Leben des Apostels geteilt zwischen Gott, zu Dem er in den Himmel entrückt wurde, und seinen geliebten Korinthern, indem er nur an sie dachte, wenn er „vernünftig“ war. Wie war derartiges nur möglich? Deswegen, weil die Liebe Christi ihn drängte und von ihm Besitz ergriffen hatte. Das war Grund und Triebfeder dieses ganzen Lebens. Was anderseits das Verhalten des Paulus der Welt gegenüber anlangte, so gab es da zwei Beweggründe, die sein Herz erfüllten. Beim Gedanken an den Richterstuhl dachte er zuerst an die Menschen. Was wird aus ihnen werden, wenn sie vor dem Thron des Gerichts erscheinen müssen? Er kannte den Schrecken des Herrn und wusste, welche Wirkung die Gegenwart des gerechten und heiligen Gottes auf die Sünder ausüben würde. Darum ruft er ihnen zu: Hütet euch vor dem Richterstuhl! Dann aber hatte er ihnen von einer Liebe zu erzählen, die er vor allem kannte, denn er wusste, wie groß die Liebe Christi gegen ihn selbst war. Bis zum Schluss unseres Kapitels bleibt der Dienst auch weiterhin der große Gegenstand. In den vorigen Kapiteln hatten wir den Dienst des Apostels zugunsten des Volkes Gottes; aber damit ist er nicht erschöpft. Hier wendet sich der Dienst nach außen, an die Welt, und zwar mit diesen beiden Worten, zunächst: Hütet euch vor dem Gericht Gottes! Es handelt sich um eine ernste Sache und zugleich um eine Entscheidung von ewiger Bedeutung. Und zweitens: Öffnet Augen und Ohren, um zu sehen und zu hören, von welcher Art Christi Liebe ist! „Die Liebe des Christus drängt uns!“ Es war nicht seine Liebe zu Christus, die sein Herz erfüllte, sondern Christi Liebe selbst. Meine Liebe zu Christo ist eine so unvollständige Empfindung, dass sie niemals mein Herz füllen wird. Je weiter wir fortschreiten auf dem Wege des christlichen Lebens, desto mehr sehen wir, wie beschränkt unsere Zuneigung zu ihm ist, verglichen mit seiner Liebe, die sich am Kreuz geoffenbart hat, die sich jeden Tag in der Sorge des Hirten und Hohenpriesters erweist, und die sich in der Zukunft zeigen wird, wenn sie ihre Krönung in der Herrlichkeit findet, dort, wo wir für immer bei ihm und ihm gleich sein werden.

„Die Liebe des Christus drängt uns, indem wir also geurteilt haben, dass einer für alle gestorben ist, und somit alle gestorben sind.“ Das ist mit einem Wort die Grundlage und gleichsam das Endurteil des ganzen Evangeliums. Alle sind in den Augen Gottes tot (in unseren eigenen Augen sind wir es ja niemals); das ist durch die Tatsache bewiesen, dass der Herr Jesus gekommen ist, um für alle zu sterben. Im Herzen des sündigen Menschen gibt es nicht ein Fünkchen göttlichen Lebens: er ist tot. Aber Christus ist gekommen, um sich für alle dem Tode zu unterwerfen, und er hat uns, indem er aus den Toten auferstand, den Weg des Lebens gebahnt. Er hat uns seinen eigenen Platz in einem neuen Leben, einem Auferstehungsleben, gegeben, „auf dass die, welche leben, nicht mehr sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben ist und ist auferweckt worden“. Es sei mir gestattet, auf diesen Gedanken, der uns bereits früher beschäftigt hat, noch einmal zurückzukommen. Ich möchte an uns alle die Frage richten: Wie wollen wir von nun an unser neues Leben hienieden verbringen? Was wollen wir daraus machen? Beachten wir es, liebe Freunde, dass wir in diesen Worten das finden, was das Leben des Christen nach den Gedanken Gottes in Wahrheit ausmacht. Es gilt, nicht mehr sich selbst zu leben, sondern Christus! Kann das der sündige Mensch überhaupt? Niemals. Lesen wir nur Hosea 10, 1: „Israel ist ein wuchernder Weinstock, der seine Frucht ansetzte.“ So macht es der Mensch. Und an anderer Stelle heißt es: „Die da faseln zum Klange der Harfe, sich wie David Musikinstrumente ersinnen“ (Amos 6, 5). Der Prophet führt David an, den großen Erfinder von Instrumenten. David ließ diese Instrumente herstellen, um mit ihnen die Lobgesänge Jehovas zu begleiten. Der Mensch kann, so gut wie David, Musikinstrumente erfinden. Aber er bedient sich ihrer für sich selbst.

