Joseph, der Patriarch

Die Brüder Josephs

Joseph, der Patriarch

1. Mose 37,25–30

„Und sie setzten sich, um zu essen. Und sie erhoben ihre Augen und sahen: Und siehe, ein Zug Ismaeliter kam von Gilead her; und ihre Kamele trugen Tragant und Balsamharz und Ladanum; sie zogen hin, um es nach Ägypten hinabzubringen. Da sprach Juda zu seinen Brüdern: Was für ein Gewinn ist es, dass wir unseren Bruder erschlagen und sein Blut bedecken? Kommt, lasst uns ihn an die Ismaeliter verkaufen; aber unsere Hand sei nicht an ihm, denn unser Bruder, unser Fleisch ist er! Und seine Brüder hörten auf ihn. Als nun die midianitischen Männer, die Kaufleute, vorüberkamen, da zogen und holten sie Joseph aus der Grube herauf und verkauften Joseph an die Ismaeliter für zwanzig Silberstücke; und sie brachten Joseph nach Ägypten. Und als Ruben zur Grube zurückkam, und siehe, Joseph war nicht in der Grube, da zerriss er seine Kleider. Und er kehrte zu seinen Brüdern zurück und sprach: Der Knabe ist nicht da, und ich, wohin soll ich gehen?“ (37,25–30).

In tiefer Not und Seelenangst lag Joseph in der dunklen Grube. Niemand sorgte noch kümmerte sich um „die Wunde Josephs“ (Amos 6,6). „Sie setzten sich nieder, um zu essen.“ Genauso handelten die Juden am Tag der Verwerfung und Kreuzigung ihres Messias. Niemand empfand seine tiefe Erniedrigung und seine tiefen Leiden. Man vermied es, in das Prätorium hineinzugehen, um sich nicht zu verunreinigen und das Passah essen zu können (Joh 18,28). Auf Golgatha erfüllte sich das Wort: „Er vertraute auf Gott, der rette ihn jetzt, wenn er ihn begehrt; denn er sagte: Ich bin Gottes Sohn!“ (Ps 22,8–9; Mt 27,43)

Während ihr Messias und König am Kreuz hing, gingen die Juden, da der Sabbat kurz bevorstand, zu Pilatus und baten ihn, dass die Beine der Gekreuzigten gebrochen und ihre Körper abgenommen würden, da das Gesetz dieses vorschrieb (5. Mo 21,23; Joh 19,31). Gott ließ aber das Brechen der Beine des Herrn nicht zu (Joh 19,33–37). Das Werk war vollbracht, der Tod war eingetreten.

„Und es war Rüsttag und der Sabbat brach an“ (Lk 23,54). Der Messias lag im Grab. Welch ereignisvoller Rüsttag und Passahsabbat! In Jerusalem aß man das Passah nach Vorschrift, doch es war „das Passah der Juden“. Gott hatte nichts damit zu tun. Und „es war Nacht“, Nacht im Herzen Judas, Nacht im Herzen des ganzen Volkes der Juden. Nur eine ganz kleine Schar wahrer Gläubiger trauerte und weinte (Mk 16,10).

Der Stein des Anstoßes, der Fels des Ärgernisses, war aus dem Weg geräumt. Alle hatten sich gegen Christus verbündet und waren eines Sinnes; selbst Pilatus und Herodes waren Freunde geworden. Die Hohenpriester, Schriftgelehrten und Pharisäer wurden bei dem Volk wieder geachtet. Der Nazarener, auf dessen Worte und Lehre die Menschen achteten, hatte ihnen doch oft recht Unangenehmes gesagt und ein ernstes „Wehe“ über sie ausgesprochen und sie bloßgestellt. Es war still geworden in den Straßen Jerusalems, keine Volksmenge lief mehr hinter Ihm her. Zwist, Unruhe, Zank und Streit für und gegen den Einen hatten aufgehört; Beruhigung und Befriedigung waren eingetreten, und kein Aufstand war mehr zu befürchten (Mt 26,5). Der Nazarener hatte sich erdreistet, sie zu belehren, auch hatte Er sie nicht einmal gefragt, ob Er im Tempel lehren dürfe (Mt 21,23). Alles dieses hatte nun aufgehört; jetzt konnten die Pharisäer und ihre Anhänger wieder ungestört ihre Feste halten. Nun würde Er keine Opfertiere mehr aus dem Tempel treiben, keine Wechslertische mehr umstoßen und keine Münzen mehr verschütten. „Es ist besser, dass ein Mensch sterbe, und nicht die ganze Nation umkomme“ (Joh 11,50). Solche und ähnliche Gedanken waren in ihrem Innern wirksam gewesen, um das anklagende Gewissen zu beruhigen.

Obwohl das, was in Jerusalem geschah, etwas über das hinausgeht, was uns in 1. Mose 37 im Vorbild erzählt wird, so ist es doch notwendig, an jene Zeit in Jerusalem zu erinnern, da die wenigen Mitteilungen in Verbindung mit Joseph auf den späteren Zustand der Juden hinweisen.

