Er lehrte sie vieles in Gleichnissen (Band 1)

Die Gegenpartei

Er lehrte sie vieles in Gleichnissen (Band 1)

Nachdem der Herr in der Bergpredigt von der Notwendigkeit der Versöhnung zwischen Brüdern gesprochen hatte, fuhrt Er diesen Grundgedanken fort und erweitert ihn mit dem folgenden kleinen Gleichnis:

„Einige dich schnell mit deinem Widersacher, während du mit ihm auf dem Weg bist; damit nicht etwa der Widersacher dich dem Richter überliefert und der Richter dich dem Diener überliefert und du ins Gefängnis geworfen wirst. Wahrlich, ich sage dir: Du wirst nicht von dort herauskommen, bis du auch den letzten Pfennig bezahlt hast“ (Mt 5,25.26).

Der Vorgang

Diesem Gleichnis liegt ein Vorgang aus dem täglichen Leben zugrunde, wie er in damaliger Zeit üblich war. Der Herr spielt auf einen Rechtsstreit zwischen zwei Parteien an und geht dabei von dem damals in Israel geltenden römischen Recht aus. Wenn jemand einem anderen etwas schuldete, so bestand für den Gläubiger die Möglichkeit, seinen Schuldner zu zwingen, mit ihm zum Gerichtshof zu gehen, ihn „vor das Gericht zu zerren“. Befand das Gericht ihn für schuldig, so wurde der Schuldner ins Gefängnis gesetzt und dort solange behalten, bis er die ganze Schuld bezahlt hatte. Aber umgekehrt bestand auch für den Angeklagten eine Möglichkeit, der Strafe doch noch zu entrinnen: sich mit seinem Ankläger zu arrangieren, sich mit ihm zu einigen, während dieser mit ihm auf dem Weg zum Gericht war. Versäumte das der Angeklagte und übertrat er erst einmal die Schwelle zum Gerichtshof, war diese Möglichkeit endgültig vertan. Die Sache entglitt seinen Händen, ja, den Händen beider Parteien, und sie wurde zu einer Angelegenheit für das Gericht. Von diesem Augenblick an wurde die Schuld als ein Vergehen gegen den Staat betrachtet, das nicht entschuldigt und das nicht mit einem Vergleich geregelt werden konnte. Hatte also der Schuldner erst einmal eine Vorladung erhalten, blieb ihm als einzige Möglichkeit zum Ausgleich mit seinem Gläubiger nur die kurze Zeit auf dem Weg zum Gericht.

Unter »Gegenpartei« haben wir also einerseits den Kläger oder Gläubiger und andererseits auch den Angeklagten oder Schuldner in einem Rechtsstreit zu verstehen.

Die allgemeine Anwendung

Was will der Herr Jesus mit diesem Gleichnis sagen? Sicherlich zunächst in einem allgemeinen Sinne dies: Der Mensch muß die Zeit, die die Gnade Gottes ihm auf der Erde gewährt, nutzen, um mit Gott ins reine zu kommen. Tut er das nicht, folgt Gericht. Das ist der einfache, aber ernste Sachverhalt, der jeden Menschen angeht. Der Herr geht in Seinem Gleichnis davon aus, daß der Angeklagte schuldig, daß Versöhnung von seiten des Schuldners notwendig ist. Tatsächlich muß der sündige Mensch mit Gott versöhnt werden, nicht muß Gott mit dem Menschen versöhnt werden (vgl. Röm 5,10; Kol 1,22). Denn Gott ist nicht der Feind des Menschen, Er ist nicht gegen ihn. Aber der Mensch lebt in Feindschaft und Aufruhr gegen Gott. Deshalb bedarf er der Versöhnung mit Gott: „So sind wir nun Gesandte für Christus, als ob Gott durch uns ermahnte; wir bitten an Christi Statt: Laßt euch versöhnen mit Gott!“ (2. Kor 5,20).