Soll unser Leben dieses Gepräge haben? Sagen uns nicht unsere eigenen Gewissen, dass wir als Gegenstände einer solchen Liebe alles Christus opfern und hinfort nicht mehr uns selbst leben sollten? Wenn ich hier in vertrautem Kreise meinen Brüdern und Schwestern diese Mahnung erteile, so dürfen sie davon überzeugt sein, dass ich die gleiche an mich selbst richte und mir durchaus nicht das Recht zuerkenne, mich anderen als Vorbild hinzustellen. Aber es gibt solche Vorbilder in dieser Welt. Ich kenne viele, einfache und aufopfernde Christen, denen Gott Zeugnis gegeben hat, dass sie nicht sich selbst, sondern Dem gelebt haben, der für sie gestorben ist und ist auferweckt worden!

Es ist gut, wenn wir ein wenig stillstehen und alle, ohne Ausnahme, unser Gewissen im Licht der Gegenwart des Herrn prüfen. Haben wir verstanden, zu welchem Zweck er uns neues Leben mitgeteilt hat, das imstande ist, zu lieben, sich ganz hinzugeben und ihm zu dienen? Wir haben solche Ermahnung nötig, denn er weiß sehr wohl, was unsere schwachen und oberflächlichen Herzen sind. Möchten wir doch allezeit diese Worte im Gedächtnis behalten: „Auf dass die, welche leben, nicht mehr sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben ist und ist auferweckt worden“!

