Gedanken zum Buch Ruth

Kapitel 1

Der Unglaube

„Und es geschah in den Tagen, als die Richter richteten, da entstand eine Hungersnot im Land. Und ein Mann von Bethlehem-Juda zog hin, um sich in den Gebieten von Moab aufzuhalten, er und seine Frau und seine beiden Söhne Und der Name des Mannes war Elimelech, und der Name seiner Frau Noomi, und die Namen seiner beiden Söhne Machlon und Kiljon, Ephratiter aus Bethlehem-Juda. Und sie kamen in die Gebiete von Moab und blieben dort.

Und Elimelech, der Mann Noomis, starb; und sie blieb mit ihren beiden Söhnen übrig. Und sie nahmen sich moabitische Frauen: Der Name der einen war Orpa, und der Name der anderen Ruth; und sie wohnten dort etwa zehn Jahre. Da starben auch die beiden, Machlon und Kiljon; und die Frau blieb von ihren beiden Söhnen und von ihrem Mann allein übrig“ (Ruth 1,1–5).

Das Buch der Richter ist eines der traurigeren Bücher in der Heiligen Schrift. Die Dunkelheit dieses Buches steht in deutlichem Kontrast zu der brillanten Erzählung Josuas. Wir sind traurig bei dem Gedanken, dass Gott den Zustand der Tage der Richter vorhergesehen hatte. Ein trauriges Ergebnis dieser Zeit ist die Abkehr des Volkes von Gott – und das trotz aller Warnungen!

Im Verlauf des Buches der Richter verstärkt sich die Dunkelheit. Am Anfang gibt es ein Schreien zu Gott, ein Bekenntnis der Sünde und eine Wiederherstellung in Seiner Barmherzigkeit. Aber das Werk der Befreiung wird immer seichter, die Befreier selbst sind immer weniger durch Glauben gekennzeichnet, bis der letzte Befreier, Simson, in der Gefangenschaft stirbt.

Der Rest des Buches enthält die beschämenden Erzählungen von der götzendienerischen Abkehr von Gott und der damit einhergehenden Verderbtheit des Menschen, mit dem blutigen Bürgerkrieg, der beinahe einen ganzen Stamm auslöschte.

Es gibt überall Einblicke in Gottes Barmherzigkeit, soweit das unglückliche Volk es zuließ. Aber die allgemeine Tendenz ist abwärts und weg vom Licht. Auf nationaler Ebene erwies sich das Volk als ungläubig. Alles deutete auf die Notwendigkeit einer neuen Ordnung hin. Es gab keinen König in Israel. Später hatten sie zwar einen König, aber nur als ein Vorbild auf den wahren König, auf den das Volk noch warten muss und dessen Ankunft wie ein „Morgen ohne Wolken“ (2. Sam 23,4) sein wird.

In Buch Ruth haben wir ein helles Bild – nicht von Menschen sondern von der Gnade Gottes. Es beginnt moralisch dort, wo die Richter enden: im Abfall von Gott. Aber es ist eine Geschichte der Barmherzigkeit, eine Barmherzigkeit über allen unseren Vorstellungen, mit vielen freudigen Überraschungen.

Historisch gesehen ist das Buch Ruth offensichtlich das Bindeglied zwischen der Zeit der Richter und der Zeit der Könige. Es zeigt uns die Abstammung Davids, des Mannes nach dem Herzen Gottes und zeigt in prophetischer Weise, wie aller Segen von dem Sohn Davids kommt.

In erster Linie hat dieses Buch mit Israel zu tun. Es zeigt den vergangenen Weg dieser Nation auf, ihren gegenwärtigen Zustand und den Weg in den zukünftigen Segen.

Aber die Gnade ist dieselbe, ob sie Israel oder den Heiden gezeigt wird – einer ganzen Nation oder einem Einzelnen. Es wird sich daher schnell zeigen, dass die Hauptbotschaft auch auf den Einzelnen angewendet werden kann, obwohl die Form zur damaligen Haushaltung gehört und nationalen Charakter hat.

Es gibt ein gemeinsames Leben und ein gemeinsames Band, das das ganze Volk Gottes in allen Haushaltungen miteinander verbindet. Familiäre Züge lassen sich überall leicht erkennen. Abraham ist unser Vater, und die Familie des Glaubens ist immer von derselben Demut, demselben Gehorsam und derselben Abhängigkeit geprägt, die ihn vor Gott und den Menschen rechtfertigte.

Wir werden daher in diesem Buch die Geschichte des Segens für die Seele finden. Sie ist für uns selbst und auch für Israel real und gewinnbringend. Während wir versuchen, beide Lektionen zu verstehen, werden wir die Einheit in allen Wegen der Gnade Gottes sehen.

Die Erzählung beginnt in Bethlehem-Juda, zu einer Zeit der Hungersnot. Die Namen sind in der ganzen Heiligen Schrift und auch hier sehr bedeutsam.

  • Bethlehem ist das Haus des Brotes, passenderweise der Geburtsort dessen, der lange Zeit später als das Brot Gottes vom Himmel herabkam, um der Welt Leben zu geben.
  • Juda bedeutet Lobpreis und ist der königliche Stamm, durch den der König in Gnaden kommen wird. Lobpreis fließt immer aus dem Wissen um die Fülle des Segens hervor, den wir in Christus haben.