Nun sagt das Gleichnis nichts darüber aus, auf welche Weise die Versöhnung erreicht werden kann, es besteht einfach auf deren Notwendigkeit, wenn sich der Mensch nicht eines Tages dem Gericht Gottes gegenübersehen will. Aber es ist interessant, daß eine Stelle aus dem Alten Testament die Antwort auf die Frage gibt, auf welche Weise die Aussöhnung stattfinden kann. Auch dort werden Menschen „auf dem Weg“ gesehen, in der Gefahr, unter den Zorn zu fallen. Ihnen wird gesagt: „Küsset den Sohn, daß er nicht zürne, und ihr umkommet auf dem Wege, wenn nur ein wenig entbrennt sein Zorn. Glückselig alle, die auf ihn trauen!“ (Ps 2,12). Ja, das ist die Antwort Gottes, die zu allen Zeiten gültig ist: Unterwerfung unter den „Sohn“ und das Vertrauen auf Ihn. So führt dieser Psalm den Herrn Jesus ein. Er allein kann den Menschen vor dem „Gläubiger“ und dem „Richter“ bewahren, da Er die Schuld derer, die auf Ihn vertrauen, auf Sich genommen hat.

Vielleicht liest jemand diese Zeilen, der noch nicht im Glauben seine Zuflucht zum schützenden Blut Jesu genommen hat. Willst du deinen Weg so weitergehen und einmal unversöhnt mit Gott als Richter Zusammentreffen? Dann bleibt keine Möglichkeit mehr zum „Vergleich“; die gerechte Strafe wird dich treffen, und dein Teil wird der See sein, der mit Feuer und Schwefel brennt (Off 20,15; 21,8). Heute bietet sich dir noch der Herr Jesus als dein Heiland an. Wenn du Ihn in Buße und Glauben annimmst, dann darfst du wissen, daß Er deine Schuld beglichen hat und daß du nun mit Gott versöhnt bist. Aber bedenke, daß der Weg zum Gerichtssaal kurz ist. Viel Zeit bleibt dir nicht mehr ...

Niemand täusche sich in der trügerischen Hoffnung, daß eines Tages ja die Schuld „abgebüßt“, der letzte Pfennig bezahlt sei! Aus dem natürlichen Vorgang, der unserem Gleichnis zugrundeliegt, wird klar, daß dies nicht die Bedeutung der Worte des Herrn ist. Im Altertum blieben die Schuldigen solange inhaftiert, bis die Schulden bezahlt waren: So endgültig war das Urteil, und so wenig bestand dann noch die Möglichkeit zu einem Ausgleich zwischen Gläubiger und Schuldner. Dies will der Herr uns lehren, nicht, daß irgendjemand einmal die Strafe für seine Sünden vor Gott abgebüßt hat und dann das Gefängnis, die Hölle, verlassen kann. Solch ein Gedanke ist der Heiligen Schrift völlig fremd. Sie kennt weder ein Fegefeuer noch eine allgemeine Wiederherstellung oder Erlösung aller Menschen.

Die jüdische Seite

Trotzdem hat der Herr Jesus Seine Worte nicht zufällig so gewählt. Ein Vergleich mit Lukas 12, Verse 58–59, wo wir dasselbe Gleichnis finden, legt denn auch den Schluß nahe, daß sich die eigentliche Deutung des Gleichnisses auf das jüdische Volk bezieht und eine nationale Vergebung – wir können auch sagen: dis-pensationale Vergebung – zum Gegenstand hat. Was das bedeutet, werden wir sogleich noch sehen.

Der Herr hatte zu den Juden gesprochen und gesagt, daß sie wohl die Zeichen des Himmels zu deuten wüßten, nicht aber diese gesegnete Zeit zu beurteilen vermochten, in der Er, ihr Messias, in ihrer Mitte weilte (Verse 54–56). Anstatt Ihn zu erkennen und im Glauben anzunehmen, behandelten sie Ihn als ihren Feind, als „Widersacher“. Sie nutzten die Zeit Seines Wei-lens in Israel nicht, um Seinen Dienst der Versöhnung anzunehmen. War Er nicht zu ihnen gekommen, um Sein Volk von ihren Sünden zu erretten (Mt 1,21)? Sie aber wollten Ihn nicht. Schon als Er noch ein kleines Kind war, zeigte sich in Herodes ihr mörderischer Haß. Dieser Haß fand in Seiner Kreuzigung seinen Höhepunkt.