Die wahre Sonne des Lichtes und des Lebens war nicht mehr unter ihnen. Es war Nacht in Jerusalem, obwohl die Wogen des Festes noch weitergingen. Nacht in Herz und Gewissen all derer, die seinem Gnadenruf ausgewichen waren.

Aber es war zu derselben Zeit in Jerusalem, wie auch an anderen Orten, selbst in Samaria, eine kleine Zahl wahrer Gläubiger, eine kleine Herde, ein kleiner Überrest im Volk, deren Namen im Himmel angeschrieben waren. Von ihnen hatte niemand in den bösen Rat und in die böse Tat eingestimmt (Lk 23,50.51). Ja, sie trauerten und weinten, während die gottfeindliche Welt sich freute. Obwohl sie schwache Jünger und Jüngerinnen waren, hatten sie untereinander eine innige Liebe. Wohin hätten sie gehen und zu wem sich wenden können? Sie hatten vom Herrn Worte des Lebens gehört und die Herrlichkeit des Herrn angeschaut. Er hatte wunderbare Worte vom Vaterhaus, von seiner Rückkehr und vom Kommen des Heiligen Geistes zu ihnen geredet. Ja, ihnen allein erschien der Herr am Auferstehungstag und zeigte ihnen seine durchgrabenen Hände und seine geöffnete Seite. Die Jünger freuten sich, als sie den Herrn sahen. Die Freude war umso größer, weil sie kurz vorher festgestellt hatten, dass das Grab leer war.

Wie furchtbar war die Lüge wirksam, sowohl bei den Brüdern Josephs, als auch am Auferstehungstag in Jerusalem bei den Führern des Volkes. Man gab den Soldaten Geld genug, um die Lüge zu verbreiten, die Jünger hätten den Körper des Herrn gestohlen und weggetragen (Mt 28,11–15).

Als der Herr seinen Geist aufgab, wurde durch Gott im Tempel der Vorhang, der das Heilige vom Allerheiligsten trennte, von oben bis unten in zwei Stücke zerrissen. Dies geschah am Rüsttag vor dem Passah, um die neunte Stunde. Keine Lüge und keine Verschleierung konnten diese Tatsache ungeschehen machen. Selbst das große Erdbeben – die Erde erbebte und die Felsen zerrissen – war ohne Eindruck geblieben, und das Volk der Juden feierte das Passahfest, als ob nichts geschehen wäre (Mt 27,51; 28,2).

„Und sie erhoben ihre Augen und sahen: Und siehe, ein Zug Ismaeliter kam von Gilead her“ (1. Mo 37,25). Gilead heißt: „Berg des Zeugnisses“. Hier fand in Gegenwart der Nachkommen Abrahams und der Nachkommen Ismaels der Handel und Verkauf Josephs statt. „Denn dies ist nicht in einem Winkel geschehen“ (Apg 26,26), sagt Paulus im Blick auf die Leiden und auf die Auferstehung des Christus. In jenen Tagen war in Jerusalem eine große Menge Menschen von nah und fern anwesend. In drei Sprachen war die Überschrift am Kreuz verfasst, damit es alle lesen und verstehen konnten. Joseph wurde für 20 Silberstücke als Sklave an die Kaufleute verkauft. Der Herr Jesus, weil er älter als Joseph war, wurde mit 30 Sekeln Silber geschätzt, die Summe, die durch Sacharja schon lange zuvor geweissagt worden war (Sach 11,12.13; Mt 27,9.10).

Wie Juda heuchlerisch von „unserem Bruder“ redete, „unser Fleisch ist er“ – einer aus der Zahl der zwölf Söhne Jakobs – ebenso heuchelte in schrecklicher Weise ein anderer, Judas, auch einer aus der Zahl jener Zwölf, die um den Herrn waren und verriet Jesus um den Preis von 30 Silberstücken mit einem Kuss (Mk 14,45). Dieser Heuchler und Verräter nennt Ihn sogar „Rabbi – Rabbi!“ In beiden Fällen war der Preis vorher festgelegt worden; das Geld gab also jedes Mal den Ausschlag. Die Hohenpriester erwarben für die Silberstücke den Acker des Töpfers (Mt 27,7). Auch dies war vorher geweissagt worden (Sach 11,12.13).

Wie Ruben bei jener schrecklichen Handlung abwesend war, so waren auch zur Zeit des Herrn Jesus die zehn Stämme Israels nicht mehr im Land. Ähnlich wie Juda sagte: „Unsere Hand sei nicht an ihm“, so hören wir die Worte der Führer in Juda zu Pilatus sagen: „Es ist uns nicht erlaubt, jemand zu töten“ (Joh 18,31.32). Der Herr Jesus hatte schon vorher klar bezeugt, dass man Ihn den Nationen überliefern würde, genauso wie Joseph den Ismaelitern ausgeliefert wurde.