Kapitel 5,14-21

Wie bereits bemerkt, macht uns das fünfte Kapitel mit einer neuen Seite des Dienstes bekannt, der Verkündigung des Evangeliums. Wenn irgendeine Stelle des Neuen Testaments uns die gewaltige Bedeutung der Evangeliums-Verkündigung klarmachen kann, so gewiss diese. Wir sahen auch, welch eine grundlegende Rolle dem Tode bei der Predigt des Evangeliums zufällt. Man kann ein völliges Heil in seiner ganzen Kraft und Macht nicht verkündigen, ohne darzustellen, was sein Ausgangspunkt ist, nämlich der sittliche Tod des verlorenen Sünders; aber gerade in dieser Hinsicht lässt die Evangeliumsverkündigung heutzutage viel zu wünschen übrig. Wenn ich von der Gnade Gottes in Christo rede ohne diese große Tatsache als Grundlage, dass der Mensch in den Augen Gottes völlig tot ist in seinen Vergehungen und Sünden, so schwäche ich die Kraft des Evangeliums. Man kann die Wahrheit, dass man ein Sünder ist und der Vergebung bedarf, angenommen haben trotz einer sehr unvollkommenen Verkündigung. Ich will auch gewiss nicht behaupten, dass eine Seele nicht auf diese Weise gerettet würde - jede Seele, welche die Vergebung ihrer Sünden empfangen hat, ist gerettet -, aber sie ist weit davon entfernt, jenes Evangelium erfasst zu haben, das der Apostel Paulus verkündigt hat. Wie wir sahen, ist, wenn einerseits der unverbesserlich verdorbene Zustand des Menschen der Ausgangspunkt des Evangeliums ist, anderseits die Liebe Gottes in Christo die Quelle von allem. Der Apostel kannte diese wunderbare Liebe, und seine Seele hatte sie in so hohem Maße erfasst und verstanden, dass er gedrängt wurde, zu den Menschen davon zu reden. So verband er diese beiden großen Wahrheiten des Evangeliums miteinander, den Tod und die Liebe: „Wenn einer für alle gestorben ist, sind alle gestorben.“ Mit diesem Wort ist der Beweis geliefert, dass auch nicht in der Seele eines einzigen Sünders ein Fünkchen göttlichen Lebens vorhanden ist, dass aber Gottes Liebe einen Weg gefunden hat, um einen Menschen an unser aller Stelle zu setzen, ihn, der da kam, um unseren Platz einzunehmen und alle daraus hervorgehenden Folgen zu tragen. Er ist also gestorben. Für wen? Für alle. Seine Liebe hat ihn herniedersteigen und sich für uns unter das Urteil des Todes stellen lassen. Aber Gott konnte seinen geliebten Sohn, den dieses Werk alles, sogar sein eigenes Leben, gekostet hat, nicht im Tode lassen. Deshalb hat Gott ihn, so wie er ihn für uns gegeben hat, auch für uns auferweckt, ihn, „der für euch gestorben ist und ist auferweckt worden“. Ich weiß jetzt, dass ich neues Leben besitze, ein Auferstehungsleben, weil Christus für mich auferstanden ist, so gut wie ich weiß, dass ich tot war in meinen Vergehungen und Sünden, weil Christus für mich gestorben ist. Nicht, und das ist wohl zu beachten, als ob ich mich tot fühlte, im Gegenteil, ich fühlte mich sehr lebendig, aber das Anschauen Christi hat mich darüber belehrt, was ich war, sowie darüber, was ich kraft seines Werkes geworden bin. Das ist der Inhalt des Evangeliums. Es zeigt uns, dass die Liebe Gottes den vielgeliebten Sohn an unseren Platz gestellt, und dass dieselbe Liebe unseren Stellvertreter auferweckt hat, indem sie ihm ein Auferstehungsleben gab, damit solche, wie wir sind, dieses Leben besitzen könnten. Und nun fügt der Apostel hinzu: „Auf dass die, welche leben, nicht mehr sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben ist“ (V. 15). Auf diese Wahrheit ist schon oft eindringlich hingewiesen worden. Wenn ich einmal den ganzen Wert des Opfers Christi verstanden habe, so bin ich damit auf einem Gebiet angelangt, wo für die Selbstsucht kein Raum mehr ist. Dem Sünder ist es eigen, sich stets zum Mittelpunkt zu machen. Man hat ihn wohl einem ins Wasser geworfenen Stein verglichen, um den sich immer weitere, immer ausgedehntere Kreise ziehen, deren Mittelpunkt aber der Stein stets bleibt. Wenn ich dadurch, dass ich neues Leben empfangen habe, von diesem Zustand befreit worden bin, so habe ich einen anderen Mittelpunkt als mich selbst gefunden, und das ist Christus. Das ist es, was den Christen, der sein Christentum verwirklicht, in den Augen Gottes kennzeichnet und wohlgefällig macht. Es ist ein Mensch, der von sich selbst gelöst ist und für sein Herz einen neuen Gegenstand, einen anderen Mittelpunkt gefunden hat, um den sich von nun an alle seine Gedanken bewegen. Im Brief an die Galater drückt sich der Apostel folgendermaßen aus: „Nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir; was ich aber jetzt lebe im Fleische, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat“ (Kap. 2, 20). Der Christ hat einen Gegenstand gefunden, der würdig ist, sein ganzes Herz einzunehmen, Jesum, der ihm geoffenbart hat, was Liebe ist. Mit welch einer Freude ist er jetzt von sich selbst gelöst, um ihm anzugehören! Diese Gedanken, auf die wir gar nicht oft genug zurückkommen können, führen uns zu den Versen: „Daher kennen wir von nun an niemand nach dem Fleische“ (V. 16). Eine völlige Umwandlung hat sich in meinem Leben vollzogen. Ich bin in ganz neue Beziehungen gebracht, oder, genauer ausgedrückt, die Beziehungen, in denen ich mich befand, haben ein ganz neues Gepräge angenommen. Nicht als ob das Christentum mich aus meinen alten, natürlichen Beziehungen, den Beziehungen zwischen Kind und Vater, zwischen Mann und Frau usw., herausgenommen hätte, aber sie haben ihren Charakter ganz und gar geändert, so dass ich sagen kann: „Ich kenne niemand nach dem Fleische.“ Im Epheserbrief lesen wir: „Ihr Kinder, gehorchet euren Eltern im Herrn“ (Eph 6, 1). Das ist es, was ich meine. In dieser Hinsicht hat sich der Charakter der Beziehungen geändert. Es ist wichtig, sich dessen bewusst zu sein. Unsere Beziehungen zueinander, und zwar nicht nur unsere Familienbeziehungen - denn es versteht sich von selbst, dass diejenigen der christlichen Familie andere sind als die der weltlichen Familie -, sondern auch unsere Beziehungen zu den Menschen in der Welt sind völlig andere geworden. Wie ist es nun in dieser Hinsicht mit uns? Können wir wirklich sagen: „Ich kenne niemand nach dem Fleische“? Sind unsere Verbindungen in der Tat nicht mehr die, welche sie früher gewesen sind, weil wir sie jetzt nur im Lichte Christi kennen? Und ist unsere Sprache im Blick auf unser Verhältnis zu unseren ehemaligen Freunden die des Apostels: „Die Liebe des Christus drängt uns“? Gerade an dieser Stelle spricht er von seinen Beziehungen zu den Menschen. Nachdem es uns bewusst worden ist, dass diese Menschen tot sind, wie wir es waren, können wir ihnen die Wahrheit des Evangeliums bringen, durch das wir selbst neues Leben empfangen haben.