So sind Nahrung und Anbetung eng miteinander verbunden: Bethlehem liegt in Juda. Und es ist ganz natürlich, sie so miteinander verbunden zu finden:

„Seine Speise will ich reichlich segnen, seine Armen mit Brot sättigen.

Und seine Priester will ich mit Heil bekleiden, und seine Frommen werden laut jubeln“ (Ps 132,15–16).

Es scheint ein seltsamer Widerspruch zu sein, dass eine Hungersnot in Bethlehem war. Wenn es im Haus des Brotes keine Nahrung gibt, wo soll sie dann sonst zu finden sein? Und doch sind Hungersnöte in Gottes Land nicht unbekannt. Abraham erlebte eine Hungersnot in seiner Zeit – und Isaak auch.

Die Beschaffenheit des Landes mit seinen zerklüfteten Hügeln und dem heißen Klima – mit nur wenigen Wasserläufen – machte es besonders anfällig für Dürren. Es war von den periodischen Regenfällen abhängig. Wenn diese ausblieben, gab es keinen Fluss, wie in Ägypten, der diese ersetzen konnte. So war das Land in besonderer Weise vom Himmel abhängig, was die geistliche Bedeutung verdeutlicht. Unser Erbe ist ein gutes Erbe, keines, das so fruchtbar ist und geistige Nahrung in Hülle und Fülle liefert, sondern es muss in ständigem Austausch mit dem Himmel stehen, damit uns dieser Reichtum zugute kommt.

Wenn dann – aus welchem Grund auch immer – der göttliche Segen vorenthalten wird, wird das Haus des Brotes zu einem Ort der Hungersnot. Wir wissen, dass es nicht der Wunsch Gottes ist, dass Sein Volk leidet. Er ist nicht unbarmherzig, wenn Er den Regen zurückhält. Vielmehr liegt die eigentliche Ursache bei Seinem Volk und nicht bei Ihm! Er hatte ihnen das sogar schon früh gesagt, damit sie es jetzt eigentlich gut hätten verstehen können: Wenn der Himmel sich „verschließt“, dann handelt es sich dabei um eine Züchtigung (5. Mo 11,17; 28,12).

Es braucht kaum gesagt zu werden, dass das Versagen auf unserer Seite liegt. Wenn die Freude und die geistige Nahrung und die Kraft ausbleiben, so sollten wir allein in uns die Ursache suchen. Gott möchte nichts vorenthalten und der Geist zieht sich nicht vor Traurigkeit zurück. Die Ursache für Unfruchtbarkeit und Einsamkeit der Seele liegt nicht in Ihm, auch wenn wir es manchmal so sehen wollen.

Seiner Gnade haben wir es zu verdanken, dass wir in dem Heiligen Geist ein Unterpfand zu unserer Wiederherstellung und zur Freude des Herrn haben.

Die damalige Hungersnot war Gottes Ruf zur Umkehr, und sie sollte immer so betrachtet werden:

„Wenn der Himmel verschlossen ist und kein Regen sein wird, weil sie gegen dich gesündigt haben, und sie beten zu diesem Ort hin und bekennen deinen Namen und kehren um von ihrer Sünde, weil du sie demütigst“ (1. Kön 8,35).

Selbst dort, wo es keine öffentliche Abkehr von Gott gegeben hatte, hätte eine solche Bedrängnis sie immer ins Gebet bringen müssen – mit der herzerforschenden Frage: „Warum ist das so?“

Außerdem lebt der Glaubende nicht durch Schauen sondern durch Glauben. Deshalb prüft Gott manchmal den Glauben. Das scheint der Grund für die Hungersnot zur Zeit Abrahams gewesen zu sein. Gott wollte sehen, ob er ein solches Vertrauen in Seine Güte hatte, dass selbst eine Hungersnot dieses nicht erschüttern konnte.

Leider tat Abraham das, wozu wir nur allzu sehr neigen: Er suchte eine Lösung für seine Schwierigkeiten, anstatt aus der Prüfung Nutzen zu ziehen. Wie wahr ist das bei den meisten von uns. Wird uns Krankheit oder Bedrängnis irgendeiner Art geschickt? Schnell versuchen wir, uns aus der Not zu befreien, anstatt die Lektion zu lernen, die Gott uns lehren möchte. In der Krankheit gilt die Aufmerksamkeit den Gedanken der Genesung und den Methoden der Heilung, anstatt Gottes Stimme zu hören, die uns in der Krankheit anspricht. Ohne Zweifel sollten wir die Krankheit zur Kenntnis nehmen und auch versuchen, Linderung zu finden. Aber das sollte nicht unser erster Gedanke sein.

Wir sollten mit Gott über unseren Mangel sprechen. Nachdem wir uns unter Seine mächtige Hand gebeugt haben, können wir sicher sein, dass Er uns aufrichten wird. Häufig sind wir zu stolz und uns fehlt die demütige Anwendung der göttlichen Mittel zu unserer Heilung. Gott kann und möchte als Antwort auf Gebet Heilung und Genesung geben.

Gott möchte auch, dass wir unseren Ungehorsam erkennen und dass wir dafür Seine züchtigende Hand spüren mussten. Und wenn es keinen direkten Handlungen des Ungehorsam gab, dann sah er unseren schlechten, fleischlichen und weltlichen Zustand – der schlimmer ist als das tatsächlich zutage tretende Böse.

