Nehemia - die Rückkehr der Gefangenen nach Jerusalem

Nehemia 7-10

In Kapitel 7,4 lesen wir: „Die Stadt aber war geräumig und groß, und das Volk darin spärlich, und keine Häuser waren gebaut.“ Nachdem die Mauern vollendet waren, wurde es nötig, an die Besiedelung der  Stadt  zu denken. Diese Sache nimmt Nehemia jetzt in die Hand. Denn die Mauern wären ja zwecklos gewesen, wenn sie nicht zur Verteidigung eines bevölkerten Platzes hätten dienen sollen.

So finden wir denn zu Beginn des 7. Kapitels einen Plan im Herzen Nehemias, und er sucht sich Aufklärung über die Zurückgekehrten zu verschaffen. Damit beschäftigt, findet er das Geschlechtsverzeichnis derer, die in den Tagen Serubbabels zurückgekehrt waren. Ehe er jedoch zur Ausführung seines Planes schreitet, die Stadt zu bevölkern, tritt er sozusagen für eine Weile beiseite, um das Volk selbst zu besehen. Über diese Tätigkeit berichten die Kapitel 8-10. Sie bilden gewissermaßen eine Einschiebung, denn im 11. Kapitel nimmt Nehemia den Plan wieder auf, den er im 7. Kapitel gefasst hat.

Dieser Umstand verleiht den drei Kapiteln einen besonderen Charakter und eine besondere Bedeutung. Das Volk macht hier einen sittlichen Prozess durch, der in seiner Art sehr auffallend ist. Nehemia bekümmert sich um die Einzelnen, er sieht nach ihren Seelen, forscht nach ihrem sittlichen Zustand, und möchte sie gern beleben oder heiligen, bevor er sie an ihren Platz stellt.

Diese Tätigkeit beginnt am ersten Tag des siebten Monats, einem herausragenden Tag des israelitischen Kalenders. An diesem Tag wurde bekanntlich das Fest des Posaunenhalls gefeiert. Es war ein Tag des Wiederauflebens nach einer langen Zwischenzeit der Dürre oder des Todes im Land. Nach der gesetzlichen Verordnung musste an diesem ersten Tag des siebten Monats eine heilige Versammlung und ein Posaunenblasen stattfinden; denn er war, wie gesagt, das Symbol eines Wiederauflebens nach langer dürrer Zeit (vgl. 3. Mo 23,23-25). Diese Verordnung war lange nicht beobachtet worden. Hier, in Nehemia 8, kommt sie wieder zu ihrem Recht. Eine feierliche Versammlung des Volkes findet statt. Aber nicht nur das. Das Buch des Gesetzes wird auch vor den Ohren des Volkes gelesen und erklärt, und das Volk weint dabei - zu Recht, denn das Gesetz ist dazu da, den Sünder zu überführen und ihm den Schrei zu entlocken: „Ich elender Mensch!“ Doch suchen bei dieser Gelegenheit die Lehrer das Volk sogleich zu beschwichtigen, weil jener Tag „dem HERRN heilig“ war. Es war eine Zeit der Freude. Bewiesen wurde dies durch das Blasen der Posaunen und durch den beginnenden Neumond, der mit seinem täglich stärker werdenden Licht ein treffendes Bild von dem Wiederaufleben Israels ist. Das Volk wurde deshalb aufgefordert, die Freude an dem HERRN seine Stärke sein zu lassen, sich nicht zu betrüben und einander Teile zu senden.

Alles das stand in schönem Einklang mit den göttlichen Verordnungen über diesen Tag. Das Eine, was hinzugefügt wurde, oder was nicht durch 3. Mose 23 vorgeschrieben war - nämlich das Lesen des Gesetzes - diente nur dazu, dem Tag und seiner Feier einen reicheren, volleren Ton zu geben. Das Hinzugefügte stand durchaus nicht im Widerspruch mit dem Verordneten. Das Freiwillige bedeutete keine Verletzung des Vorgeschriebenen.

Wir erwarten an einem Tag der Erweckung nichts anderes. Dem Wort Gottes muss in solcher Zeit selbstverständlich alle Ehre zuteil werden, es muss die Richtschnur für alles bilden. Doch wird es dabei auch - ich möchte sagen: notwendigerweise - etwas Neues oder Hinzugefügtes geben, wie es der Charakter der Zeit, unter der Leitung des Heiligen Geistes, gerade eingibt. Aber dieses Neue, was es auch sein mag, wird sich in keiner Weise mit dem Wort Gottes in Widerspruch setzen. Das sehen wir hier.

Und wie kostbar ist es, hier zu entdecken, dass das Wort Gottes, einmal geöffnet, geöffnet bleibt! Es war gleichsam der Tag einer „offenen Bibel“. Einen Teil der Belehrung, nämlich die Mitteilung über die Satzungen des ersten Tages des siebten Monats, hat dieses geöffnete Buch bereits gegeben. Jetzt erteilt es weitere Belehrung. Es redet zu den Versammelten von den acht anderen Tagen des gleichen Monats, vom Fest der „Laubhütten“. Und das Volk, das bereits in dem Geist  gehorsamer Hörer das Wort aufnimmt, bleibt in diesem Wort. Sie erhalten Aufklärung über jenes wunderbare Fest, und sie feiern es, und zwar so, wie es seit Jahrhunderten nicht gefeiert worden war.

