Jesus Christus - mehr als ein König
Eine Auslegung des Matthäusevangeliums

XI. Die abschließenden Leiden, das Kreuz und die Auferstehung

Jesus Christus - mehr als ein König

Mit den Kapiteln 26–28 kommen wir zum Schlussteil des Matthäusevangeliums. Der wahre König Israels hat seine Reden in der Öffentlichkeit beendet. Das Lehren über praktische und prophetische Themen ist jetzt zu Ende. Der Herr hat sein Zeugnis als der treue Zeuge in Worten und Taten geleistet. Er hat seine Reden beendet, die Ihn als den Propheten gleich Mose offenbart haben, wie es in 5. Mose 18,15.18 heißt. Aber Er war unvergleichlich viel größer als Mose. Wer Ihm nicht zuhörte und nicht auf Ihn hörte, würde verloren gehen.

Christus hatte die Gerechtigkeit verkündet: „Ich habe die Gerechtigkeit in der großen Versammlung verkündet; siehe, meine Lippen hemmte ich nicht – Herr, du weißt es! Deine Gerechtigkeit habe ich nicht im Innern meines Herzens verborgen; deine Treue und deine Rettung habe ich ausgesprochen, deine Güte und deine Wahrheit nicht vor der großen Versammlung verhehlt“ (Ps 40,10.11). Er hatte seine Arbeit in vollkommener Weise vollendet. Wenn Er nicht wie der hebräische Knecht gesagt hätte: „Ich liebe meinen Herrn, meine Frau und meine Kinder, ich will nicht frei ausgehen“ (2. Mo 21,5), hätte Er, ohne durch den Tod hindurchzugehen, in den Himmel auffahren können. Denn als der einzige Mensch, der keine Sünde getan hat, besaß Er das Recht zu leben (vgl. 3. Mo 18,5). Aber Jesus wollte Gott im Tod verherrlichen. Zugleich war Er gekommen, um sein Volk zu erretten und seine himmlische Braut, die Versammlung (Gemeinde), und die Gläubigen aller Zeitalter zu erlösen.

Nun kam die ernste und feierliche Stunde seiner abschließenden Leiden näher. Und Jesus erduldete sie in einem Geist ruhiger Würde, wie nur Er es tun konnte. Er bereitet sich und seine Jünger für die entscheidenden Leiden vor und nimmt in rührender Weise von seinen Jüngern Abschied. Dieser Teil des Evangeliums bedarf eigentlich nicht vieler Erläuterungen. Nicht, dass die nun folgenden, langen Kapitel unwichtig wären – im Gegenteil! Sie sprechen von dem Höchsten, womit sich ein Christ beschäftigen könnte. Aber dabei geht es nicht so sehr um Auslegung als vielmehr um Andacht. Das Lesen dieser Kapitel führt zur persönlichen und gemeinsamen Anbetung dessen, der bis in den Tod litt. Wir haben Den vor uns, der unserer Sünden wegen von Gott verlassen werden musste. Er starb, wurde auferweckt und lebt kraft seines unauflöslichen Lebens bis in Ewigkeit. Er hat ein Anrecht auf unser Mitempfinden, auf die Hingabe unserer Herzen.

Die Kapitel 26 bis 28 kann man in drei Teile gliedern:

  1. der Tag des Passahfestes: die Leiden Jesu bis zum Kreuz (Mt 26,1 - 27,26)
  2. die Erfüllung des Passahfestes: Jesus am Kreuz von Golgatha (Mt 27,27-66)
  3. die Erfüllung des Festes der Erstlingsgarbe: die Auferstehung Jesu (Mt 28)

Der Tag des Passahfestes: Leiden bis zum Kreuz (Mt 26,1 - 27,26)

Dieses Kapitel führt uns nach der langen Rede wieder zurück zu geschichtlichen Berichten über die letzten Tage Jesu auf der Erde. Nachdem der Herr seine Rechte als König von Israel offenbart hatte, sprach Er das Gericht über die untreuen Führer seines ungläubigen Volkes aus. Anschließend hatte Er die Lage seiner Jünger in seiner Abwesenheit in Gleichnissen skizziert. Nun zeigt Er uns seine Unterwerfung unter Gottes Willen, indem Er die für Ihn bestimmten Leiden ertrug. Das, was jetzt folgt, ist die Ausführung des Ratschlusses Gottes. Zugleich ist es das Liebeswerk unseres Retters.