Daher sollte das inbrünstige und beständige Gebet den Wunsch hervorrufen, dass wir unseren inneren Zustand vor Ihm offenlegen und mit David sagen können:

„Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne meine Gedanken!

Und sieh, ob ein Weg der Mühsal bei mir ist, und leite mich auf ewigem Weg!“ (Ps 139,23.24).

Abraham versagte hier, und sein Versagen hatte katastrophale und dauerhafte Folgen. Er konnte nicht im Land bleiben und seine Lektion bei Gott lernen, sondern er musste nach Ägypten hinabziehen, in die Ferne von Ihm, und dort durch eine beschämende Erfahrung lernen, was es heißt, sich von Gott zu entfernen. Mögen wir von einem solchen Weg abgehalten werden, Erleichterung auf einem anderen als Gottes Weg zu suchen.

Es wurde zuvor bereits darauf eingegangen, da es aber überaus wichtig ist und auch die Folgen, die daraus entstehen, erklärt, erwähne ich es hier noch einmal: Ganz gleich, wie groß der Kummer, wie groß die Not ist, es kann niemals richtig oder weise sein, Gott den Rücken zuzukehren. Wahre Erleichterung kann auf diese Weise niemals kommen. Was so aussieht, ist nur ein Weg in noch tieferen Kummer.

Moab war, wie wir wissen, das Kind von Lots Sünde. Lot war ein Gläubiger, der sich nicht mit einem Leben in gehorsamer Abhängigkeit von Ihm zufrieden gab, sondern lieber nach Sodom hinab ging, um weltliche Vorteile zu erlangen.

Moab repräsentiert die Folgen dieses Abfalls. Es ist daher passend, dass die Nation, die aus ihm hervorging, beispielhaft für ein bloßes Bekenntnis steht, eine äußere Verbindung mit Gott ohne jede innere Realität und Echtheit.

Elimelech, dieser Mann aus Bethlehem, dem Haus des Brotes, begibt sich an den Ort des leeren Formalismus. Vielleicht wurde die drückende Not für den Augenblick gelindert, aber zu welchem Preis: sowohl er als auch seine beiden Söhne starben Aber sehen wir uns die Sache ein wenig genauer an.

Der Name des Mannes war Elimelech und bedeutet mein Gott ist König. Er stellt Israel unter die gütige Regierung Gottes. Was für eine gesegnete Beziehung, wenn es den Glauben gäbe, sie zu erkennen.

Leider wurde das Volk bald der heiligen Regierung Gottes überdrüssig und wünschte sich einen König wie alle Völker. Die Hungersnot war nur ein Teil Seiner Regierung und hätte als solches akzeptiert werden müssen. Stattdessen wünschten sie sich einen anderen Herrscher und verließen praktisch ihren göttlichen König. So war es auch, als Saul erwählt wurde.

Die Namen der beiden Söhne scheinen sowohl den Unglauben des Vaters als auch die Folgen der göttlichen Züchtigung zu zeigen. Anstatt ihnen Namen zu geben, die Seine Güte und Liebe andeuten, befestigen die Eltern an ihnen das, was nur eine vorbeiziehendeWolke war, und machen es so durch ihren Unglauben zu einem dauerhaften Zustand und zum Vorboten des finalen und leidvollen Höhepunktes.

Noomi bedeutet angenehm und erinnert uns an die Wege der Weisheit, die durchaus angenehm sind. Wäre das Volk nur in der Unterwerfung unter Gott geblieben, wie angenehm wäre dann alles gewesen. Gerade die Prüfungen hätten sie nur geheiligt und sie zu einer umfassenderen Erkenntnis Seiner Liebe, Heiligkeit und Fürsorge gebracht. Aber leider werden sie nicht auf diese Weise lernen:

„Weil dieses Volk die Wasser von Siloah verachtet, die still fließen, und Freude hat an Rezin und an dem Sohn Remaljas: darum, siehe, lässt der Herr die Wasser des Stromes, die mächtigen und großen, über sie heraufkommen – den König von Assyrien und all seine Herrlichkeit; und er wird über alle seine Betten steigen und über alle seine Ufer gehen“ (Jes 8,6–7).

Weil das Volk nicht in der Unterwerfung bleiben wollte, musste es dem Feind überlassen werden.

Elimelech stirbt. Was sollte sonst das Ende dessen sein, der sich von seinem König abwendet? Als Israel sich von Gott abwandte, gab es Ihn auf. Das war, was die Beziehung zu Ihm betraf, das Ende des Volkes. Jetzt heißt es Lo-Ammi, was nicht mein Volk bedeutet. Noomis Wohlgefallen ist zu Asche geworden. Das Volk ist eine Witwe geworden. Gott ist nicht mehr ihr König.

Aber das Ende dieses Niedergangs ist noch nicht erreicht. Es hat eine schreckliche Züchtigung gegeben, aber scheinbar ohne Wirkung. Statt sich in ihrer Not zu Gott zu wenden, bleibt die verwitwete Mutter und sieht zu, wie ihre beiden Söhne mit den Feinden ihres Volkes dauerhafte Bündnisse eingehen, entgegen dem Verbot Gottes (3. Mo 22,12).