Der Apostel fährt fort: „Wenn wir aber auch Christum nach dem Fleische gekannt haben, so kennen wir ihn doch jetzt nicht mehr also“ (V. 16). Dieses Wort „jetzt“ ist beachtenswert. Die jüdischen Jünger hatten seinerzeit Christum nach dem Fleische gekannt. Er war der Messias, der verheißene König, der in diese Welt gekommen war, um seinem Volke dem Fleische nach dargestellt zu werden. Aber er war verworfen worden, und der Apostel kannte ihn nicht mehr als Gegenstand der jüdischen Erwartung. Ebenso verhielt es sich bezüglich seiner Beziehungen zu denen aus seiner Nation, „seinen Verwandten nach dem Fleische“, obgleich er dieses Volk zärtlich liebte; aber er kannte sie jetzt nicht mehr also. „Daher, wenn jemand in Christo ist, da ist eine neue Schöpfung“ (V. 17). In Christo sein! darin liegt das ganze Geheimnis der stattgefundenen Veränderung. Ich bin nicht mehr in Adam, sondern in Christo! Da ist eine neue Schöpfung, gegründet auf ein ganz neues Leben durch die Auferstehung Christi aus den Toten: „Das Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu geworden.“ Tritt diese Änderung in Wahrheit bei uns in Erscheinung? Betrachten wir uns in allen unseren Beziehungen zu der Welt ringsum als nicht mehr im Fleische lebend, sondern als solche, die einer ganz neuen Ordnung der Dinge angehören? „Alles ist neu geworden.“ Der Bereich, in dem ich von nun an lebe, ist nicht mehr die Welt. Zwar bin ich noch in der Welt, aber ich gehöre nicht mehr zu ihr. Ich bin auf einen anderen Boden gestellt. Mein Leben ist nicht mehr das der alten Schöpfung. Zweifellos habe ich wie alle Menschen meinen Verstand, meinen Geist, meine irdische Tätigkeit, aber in Christo ist das Alte vergangen. Der Christ ist kein sinnlicher Mensch mehr, sondern ein geistiger Mensch. Aber wem gehören unsere Zuneigungen? Ach, liebe Freunde, ich muss bekennen, im praktischen Leben beweise ich meistenteils, dass das Alte nicht vergangen ist, und das demütigt mich. Aber ich spreche jetzt von der Stellung, die Gott uns gegeben hat, um uns über die armseligen Gedanken zu erheben, die uns zu den irdischen Dingen erniedrigen. Eine andere Frage ist, ob unsere Gedanken mit dem beschäftigt sind, was droben ist, ob unsere Wünsche nichts mit den irdischen Dingen mehr zu tun haben, und ob unsere Hoffnung ganz allein auf den gesegneten Augenblick gerichtet ist, wo wir beim Herrn sein werden. „Alles ist neu geworden. Alles aber von dem Gott, der uns mit sich selbst versöhnt hat durch Jesum Christum“ (V. 17. 18). Wie muss es uns demütigen, wahrzunehmen, dass, nachdem Gott uns in eine solche Stellung gebracht hat, wir diese kaum kennen! Der Apostel konnte sagen: „Ich kenne einen Menschen in Christo“; das Alte ist vergangen, alles ist neu geworden.

Mein Leben gehört nicht mehr dieser Welt; meine Hoffnung hat nichts mehr mit den irdischen Hoffnungen zu tun, sondern nur mit dem Himmel.