Die Szene aller Szenen, das Kreuz und die drei Stunden der Finsternis, naht heran. Christus bereitet sich darauf vor zu leiden. Er tut das in absoluter Übergabe an seinen Vater. Auch die Szene in Bethanien ist eine Vorbereitung auf das Kreuz. Der Geist Gottes wirkte mächtig in dem Herzen einer Frau, die den Retter liebte. Zugleich trieb Satan das Herz des Menschen der Sünde an, das Schlimmste gegen Jesus zu wagen, was ein Mensch tun konnte: Ihn an seine Feinde zu verraten.

Um diese beiden „Mittelpunkte“ herum versammeln sich die verschiedenen Menschengruppen. Was ist das für ein Augenblick für Himmel, Erde und Hölle! Wir sehen die Machtlosigkeit der Menschen. Es schien so, als ob der Herr Jesus machtlos und jedem feindlichen Hauch ohne Hilfsmöglichkeit ausgesetzt war. Zugleich erkennen wir, dass Gott seinen Ratschluss ausführt. Christus vollendet alles und leidet freiwillig, so dass diese bösen Führer Israels nichts ihrer eigenen Vorstellung entsprechend ausführen können.

Diese Menschen waren scheinbar frei, alles so zu tun, wie sie es wollten. Denn es war ihre Stunde und die Gewalt der Finsternis (Lk 22,53). Sie waren vollkommen verantwortlich für das, was sie taten. Und doch vollendeten sie in ihrer Ungerechtigkeit letztlich nichts anderes als den Willen Gottes, obwohl sie es nicht wollten und es ihren eigentlichen Plänen widersprach.

Christus ging hin, um sich von den Händen sündiger Menschen, die kein Herz und Gewissen hatten, kreuzigen zu lassen. Er war das Lamm, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Schaf, das stumm ist vor seinen Scherern (Jes 53,7; Apg 8,32). Mit der Ihm eigenen würdevollen Ruhe zeigte Jesus den Jüngern bereits vor Eintreffen dieser Ereignisse, was sich nun ereignen würde. Denn als Emmanuel hatte das freiwillige Opfer ein göttliches Wissen über alle Dinge, die Ihm bevorstanden.

Wir kommen somit zu den Ereignissen, die alle Vorhersagen bezüglich der Leiden und des Todes Jesu erfüllten. Wir lesen von ihnen in den Büchern Mose, den Propheten und den Psalmen.

In Kapitel 26 vermittelt uns der Geist Gottes starke Kontraste. Wir sehen noch einmal den Christus Gottes in seiner ganzen Vollkommenheit. Zugleich werden die Bosheit und satanische Mächte offenbart, die sich in bislang ungekannter Heftigkeit über den Heiligen und Gerechten ausschütten. Diese Gegensätze finden wir gegenübergestellt in jeweils zwei aufeinanderfolgenden Abschnitten:

  1. die Ankündigung des Todestages Christi – die Pläne der Führer Israels (Verse 1.2 und 3–5)
  2. Hingabe an Christus – angebliche Besorgnis für Arme (Verse 6.7.10–12 und 8.9)
  3. Vorbereitung des Verrats von Christus durch Judas – Vorbereitung des letzten Passahfestes (Verse 14–16 und 17–19)
  4. Entlarvung des Verrats Judas' beim Passahmahl – Hingabe Jesu, symbolisiert durch Brot und Kelch (Verse 20–25 und 26–30)
  5. Selbstüberschätzung von Petrus – vollkommene Abhängigkeit Jesu in Gethsemane (Verse 31–35 und 36–46)
  6. Verrat von Judas – die würdevolle Ergebenheit Jesu (Verse 47–50 und 51–56)
  7. Das Zeugnis der Wahrheit Jesu – die drei Lügen von Petrus (Verse 57–68 und 69–75)
  8. Reue ohne Buße von Judas – das treue Bekenntnis des leidenden Christus (Kapitel 27,1–10 und 11–26)