Solche, die sich weigern umzukehren, erfahren, dass die Sünde den Tod gebiert (Jak 1,15). Machlon bedeutet krank und Kiljon bedeutet schmachtend. Diese Namen zeigen offenbar den Zustand des Herzens ihrer Eltern, lange vorher. Ihr Glaube war schwach und ärmlich, noch bevor der Niedergang so äußerlich sichtbar wurde. Der Herr in Seiner Barmherzigkeit bewahre uns vor solcher Schwäche des Glaubens: ihr Ende ist die Bitterkeit des Todes.

Es scheint, als ob sich die Geschichte Elimelechs und seinen beiden Söhnen später für das Volk Israel wiederholt: Die Wegführung und Gefangenschaft in Babylon führten dazu, dass das Volk nicht mehr als Volk Gottes anerkannt wurde. Gott war nicht ihr König, denn das Zepter war an die Heiden übergegangen. Nach den siebzig Jahren gab es eine gewisse Wiederherstellung des Landes. Aber „Elimelech“ war nicht dabei. Es war doch nur ein schwacher Überrest.

So ist nun der Zustand Israels: verwitwet, hoffnungslos und verarmt, entfremdet von ihrer Heimat der Jugend und von ihrem Gott. Das Zeugnis ihrer Abkehr von Gott wird in ihren heidnischen Schwiegertöchtern gesehen. So ist nun die bloße Existenz eines jüdischen Volkes, das unter die Heiden verstreut ist, ein feierliches Zeugnis dafür, dass Gott von ihnen verlassen wurde, dass sie keinen Anspruch mehr auf Ihn haben. Es ist ein verwitwetes und verlassenes Volk.

Wir brauchen kaum von der Anwendung all dessen auf die Seele des einzelnen zu sprechen. Wie oft endet diese Abkehr von Gott in bloßem Formalismus. Christliche Eltern müssen die geistliche Abkehr ihrer Kinder beklagen, die doch nur das Spiegelbild ihrer eigenen Herzen sind. Es gibt keinen Frieden und keine Sicherheit, außer wenn wir in der Nähe Gottes bleiben.

Jeder, der sich von Gott innerlich oder äußerlich entfernt hat und vereinsamt ist, möge innehalten und sich fragen, warum das so ist. Geh zurück zu der Zeit, als dein Herz zum ersten Mal mit Gott und Seiner Regierung unzufrieden wurden. Dort liegt die Ursache all des inneren Kummers.

Trauern wir darüber, dass unsere Kinder nicht den Weg des Glaubens gehen? Fragen wir uns, ob ihr Zustand nicht das Ergebnis unseres eigenen ärmlichen und schmachtenden Zustandes ist. Aber Er spricht auch zu den Witwen und sieht ihre Tränen, ihren Herzschmerz. Es gibt den Einen, der die Witwen sieht und für sie sorgt!

Der Glaube

„Und sie machte sich auf, sie und ihre Schwiegertöchter, und kehrte aus den Gebieten von Moab zurück; denn sie hatte im Gebiet von Moab gehört, dass der HERR sich seinem Volk zugewandt habe, um ihnen Brot zu geben. Und sie zog aus von dem Ort, wo sie gewesen war, und ihre beiden Schwiegertöchter mit ihr; und sie zogen des Weges, um in das Land Juda zurückzukehren. Da sprach Noomi zu ihren beiden Schwiegertöchtern: Geht, kehrt um, jede zum Haus ihrer Mutter. Der HERR erweise Güte an euch, so wie ihr sie an den Verstorbenen und an mir erwiesen habt. Der HERR gebe euch, dass ihr Ruhe findet, jede im Haus ihres Mannes! Und sie küsste sie. Und sie erhoben ihre Stimme und weinten; und sie sprachen zu ihr: Doch, wir wollen mit dir zu deinem Volk zurückkehren! Und Noomi sprach: Kehrt um, meine Töchter! Warum wollt ihr mit mir gehen? Habe ich noch Söhne in meinem Leib, dass sie euch zu Männern werden könnten? Kehrt um, meine Töchter, geht; denn ich bin zu alt, um einem Mann anzugehören. Wenn ich spräche: Ich habe Hoffnung; wenn ich selbst diese Nacht einem Mann angehören würde und sogar Söhne gebären sollte: Wollt ihr deshalb warten, bis sie groß würden? Wollt ihr euch deshalb verschließen, um keinem Mann anzugehören? Nicht doch, meine Töchter! Denn mir ergeht es viel bitterer als euch; denn die Hand des HERRN ist gegen mich ausgegangen. Da erhoben sie ihre Stimme und weinten wieder. Und Orpa küsste ihre Schwiegermutter; Ruth aber hing ihr an.

Und sie sprach: Siehe, deine Schwägerin ist zu ihrem Volk und zu ihren Göttern zurückgekehrt; kehre um, deiner Schwägerin nach! Aber Ruth sprach: Dringe nicht in mich, dich zu verlassen, um hinter dir weg umzukehren; denn wohin du gehst will ich gehen, und wo du weilst, will ich weilen; dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott; wo du stirbst, will ich sterben, und dort will ich begraben werden. So soll mir der HERR tun und so hinzufügen, nur der Tod soll scheiden zwischen mir und dir! Und als sie sah, dass sie fest darauf bestand, mit ihr zu gehen, da ließ sie ab, ihr zuzureden“ (Ruth 1,6–18).