So mußte Gott ihnen zum „Widersacher“ und zum „Richter“ werden. „Sie aber sind widerspenstig gewesen und haben seinen heiligen Geist betrübt; da wandelte er sich ihnen in einen Feind: Er selbst stritt wider sie“ (Jes 63,10). Er schloß sie, als Nation gesehen, ins Gefängnis ein. Sie wurden ein „beraubtes und ausgeplündertes Volk“, „in Löchern gefesselt und allesamt in Kerkern versteckt“ (Kap. 42,22). Nicht allein aber das. Gott schloß sie auch für eine Zeit von allen Verheißungen aus, die Er ihren Vätern gegeben hatte. Tatsächlich hatten sie sie, spätestens durch die Verwerfung des Messias, gründlich verwirkt, und Gott brachte statt dessen ein zeitliches Gericht über sie. In diesem „Gefängnis“ sind sie bis heute, und in diesem Gefängnis werden sie bleiben, bis Gott sich in Seiner Gnade ihrer wieder erbarmt.

Den Gedanken der Strafe für das jüdische Volk als Nation finden wir in vielen Gleichnissen. Wir hatten ihn bereits im Gleichnis von der »Lampe des Leibes« vor uns. Dort war Finsternis das Ergebnis davon, daß sie das Licht verwarfen. Hier sehen wir sie im Gefängnis, bis sie ihre Schuld bezahlt haben. In Verbindung mit dem »Eckstein« erfahren wir, daß er auf sie fallen und sie zermalmen wird (Mt 21,42–46). Im Gleichnis vom »Hochzeitsmahl« wird ihre Stadt in Brand gesteckt, und die Mörder der Gesandten des Königs werden umgebracht (Kap. 22,1–14). In Lukas 1 3 wird davon gesprochen, daß der »Feigen-baum« abgehauen wird, wenn er keine Frucht bringt. Und bereits Johannes der Täufer hatte gewarnt, daß schon die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt sei; jeder Baum, der nicht gute Frucht brächte, würde abgehauen und mit Feuer verbrannt werden (Mt 3, 10). Es wird für dieses Volk eine Taufe mit Feuer geben, die sich stark von der Taufe mit Heiligem Geist unterscheidet, die für die christliche Zeit kennzeichnend ist.

So hat das richterliche Handeln Gottes mit dem jüdischen Volk viele Seiten, viele Etappen oder Stufen. Es begann mit der Zerstörung Jerusalems, und es wird seinen Höhepunkt in der unvergleichlich schrecklichen Drangsalszeit finden, der Drangsal Jakobs, kurz vor der Erscheinung des Herrn. Diese ganze Zeit über sind sie im „Gefängnis“. Sie hatten die Warnung von Psalm 2 nicht beachtet, die doch prophetisch gerade ihnen galt: „Küsset den Sohn, daß er nicht zürne, und ihr umkommet auf dem Wege.“ Wie ernst ist das!

Aber einmal wird die Zeit kommen, wo Gott „sein ganzes Werk an dem Berge Zion und an Jerusalem vollbracht hat“ (Jes 10,12). Dann wird Er in Seiner wunderbaren Gnade sagen: „Tröstet, tröstet mein Volk! spricht euer Gott. Redet zum Herzen Jerusalems, und rufet ihr zu, daß ihre Mühsal vollendet, daß ihre Schuld abgetragen ist, daß sie von der Hand Jehovas Zwie-fältiges empfangen hat für alle ihre Sünden (Kap. 40,1.2).

Der Herr Jesus hatte sterbend am Kreuz von Golgatha für dieses Volk gebetet: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,34). Er hatte ihnen damit den Status von Totschlägern zuerkannt und sie nicht auf den Platz von Mördern gesetzt. Nur für Totschläger gab es eine „Zufluchtsstadt“, wo sie bis zum Tod des Hohenpriesters bleiben durften, nicht aber für Mörder (vgl. 4. Mo 35,22ff). Wohl sind die Juden heute noch im Gefängnis, von Gott in den Unglauben eingeschlossen (Röm 11,32). Aber es ist für sie eine „Zufluchtsstadt“, das heißt, sie wurden und werden über all die Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg als Volk nicht aufgerieben. Und „stirbt“ der Hohepriester, das will sagen, ist das himmlische Priestertum, das der Herr Jesus heute ausübt, zum Abschluß gekommen, werden sie wieder in das Land ihrer Väter kommen – nicht im Unglauben, wie heute, sondern im Glauben. Sie werden in Dem, den sie einst durchbohrt haben, ihren Messias erkennen und werden über Ihn wehklagen und bitterlich über Ihn leidtragen, wie man bitterlich über den Erstgeborenen leidträgt (Sach 12,10–14). „An jenem Tage wird ein Quell geöffnet sein dem Hause Davids und den Bewohnern von Jerusalem für Sünde und für Unreinigkeit“ (Kap. 13,1). Gott wird ihnen vergeben und sie mit Segen imgekannten Ausmaßes überschütten. So wird das Gebet des sterbenden Heilands seine Erhörung finden.