Verse 1–5: Die Ankündigung des Kreuzes durch Christus und die Pläne der Führer Israels

Und es geschah, als Jesus alle diese Reden vollendet hatte, sprach er zu seinen Jüngern: Ihr wisst, dass nach zwei Tagen das Passah ist, und der Sohn des Menschen wird überliefert, um gekreuzigt zu werden (Verse 1.2).

Wir sehen den Herrn in vollkommener Gefasstheit, wie Er mit seinen Jüngern spricht und ihnen alles ankündigt, was seine Leiden und seinen Tod betrifft. Zum siebten Mal kündigt Er seinen Jüngern seinen Tod in diesem Evangelium an

Die Ankündigungen der Leiden, des Todes und der Auferstehung des Herrn bei Jesus

  1. Mt 12,40: Der Herr Jesus sagt den Pharisäern und Schriftgelehrten in einer etwas geheimnisvollen Weise, dass Er wie Jona, der drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches war, drei Tage und drei Nächte im Herzen der Erde sein würde – also der Gestorbene wäre.
  2. Mt 16,21: Der Herr Jesus weist darauf hin, dass Er vonseiten der Vornehmen in Israel verfolgt und getötet werden, aber am dritten Tag auferstehen würde.
  3. Mt 17,9: Hier finden wir den kurzen Hinweis, dass Er als der Sohn des Menschen aus den Toten auferstehen werde – also zuvor sterben müsse.
  4. Mt 17,12: Wie Johannes verfolgt werden würde, müsse auch der Sohn des Menschen vonseiten der Juden leiden.
  5. Mt 17,22.23: Der Herr Jesus kündigt an, dass Er als der Sohn des Menschen in die Hände von Menschen überliefert werden, getötet, aber auch am dritten Tag auferstehen würde. Hier ist der erste Hinweis auf die Schuld der Menschen an dem Tod des Herrn.
  6. Mt 20,17-19: Die Ausführlichkeit der Hinweise nimmt zu. Zunächst war es ein Vers, dann zwei Verse, jetzt sind es schon drei längere Verse, in denen der Herr Jesus seine Jünger auf seinen Tod und seine Auferstehung vorbereitet.
  7. Mt 26,2: Unmittelbar vor den endgültigen Leiden weist der Herr Jesus seine Jünger nun ein letztes Mal darauf hin, dass Er als Sohn des Menschen überliefert wird, um gekreuzigt zu werden. Jetzt würde das Vorbild des Passah seine Erfüllung finden.

Aber jetzt nennt Er nicht nur die Art des Todes – nämlich den Kreuzestod –, sondern auch den Zeitpunkt: Es wäre das Passahfest, an dem Er sterben sollte.1 Die Bestimmtheit, mit der Christus hier spricht, zeigt noch einmal, dass Er Gott ist, denn Er weiß alles im Vorhinein. Was für ein Friede spricht aus seinen Worten, sogar dann, als es um seinen Tod geht. Es gibt keine Ängstlichkeit, nichts, was Ihn beunruhigen würde. Er war gekommen, um den Willen dessen zu tun, der Ihn gesandt hatte. Er gab sich als das wahre Passahlamm hin.