Eine hoffnungslosere Lage als die von Noomi kann man sich kaum vorstellen: ohne Mann und ohne Söhne, in fremdem und feindlichem Land. Und doch ist es wahr, dass die dunkelste Stunde diejenige ist, die der Morgendämmerung unmittelbar vorausgeht. Es war göttliche Fügung, dass unser Herr den Hahnenschrei als Zeitpunkt für die Verleugnung des Petrus gewählt hatte. Es war die dunkelste Stunde in seiner Geschichte – er verleugnete dreimal seinen Retter, Freund und Herrn, sogar mit Flüchen.

Und doch brachte dieser furchtbare Ausbruch des Bösen das hervor, was sich nicht mehr hinter lauten Beteuerungen der Ergebenheit verstecken konnte. Petrus sieht sich selbst, konnte sich selbst nicht mehr trauen, und in jener dunkelsten Stunde ertönt der Vorbote des anbrechenden Tages. So wendet sich die verwitwete Noomi in der Stunde ihrer Verlassenheit in schlichtem Glauben an den Einen, von dem sie sich so tief abgewandt hatte.

Das Gleiche gilt für die Geschichte der Rückkehr des Volkes Iarael zu Gott. Josephs Brüder kehrten auch in der Zeit einer Hungersnot zurück – wenn auch unbewusst – mit dem Bekenntnis zu dem, den sie so schwer verletzt hatten. Am Tag der Finsternis und der Dunkelheit, am Tag der Verwüstung wird es sein (Zeph 1,15), dass die verirrten Schafe des Herrn gesucht und gesammelt werden. In gleicher Weise wird jede Seele durch die göttliche Gnade geborgen, wenn alles am dunkelsten erscheint, wenn das Böse ans Licht gebracht wird.

Aber das Wiederanfachen des Glaubens macht zunächst nur eine schwache Flamme, die mehr Rauch als Licht hat. Es ist ein selbstsüchtiges Motiv, das sie zur Rückkehr veranlasst, ähnlich wie bei dem verlorenen Sohn, der sein Gesicht dem Haus des Vaters wieder zuwendete. Noomi hatte im Land der Moabiter gehört, dass der HERR sich seinem Volk zugewandt habe, um ihnen Brot zu geben.

Sie scheint kein Empfinden dafür zu haben, dass es falsch war, das Haus des Brotes zu verlassen und dass sie versagt hatte, indem sie sich den Moabitern zuwandte. Ja, selbst unserer Reue können wir uns nicht rühmen: alles ist befleckt.

Das zeigt sich noch deutlicher in den Gesprächen mit ihren Schwiegertöchtern. Sie hatten Noomi auf ihrem Heimweg begleitet, mit der offensichtlichen Absicht, sich voll mit ihrem zukünftigen Schicksal zu einszumachen. Sicherlich hätte der Glaube darin die Barmherzigkeit gegenüber diesen Töchtern der fremden Nation erkannt und sie ermutigt, ihr zu folgen.

Aber Noomi war in ihrer eigenen Seele noch nicht wiederhergestellt und konnte daher den anderen keine Hilfe sein. Sie drängt sie, nach Hause zurückzukehren und drückt die Hoffnung aus, dass sie im Haus eines heidnischen Mannes Ruhe finden mögen! Da ihre eigenen Mittel versagt haben, denkt sie, dass auch Gott versagt hat, und sie hat nichts, was sie ihnen vorsetzen könnte, um sie zu ermutigen, den Herrn zu suchen.

So ist der Unglaube, der nie schlimmer ist als bei einem Heiligen. Er kann keine Hoffnung für andere sehen, weil er keine für sich selbst sieht, und würde sogar diejenigen entmutigen, die Gott suchen. Die Umherziehenden in Gottes Volk sollen sich in Acht nehmen. Wenn sie selbst aus der Gemeinschaft ausgeschlossen sind, leiden sie nicht nur individuell, sondern sind auch Stolpersteine für alle, die den Herrn suchen könnten. Ach, wie der kalte, erbärmliche geistliche Zustand des Volkes Gottes dazu dient, die suchende Seele eher abzustoßen als anzuziehen. Wenn nicht in Worten, so doch wenigstens im Verhalten und in den Taten wird der Welt allzu oft zu verstehen gegeben, dass es in den Dingen Gottes nichts gibt, was das Verlangen der Seele befriedigt. Was sonst kann die Abneigung gegen göttliche Dinge bedeuten, die Trübsinnigkeit der Seele, die aus dem Verhalten spricht, der offensichtliche Hunger nach weltlichem Vergnügen. Lasst uns nicht denken, dass die Welt all das nicht versteht; sie sagt so deutlich wie Noomi: „Geht zurück, eine jede in das Haus ihrer Mutter.“

Aber was für eine schreckliche Verantwortung ist das. Unser Herr hat uns hier als Lichter in der Finsternis zurückgelassen, um Seelen zu sich zu ziehen: Was ist, wenn wir – die wir „die Lehre Gottes, unseres Heilandes, in allen Dingen zieren“ (Tit 2,10) sollen – sie stattdessen vertreiben? Es gibt nur ein Heilmittel dafür, zu allen Zeiten in einem Zustand aktiver Gemeinschaft zu sein. Dann werden wir andere zu Christus anziehen und unser eigenes Leben wird ein Zeugnis sein.

Andererseits bedient sich Gottes Souveränität aller Dinge und die Kälte Noomis wird zum Test für die Realität des Glaubens ihrer Schwiegertöchter. Ohne sie zu entlasten, bringt die Entmutigung, die sie anbietet, den Zustand des Herzens der beiden ans Licht. Es gibt eine offensichtliche natürliche Zuneigung bei beiden. In der Tat zeigt Orpa mehr Gefühle als Ruth.