Ähnlich wie Ruben sein Kleid zerriss, so zerriss auch der Hohepriester sein Kleid (Mt 26,65). Ruben rief: „Der Knabe ist nicht da und wohin soll ich nun gehen?“ (1. Mo 37,29.30). Der Messias war tot und lag im Grab, und wohin sollte das Volk nun gehen?

Ja, der Knabe – wohl eine Anspielung Rubens auf die Unschuld Josephs – war nicht mehr da; Ruben hätte früher eingreifen sollen, jetzt war es zu spät. So war es auch im Blick auf das Volk der Juden. Sie hatten ihren verheißenen und gekommenen Messias verworfen, den einen geliebten Sohn getötet und aus dem Weinberg hinausgeworfen (Mk 12,6–12). Jetzt blieb nur das Gericht übrig – bis Gott in späteren Tagen seinem irdischen Bundesvolk dieselbe Person wieder vor ihre dann erleuchteten Augen stellen würde.

Inzwischen befindet sich Israel, vertrieben aus dem Land, unter Gericht und ist für alle Nationen ein Fluch geworden (vgl. Jer 24,9; 5. Mo 28,64–67; Sach 8,13a.). Die Zeit wird aber kommen, da Gott auf ernste Weise Israel geläutert und gereinigt in das Land der Väter zurückbringen wird. Heute fühlt sich Israel noch wohl unter den Nationen und der Trieb, in ihr Land zurückzukehren, ist sehr gering. Gott wird noch manches Mittel gebrauchen müssen, bis Israel sich Gottes Willen fügen und Ihm gehorchen wird. Wohl ist heute der Staat Israel errichtet, aber es ist erst ein kleiner Anfang. Doch zeigt er, wie sich alles für die Erfüllung der gegebenen Verheißungen vorbereitet.

Der Knabe Joseph lebte – natürlich lebte er außerhalb Kanaans. Doch welches Glück für seine Brüder und für das ganze Haus seines Vaters im Blick auf die Zukunft.

Für uns lebt der Herr Jesus im Himmel, und jeder Glaubende darf sagen: „Dort lebt Er für mich!“. Er ist im Himmel beim Vater und verwendet sich für uns, um uns in allen Übungen und Prüfungen aufrecht zu erhalten. Er ist der große, mitleidsvolle Hohepriester seines Volkes (Heb 2,9–18). Welche Gnade, dieses durch sein Wort und seinen Heiligen Geist zu wissen!

Joseph wurde als willenloser Sklave nach Ägypten geführt. Keine Widerrede, kein Sträuben, keine Klage ist vernehmbar, trotz der harten, gefühllosen Behandlung, die sie ihm angedeihen ließen. Von unserem Herrn lesen wir: Er tat seinen Mund nicht auf, drohte nicht, sondern Er übergab sich völlig dem, der gerecht richtet (1. Pet 2,23). Gleicherweise redet der Heilige Geist durch Gottes Wort von dem Herrn Jesus im Blick auf seine Leiden, seien es die vonseiten der Menschen oder vonseiten Gottes (Jes 53; Ps 22).

Joseph kam nach Ägypten, wie auch der Herr Jesus in seiner Kindheit (Mt 2,13; 2,21). Später folgte das ganze Haus Jakobs Joseph nach Ägypten, da nach dem Wort Gottes der Same Abrahams sich vierhundert Jahre als Fremder in einem fremden Land aufhalten würde (1. Mo 15,13–14; Apg 7,6). Danach würden sie mit großer Habe ausziehen. Dies alles ging, wie wir in 2. Mose 12 lesen, in Erfüllung. Der Herr sandte Joseph vor ihnen her; Gottes Hand war in diesem allem (Ps 105,17–23).

Gottes Voraussage ging in Erfüllung: Joseph wurde in die Hände der Heiden überliefert – ein Vorbild vom Herrn Jesus. Israel wurde ein Fremder in fremdem Land.

Trotz seiner Treue und Liebe gab es für Joseph diesen schmerzlichen Ausgang. Alles lag dunkel vor ihm; welche schwere Prüfung!

Übungen, Prüfungen und Leid, das Gott zulässt, gibt es auch im Leben jedes Gläubigen. Zunächst erscheint alles einerseits unfassbar und unbegreiflich für uns und andere, doch wissen wir andererseits auch, dass in der weisen und liebenden Hand des Herrn alles richtig abgemessen ist und Gott nichts zulässt, das Er nicht zuvor bedacht hat (Jes 55,8; Ps 77; 20.21; 1. Pet 1,6–9). Früher oder später kommt bestimmt die Zeit, wo wir mit Jubel sagen werden: „Alle seine Wege sind recht“ (5. Mo 32,4).

Welche Gnade, dass der Gläubige so mit seinem Gott und Vater in Verbindung steht und Ihm alles anbefehlen kann und darf. Gott macht alles gut! Die Geschichte Josephs gibt uns eine Fülle praktischer Belehrungen, die zu allen Zeiten geprüften Kindern Gottes zur Ermunterung und zum Segen gereichten.

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