Er fügt hinzu: „Alles aber von dem Gott, der uns mit sich selbst versöhnt hat durch Jesum Christum.“ Auch ein beachtenswertes Wort. Es kehrt so häufig in diesem Abschnitt wieder und führt uns zu der höchsten Bedeutung dessen, was das Evangelium enthält, zur Versöhnung. Wir haben uns schon gesagt, dass es nicht alles ist, die Vergebung unserer Sünden empfangen zu haben. Freilich ist eine Seele, die diese Vergebung empfangen hat, von dem Druck befreit, der auf ihr lastete; sie weiß, dass der Heiland ihre Sünden getilgt hat, und dass Gott ihrer nicht mehr gedenkt, aber das ist nicht das ganze Evangelium. „Gott hat ihn für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm.“ Die Befreiung von der Sünde ist eine unendlich glückliche und gesegnete Sache. Gott erklärt mich für gerecht, vollkommen gerecht, seiner eigenen Gerechtigkeit entsprechend, weil er mich ohne Sünde in Christo sieht. Das führt zur Versöhnung. Wer von Versöhnung redet, redet von ganz neuen Beziehungen zwischen Gott und uns. Die Sünde hatte uns von ihm entfernt. Die Trennung zwischen ihm und uns war vollständig. Jetzt aber hat Gott ein Mittel gefunden, um diese Scheidung aufzuheben, so dass uns nichts mehr trennt. Nachdem Gott mich gerechtfertigt hat, verbindet er mich mit sich selbst. Als Beispiel diene ein Vorgang aus dem Geschäftsleben. Jemand hat das Vertrauen eines Menschen, dem er seine geschäftliche Existenz verdankt, getäuscht und ihn tief verwundet und bloßgestellt. Der Bankrott des Schuldigen ist die Folge davon. Der Geschädigte prüft die Rechnungen, stellt die Fälschungen fest ... und bezahlt sämtliche Schulden. Er hätte Grund zu sagen: Ich bezahle zwar deine Schulden, aber von nun an gibt es keinerlei Verbindung mehr zwischen uns beiden. Stattdessen rechtfertigt er den anderen und bringt ihn wieder zu Ehren, und, um die Größe dieser Ehrenrettung zu beweisen, macht er ihn zu seinem Teilhaber. Der bisherige Schuldner hat nun die gleichen Geschäfte, die gleichen Interessen, die gleichen Beziehungen wie der, den er so tief verletzt hat. Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen beiden, sondern es herrscht völlige Gemeinschaft. Ähnlich ist es hinsichtlich des großen Werkes, das Gott für uns getan hat. Das Ergebnis des Opfers Christi besteht nicht nur darin, uns Vergebung zu verschaffen und uns zu rechtfertigen, sondern auch darin, dass es uns mit Gott versöhnt. Er stellt die Beziehungen, die wir, die Schuldigen, abgebrochen hatten, wieder her und gibt uns die Interessen und Gegenstände, welche die Interessen und die Gegenstände Gottes selbst sind, um uns so mit ihm zu verbinden von nun an bis in Ewigkeit.

Diese Beziehungen konnten durch niemand anders als durch Jesum Christum wiederhergestellt werden: „Gott war in Christo, die Welt mit sich selbst versöhnend, ihnen ihre Übertretungen nicht zurechnend, und hat in uns das Wort der Versöhnung niedergelegt“ (V. 19). Das war es, was Gott charakterisierte, als Jesus inmitten der Menschen erschien. Aber die Welt hat diese Einladung nicht angenommen. Sie hat sich im Gegenteil dessen entledigt, in dem Gott selbst war, um die Welt mit sich zu versöhnen. Aber während seiner Abwesenheit schickt Gott Gesandte in seinen Dienern: „So sind wir nun Gesandte für Christum, als ob Gott durch uns ermahnte; wir bitten an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (V. 20). Diese Versöhnung hat jetzt nicht mehr zu geschehen wie zu der Zeit, als Gott in Christo in dieser Welt war. Sie ist geschehen. Die Grundlage dazu ist am Kreuze gelegt worden, wo der, der Sünde nicht kannte, für uns zur Sünde gemacht wurde. So lautet die Botschaft der Gesandten: Ihr könnt jetzt voller Vertrauen kommen! „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ Er hat seinen eigenen Sohn für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm! (vgl. auch Rö 5,10.11; Kol 1,21.22.)

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