Die Namen der beiden sind bezeichnend. Orpa bedeutet ihr Hals oder ihr Rücken und deutet auf die Abwendung hin, die sie kennzeichnet. Sie küsst Noomi, kehrt aber in das Land Moab zurück. Ruth küsst, soweit wir lesen, Noomi nicht, aber sie klammert sich an sie. Ruth bedeutet höchstwahrscheinlich einen Hirten haben. Ihr Glaube zeigt hier, dass sie eines der Schafe ist, obwohl sie eine Nichtjüdin ist, die in die Herde gebracht werden soll.

Schauen wir uns nun ein wenig genauer an, was das bedeutet – zuerst für das Volk Israel und dann für den Einzelnen.

Noomi repräsentiert die verwitweten Völker, Israel nach dem Fleisch. Sie haben die Beziehung zu Gott verloren, die durch den Namen des Ehemannes angedeutet wird: Mein Gott ist König, und haben, wie wir gesehen haben, keinen Anspruch auf Ihn nach dem Fleisch – all das ist verwirkt worden. Der verwüstete Zustand des Volkes wird in der Witwe gesehen. In den beiden Schwiegertöchtern sehen wir die beiden Zustände, die das Volk nach dem Ende der gegenwärtigen oder christlichen Haushaltung kennzeichnen werden, wenn Gott sein Volk wieder besuchen wird.

In Orpa sehen wir die Masse des Volkes, die um eines vermeintlichen Gewinns willen bereit ist, alles aufzugeben, was dem Glauben am Herzen liegt, um sich mit dem Antichristen zu identifizieren: „Wenn ein anderer in seinem Namen kommen wird, den werden sie aufnehmen“ (Joh 5,43). Sie werden keine Hoffnung auf Erleichterung des elenden Zustandes des Volkes sehen, außer in einem, der sie mit der Macht der Welt und mit all der Gotteslästerung und dem Götzendienst verbindet, die unter dem Tier und dem falschen Propheten wüten werden.

Ruth dagegen repräsentiert den Überrest des Volkes, der an den Verheißungen Gottes festhält – zunächst auf eine nicht klar erkennbare Weise, ohne etwas als Recht zu beanspruchen – aber deutlich in ihrem Glauben, weil sie sich auf Gott stützt. Das zeigt sich in ihrer Antwort an Noomi. Es ist nicht die bloße Natur, sondern der Glaube an den lebendigen Gott, der in ihrer Antwort spricht. Dies war die Antwort auf Noomis Wunsch, dass sie zu ihrem Volk zurückkehren sollte. Es war also echter Glaube, der sich des Bundesnamens HERR bediente, der sich in Ruths Antwort ausdrückte – ein Glaube, der sich bewährt hatte, weil ihm keine Anziehungskraft der Natur geboten wurde.

Dies wird der Zustand des gläubigen Überrestes in den letzten Tagen sein. Trotz aller Widerstände und Entmutigungen, trotz Verfolgung, Verleumdung und Einsamkeit wird er sich an Gott, den Gott Israels, den HERRN, halten. Er wird nicht würdig sein, um etwas zu bitten, er wird ein Ausgestoßener sein und sogar wie ein Heide betrachtet. Aber es wird einen lebendigen Glauben geben, und dieser wird um jeden Preis, im Leben oder im Tod, einen Platz im Volk Israel beanspruchen. Wie wertvoll wird der Glaube dieses schwachen und verachteten Überrestes in Seinen Augen sein.

Die Lektion für die einzelne Seele ist in der heutigen Zeit dieselbe. Der Glaube identifiziert sich immer mit dem Volk Gottes. Wie bei der syro-phönizischen Frau lässt er sich nicht durch die Verbote der Jünger oder sogar durch die scheinbare Vernachlässigung des Herrn abschrecken. Ihr Bedürfnis muss befriedigt werden. Ein solcher Glaube wird nie enttäuscht, denn er hat seine Wurzeln in Gottes Wahrheit geschlagen. Er urteilt nicht nach dem Schein. Und selbst wenn alles gegen ihn zu sein scheint, geht er ohne Bestürzung voran.

Dieser Glaube trennt und vereint zugleich. Wir haben gesehen, wie Orpa, als sie geprüft wurde, Noomi und dem Volk Gottes den Rücken kehrte. Das trennte sie auch von ihrer Schwägerin, denn sie gingen in entgegengesetzte Richtungen. So ist es immer. Der Glaube trennte Abraham von Heimat und Land, wie er Mose von den Würden und Ehrenbezeugungen Ägyptens trennte. Selbst die Bande menschlicher Zuneigung können Seelen nicht zusammenhalten, die durch entgegengesetzte Motive auseinandergerissen werden. Die eine Seele ist himmelwärts gerichtet und die andere auf die Erde. Natürlich können sie äußerlich zusammengehen, aber wie weit sind sie geistlich voneinander entfernt. Es ist unmöglich, dies zu verhindern, und was für eine Gnade ist das. Der Glaube trennt!