Zeitliches und ewiges Gericht

Es scheint noch eine Bemerkung notwendig zu sein in Verbindung mit dem Ausdruck »Schuld abtragen« in Jesaja 40. Denn vielleicht sagt jemand: „Also ist es doch möglich, vor Gott Schuld abzutragen,,bis der letzte Pfennig bezahlt‘ ist! Das wurde doch soeben bestritten.“

Wir müssen beachten, daß es hier um Israel und um ein zeitliches, nationales Gericht Gottes über dieses schuldige Volk geht. Wenn wir später zum Gleichnis von dem »Hochzeitsmahl« in Matthäus 22 kommen, werden wir klar den Unterschied zwischen dieser Art von Gericht und dem ewigen Gericht sehen. Das zeidiche Gericht betrifft das Volk als Ganzes und hat mit den Regierungswegen Gottes im Blick auf Israel, hat mit der Erde zu tun. In bezug auf Seine Regierungswege mit den Menschen kann Gott das Maß der Strafe begrenzen, Er kann Sich sogar „des Übels gereuen“ lassen, das Er tun wollte, und tut es nicht, wie im Fall der Niniviten (Jona 3,10). Das liegt in der Unumschränktheit Seiner Gnade. Aber – und das ist beachtenswert -wenn einmal Gott dem Volk Israel als Nation vergibt, dann erfahren ganz andere Personen diese Vergebung als die, die einst Sein Strafurteil empfingen. Es wird eine nationale und auch dispensationale, das heißt an eine Haushaltung gebundene Vergebung sein.

Das macht den entscheidenden Unterschied deutlich zwischen solch einem zeitlichen Gericht, das sich auf die Wege Gottes mit der Erde erstreckt, und dem ewigen Gericht Gottes. Das ewige Gericht ist ein persönliches Gericht, es trifft einzelne Personen für ihre persönliche Schuld, „damit jeder empfange, was er in dem Leib getan hat, nach dem er gehandelt hat, es sei Gutes oder Böses“ (2. Kor 5,10). In Offenbarung 20 sehen wir dann die Toten vor dem großen weißen Thron stehen, „und die Toten wurden gerichtet nach dem, was in den Büchern geschrieben war, nach ihren Werken“ (Vers 12). In bezug auf die persönliche Schuld des einzelnen vor Gott gibt es nie ein Schuld-Ab-tragen, sondern nur die Möglichkeit, sich mit dem „Widersacher“ auszusöhnen, solange man mit ihm „auf dem Weg“ ist – solange es „heute“ heißt. Und wie in den Augen Gottes die Sünde des einzelnen ein ewiges Maß an Strafe erfordert, so hat auch die Erlösung kraft des „kostbaren Blutes Christi, als eines Lammes ohne Fehl und ohne Flecken“ (1. Pet 1,19), eine ewige Tragweite.

Anders verhält es sich, wenn es eine Frage der Schuld eines ganzen Volkes ist. Natürlich bleibt auch da jeder einzelne vollkommen für sein Tun vor Gott verantwortlich. Aber darüber hinaus hat sich das Volk Israel als Nation durch die Verwerfung des Messias an Gott verschuldet. Und wenn Gott als Antwort darauf das Volk Israel beiseite setzt, kann Er dieses Gericht zeitlich begrenzen und dem Volk als solchem zu Seiner Zeit wieder vergeben. Gerade das wird Er, wie wir gesehen haben, tun; Er wird die natürlichen Zweige wieder in ihren eigenen Ölbaum einpfropfen (Röm u, 23//). Das ist es, was mit einer nationalen oder haushaltungsmäßigen Vergebung gemeint war. Sie erstreckt sich eben nur auf die Erde, nicht auf die Ewigkeit.

Aus diesen Erwägungen wird aber auch klar, wie wichtig bei der Deutung von Gleichnissen der dispensationale oder prophetische Aspekt sein kann. Gerade unser Gleichnis ist ein Beispiel dafür. Wir könnten es ohne Beachtung der prophetischen Seite nicht verstehen.

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