Das war ohne Frage sehr schön. Doch es gibt noch etwas anderes Neues.

Das 9. Kapitel zeigt uns die Kinder Israel in tiefer Demütigung. Ein ernstes Sündenbekenntnis findet statt, dem im 10. Kapitel das Eintreten in einen Bund des Gehorsams gegen Gott und der Beobachtung seiner Gebote folgt. Nichts von alledem war vorgeschrieben. 3. Mose 23 erwähnt nichts davon.

Hierbei ist jedoch wieder etwas zu beachten. Jene ernste Demütigung fand erst am 24. des Monats statt. Das Laubhüttenfest war vorüber. Es ging mit dem 22. zu Ende. Auch dies war schön. Die Versammlung wollte nicht durch ihre Demütigung und ihr Sündenbekenntnis das Fest stören oder seinen Zweck behindern. Das Laubhüttenfest war die fröhlichste Zeit im ganzen jüdischen Jahr. Es wurde gefeiert, wenn der ganze Ertrag des Landes eingesammelt war. Es war ein Bild von den Tagen der Herrlichkeit oder des Reiches.

Wie schon bemerkt, war die Demütigung ebenfalls eine freiwillige Handlung. Sie wurde nicht durch die Schrift gefordert, sondern, unter der Leitung des Geistes Gottes, veranlasst durch die Zeit und die Umstände, die die Erweckung unter Nehemia kennzeichneten. Bekenntnis war die passende Sprache für ein Volk, das in jenem Augenblick als Vertreter einer aufrührerischen, ungehorsamen und schuldbeladenen Nation dastand.

Dem „Aufhören, Böses zu tun“ muss jedoch ein „Lernen, Gutes zu tun“ folgen (Jes 1,16.17). Es ist richtig und notwendig, wenn wir unrecht getan haben, mit dem Bekenntnis des Unrechts zu beginnen, ehe wir uns  daran machen, das Rechte zu üben. Aber dem Bekenntnis des Unrechts sollte auch stets das Vollbringen des Rechten folgen. Die Erfüllung dieser Forderung tritt vor unseren Blick, wenn wir vom 9. zum 10. Kapitel übergehen.

Die Vornehmen und das ganze Volk vereinigen sich als „Brüder“, die abgesondert von den Völkern der Länder sind, und besiegeln einen Bund, um die Gesetze Gottes zu halten. Es ist erfreulich zu sehen, wie Rang und Stellung, geradeso wie zur Zeit des Bauens im 3. Kapitel, sich gleichsam in der Brüderschaft verlieren. „Der niedrige Bruder aber rühme sich seiner Hoheit, der reiche aber seiner Erniedrigung; denn wie des Grases Blume wird er vergehen“ (Jak 1,9.10). Aber auch  in  dem, wozu der Überrest sich jetzt verbindet und was er zu tun sucht, gibt es etwas Neues oder nicht Vorgeschriebenes. Sie verpflichten sich, alle Gebote des Herrn, seine Rechte und Satzungen zu beobachten, sich nicht mit anderen Völkern zu verschwägern, den Sabbat zu halten, sowie die Erstlinge des Landes, die Erstgeburt von Menschen und Vieh, samt dem Zehnten getreulich zu bringen. Alles das ist dem Wort entsprechend. Außerdem aber kommen sie überein, sich jährlich einen drittel Sekel für den Dienst des Hauses Gottes aufzuerlegen, und werfen Lose über die Holzspende, die sie zu bestimmten Zeiten für den Altar Gottes bringen wollen.

Alles das steht im lieblichen Einklang mit ihrer ganzen Handlungsweise an diesem Tag eines glücklichen Wiederauflebens. Das Wort findet in allen seinen Forderungen gebührende Anerkennung. Aber ihr Dienst, ihre Tätigkeit, geht noch darüber hinaus.

Damit geht die prophetische Tätigkeit Nehemias, wie ich sie nennen möchte, zu Ende. Sie ist schön vom Anfang bis zum Schluss. Das Volk macht eine gnädige Entwicklung durch. Es wird der Wahrheit gemäß durch den Geist geübt. Es wird überführt und findet dann Erleichterung. Darauf empfängt es Unterweisung über zukünftige Freuden in Tagen der Herrlichkeit. Und indem es so über seinen reichen  Anteil an der Gnade belehrt ist, kann es sich selbst betrachten, aber nicht in Furcht und im Geist der Knechtschaft, sondern um ein geziemendes Gebrochensein des Herzens hervorzurufen, und mit der Absicht, in Zukunft Gott zu dienen. Alles das mag uns wohl an jenes Wort erinnern, das durch den Heiligen Geist für das bußfertige Israel in den letzten Tagen vorgesehen ist: „Denn nach meiner Umkehr empfinde ich Reue, und nachdem ich zur Erkenntnis gebracht worden bin, schlage ich mich auf die Hüften. Ich schäme mich und bin auch zuschanden geworden, denn ich trage die Schmach meiner Jugend“ (Jer 31,19).

Nächstes Kapitel »« Vorheriges Kapitel