Andererseits verbindet er mit allen, die auf dem gleichen Weg gehen. Viele Dinge mögen zusammenkommen, um dies schwierig erscheinen zu lassen: Es mag Unterschiede im Geschmack und in den Gewohnheiten geben, aber wenn die große Tatsache eines gemeinsamen Glaubens bleibt, verbindet er trotz allem anderen. Diejenigen, die einen gleich kostbaren Glauben haben, sind durch diese Tatsache vereint, die nichts anderes trennen kann: Dein Volk soll mein Volk sein, und dein Gott mein Gott!

Die Rückkehr

„Und so gingen beide, bis sie nach Bethlehem kamen. Und es geschah, als sie nach Bethlehem kamen, da geriet die ganze Stadt ihretwegen in Bewegung, und sie sprachen: Ist das nicht Noomi? Und sie sprach zu ihnen: Nennt mich nicht Noomi, nennt mich Mara; denn der Allmächtige hat es mir sehr bitter gemacht. Voll bin ich gegangen, und leer hat mich der HERR zurückkehren lassen. Warum nennt ihr mich Noomi, da der HERR gegen mich gezeugt und der Allmächtige mir Übles getan hat?

Und so kehrte Noomi zurück, und Ruth, die Moabiterin, ihre Schwiegertochter, mit ihr, die aus den Gebieten von Moab zurückkehrte; und sie kamen nach Bethlehem beim Beginn der Gerstenernte“ (Ruth 1,19–22).

Im Zusammenhang mit der Rückkehr gibt es mehrere Besonderheiten zu beachten. Als sie Bethlehem erreichen, wird der ganze Ort ergriffen: „Ist das Noomi?“ Welch ein Unheil hatte ihr Weggang angerichtet, und sie ist gezwungen, die traurige Wahrheit selbst zu bekennen. Wie ihre wenigen Worte die Geschichte erzählen, ist ihr Herz noch nicht ganz wiederhergestellt. „Nennt mich nicht Noomi (angenehm), nennt mich Mara (bitter); denn der Allmächtige hat sehr bitter mit mir gehandelt.“ Sie nennt Ihn bei diesem furchteinflößenden Namen, der eher seine Macht als seine Liebe und Fürsorge betont. Während sie an ihr einst glückliches Zuhause denkt und ihre eigene Verantwortung für die Veränderung vergisst, scheint sie den Allmächtigen für alles verantwortlich zu machen.

Aber die nächsten Worte bekennen die Wahrheit, dass sie voll ausgegangen ist. Es war freiwillig! Sie war nicht gezwungen worden, zu gehen. Und sie war satt, als sie ging! Der Eigenwille führte sie fort, aber die Gnade brachte sie nach Hause – ja, es war immer noch ihr Zuhause! Ist dies nicht das Bekenntnis einer jeden wiederhergestellten Seele? Wir mögen viele Ausreden für unsere Abkehr von Gott gehabt haben: die Umstände waren gegen uns, Freunde wurden kalt, wir wurden missverstanden – so viele Gründe wir auch finden mögen, der eine Grund für die Abkehr von Gott wird in diesem einen kurzen Satz ausgedrückt: „Voll bin ich ausgegangen.“

Aber mit diesem Bekenntnis erreicht die Seele Gott, denn wahres Bekenntnis kann nur in Seiner Gegenwart stattfinden. Das nächste Wort ist also der Bundesname: „Der HERR hat mich wieder heimgebracht.“ Wir selbst würden niemals zurückkommen. Nur die Kraft der unveränderlichen Gnade stellt den Umherirrenden wieder her; aber dafür würden wir immer noch im Land Moab bleiben. Auch könnten wir in keinem anderen Zustand als leer zurückgebracht werden. Es muss die dadurch angedeutete Gebrochenheit vorhanden sein, um die Seele bereit zu machen, sich der Liebe Gottes hinzugeben.

Aber ihr Zustand ist ein Zeugnis dafür, was für eine böse und bittere Sache es ist, vom Herrn abzuweichen – eine Warnung an alle vor der Torheit, sich vom Haus der Fülle abzuwenden.

Seht euch diese arme, trostlose Witwe an, die von scheinbar hoffnungslosem Kummer niedergedrückt ist, ihr Glanz liegt hinter ihr – und ihr seht ein Bild der Seele, die von Gott abirrt. Wie viele Herzen gibt es, die gefüllt sind mit bitteren Gedanken und vergeblichem Bedauern unter den Heiligen Gottes.

„Es hätte sein können“, sagt der alte Mann, der auf ein Leben voller verschwendeter Energie und Zeit zurückblickt. Wer kann den Verlust ermessen, den diejenigen erleiden, die ihr Leben mit dem Sammeln von „Holz, Heu und Stoh“ dieser Welt verbringen? Auch ist ein solcher Abschied nicht unbedingt ein moralischer Niedergang. Die Welt kann sehr aufrichtig sein, aber sie macht aus Gottes Volk Witwen, die ihren Verlockungen nachgeben.

Die Umkehr von einem Weg des Unglaubens ist immer eine Zeit der Ernte. Möge doch der stolze, widerspenstige Wille gebrochen werden und Worte des Bekenntnisses ausgesprochen werden. Dann wird der arme Wanderer die reife Ernte mit all ihrer Fülle und ihrer Freude finden!

Wer anders als der Gott aller Gnade könnte zu allen Zeiten Segen für sein Volk haben, wie groß auch seine Untreue sein mag. In Seiner Gegenwart aber wohnt die Fülle. Keiner kann dort hungern, für jeden von uns gibt es bei Ihm mehr als genug. Seine Stimme ist immer: Iss, ja trink reichlich (Ps 36,9).

Die Propheten sind voll von Bildern dieser Rückkehr des verwitweten Volkes zu Gott. Die gesamten Klagelieder des Jeremia könnte man als die Klagelieder der Noomi bezeichnen:

„Wie sitzt einsam die volkreiche Stadt, ist einer Witwe gleich geworden die Große unter den Nationen! Die Fürstin unter den Landschaften ist fronpflichtig geworden.

Bitterlich weint sie bei Nacht, und ihre Tränen sind auf ihren Wangen; sie hat keinen Tröster unter allen, die sie liebten; alle ihre Freunde haben treulos an ihr gehandelt, sind ihr zu Feinden geworden.

Juda ist ausgewandert vor Elend und vor schwerer Dienstbarkeit; es wohnt unter den Nationen, hat keine Ruhe gefunden; seine Verfolger haben es in der Bedrängnis ergriffen.

Die Wege Zions trauern, weil niemand zum Fest kommt; alle ihre Tore sind öde; ihre Priester seufzen; ihre Jungfrauen sind betrübt, und ihr selbst ist es bitter.

Ihre Bedränger sind zum Haupt geworden, ihre Feinde sind sorglos; denn der HERR hat sie betrübt wegen der Menge ihrer Übertretungen; vor dem Bedränger her sind ihre Kinder in Gefangenschaft gezogen.

Und von der Tochter Zion ist all ihre Pracht gewichen; ihre Fürsten sind wie Hirsche geworden, die keine Weide finden, und kraftlos gingen sie vor dem Verfolger her.

In den Tagen ihres Elends und ihres Umherirrens erinnert Jerusalem sich an alle ihre Kostbarkeiten, die seit den Tagen der Vorzeit waren, da nun ihr Volk durch die Hand des Bedrängers gefallen ist und sie keinen Helfer hat; die Bedränger sehen sie an, spotten über ihren Untergang.

Jerusalem hat schwer gesündigt, darum ist sie wie eine Unreine geworden; alle, die sie ehrten, verachten sie, weil sie ihre Blöße gesehen haben; auch sie selbst seufzt und wendet sich ab.

Ihre Unreinheit ist an ihren Säumen, sie hat ihr Ende nicht bedacht und ist erstaunlich gefallen: Da ist niemand, der sie tröstet. Sieh, HERR, mein Elend, denn der Feind hat großgetan!

Der Bedränger hat seine Hand ausgebreitet über alle ihre Kostbarkeiten; denn sie hat gesehen, dass Nationen in ihr Heiligtum gekommen sind, von denen du geboten hast, dass sie nicht in deine Versammlung kommen sollen!

All ihr Volk seufzt, sucht nach Brot; sie geben ihre Kostbarkeiten für Speise hin, um sich zu erquicken. Sieh, HERR, und schau, dass ich verachtet bin!

Merkt ihr es nicht, alle, die ihr des Weges zieht? Schaut und seht, ob ein Schmerz ist wie mein Schmerz, der mir angetan wurde, mir, die der HERR betrübt hat am Tag seiner Zornglut“ (Klgl 1,1–12).

Hier sehen wir ihren erbärmlichen Zustand, und wenig später hören wir das Bekenntnis des Überrestes:

„Darüber weine ich, rinnt mein Auge, mein Auge von Wasser; denn fern von mir ist ein Tröster, der meine Seele erquicken könnte; meine Kinder sind vernichtet, denn der Feind hat gesiegt.

Zion breitet ihre Hände aus: Da ist niemand, der sie tröstet. Der HERR hat seine Bedränger ringsum gegen Jakob aufgeboten; wie eine Unreine ist Jerusalem unter ihnen geworden.

Der HERR ist gerecht, denn ich bin widerspenstig gegen seinen Mund gewesen. Hört doch, ihr Völker alle, und seht meinen Schmerz! Meine Jungfrauen und meine Jünglinge sind in die Gefangenschaft gezogen“ (Klgl 1,16–18).

Wir sehen aber auch die wiederherstellende Barmherzigkeit des Herrn beim Propheten Hosea, obwohl dort das Haus Ephraim im Vordergrund steht:

„Wie sollte ich dich hingeben, Ephraim, dich überliefern, Israel? Wie sollte ich dich wie Adama hingeben, wie Zeboim dich machen? Mein Herz hat sich in mir umgewendet, erregt sind alle meine Erbarmungen. Weder will ich die Glut meines Zorns ausführen noch Ephraim wieder verderben; denn ich bin Gott und nicht ein Mensch, der Heilige in deiner Mitte, und ich will nicht in Zornglut kommen“ (Hosea 11,8.9).

„Ich werde für Israel sein wie der Tau: Blühen soll es wie die Lilie und Wurzel schlagen wie der Libanon“ (Hosea 14,6).

Solche Stellen gibt es in den prophetischen Büchern sehr viele. Sie zeigen einerseits den erbärmlichen aber reuigen Zustand des Volkes Israel, und andererseits die ewige Liebe unseres Gottes.

Was für ein Tag wird es sein, an dem der HERR wieder wohlwollend zu Jerusalem sprechen wird und an dem das Land mit ihm verheiratet sein wird. Aber vor dieser Zeit muss es eine Zeit des Kummers und der tiefen Übung geben – die Zeit der Not Jakobs – aber darauf werden wir später schauen.

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