Nicht von ungefähr wird das gerade von Matthäus mit dem Passahfest in Verbindung gebracht. Lukas betont stärker, dass es sich um das Fest der ungesäuerten Brote handelt. Er stellt sowohl die Reinheit und Sündlosigkeit des Herrn als auch die Verbindung seines Werkes mit dem Leben des Gläubigen vor. Matthäus beschränkt sich stärker auf das jüdische Vorbild des Passah: Das wahre Lamm Gottes sollte für sein Volk und sogar für viele andere Menschen leiden. Das Passah ist das Bild der Erlösung des Volkes Israel aus Ägypten. Das Mittel dafür war das Blut des Lammes, das die Grundlage der Erlösung für das Volk war. Jetzt aber würde Jesus nicht nur eine äußerliche und zeitliche Erlösung bereiten, sondern die Grundlage für die ewige Erlösung legen (Heb 9,12).

Der Herr spricht hier zum zweiten Mal von seinem Kreuzestod. Schon in Kapitel 20,19 hatte Er vorhergesagt, dass Er gekreuzigt werden würde. Jetzt aber fügt Er hinzu, wann das wäre: Er würde diese Todesart gerade am Passahfest erleiden müssen.

Die bösen Pläne der Führer Israels

Dann versammelten sich die Hohenpriester und die Ältesten des Volkes in den Hof des Hohenpriesters, der Kajaphas hieß, und beratschlagten miteinander, um Jesus mit List zu greifen und zu töten. Sie sagten aber: Nicht an dem Fest, damit kein Aufruhr unter dem Volk entsteht. (Verse 3–5).

In den Versen 3–5 finden wir dann den großen Kontrast zu den ersten beiden Versen. Wir haben den Ratschluss Gottes gesehen und auch die Unterwerfung Jesu darunter in Liebe. Jetzt erleben wir die gottlosen Beratungen der Menschen, die letztlich nur dazu dienten, die göttlichen Ratschlüsse zur Ausführung zu bringen. Kaum hat der Herr seinen Todeszeitpunkt angekündigt, wird der Feind aktiv. Wenn er Ihn nicht daran hindern kann, ans Kreuz zu gehen, will er wenigstens den Zeitpunkt bestimmen. Die volle Wirksamkeit, Bedeutung und das Ausmaß seines Todes kann er ohnehin nicht verhindern.

Diese Verse gewähren uns dabei einen Blick in den Palast des Hohenpriesters. Es gab keinen legalen Weg, Christus zu Tode zu bringen. So reißen die Beratungen nicht ab, wie man Ihn mit List und möglichst unauffällig auf andere Weise umbringen könne. Man muss dabei bedenken, dass dies alles im Beisein dessen stattfand, der kraft seines Amtes das Volk zu Gott führen sollte. Denn der Hohepriester repräsentierte die Heiligkeit Gottes vor dem Volk. Kajaphas jedoch offenbarte das Gegenteil: Bosheit, List, Unheil und Gottlosigkeit.

In diesen Versen finden wir das bestätigt, was Salomo einmal schrieb: „Das Herz des Menschen erdenkt seinen Weg, aber der Herr lenkt seine Schritte“ (Spr 16,9). „Viele Gedanken sind im Herzen eines Mannes; aber der Ratschluss des Herrn, er kommt zustande“ (Spr 19,21). So entwarfen die Führer ihre Pläne. Aber als sie später ihre Schändlichkeit ausführten, bestätigten sie nur die Worte Jesu an seine Jünger.

Ihr Plan war es, Christus mit List schnell zu fangen, um Ihn dann im Anschluss an das Fest umzubringen. Da dort aus ihrer Sicht zu viele Menschen vor Ort waren, hatten sie Sorge, diese könnten aufgrund seiner Wundertaten für Ihn eintreten. Sie fürchteten die Volksmengen, die in diesen Tagen nach Jerusalem kamen. Diese waren in den letzten dreieinhalb Jahren Zeugen und Gegenstände der Güte und der Macht Jesu gewesen. Sie hielten Ihn zumindest für einen Propheten, manche von ihnen glaubten zum Teil vielleicht sogar an Ihn als an den Christus (vgl. Mt 21,46). Diese boshaften Obersten wollten ihre schreckliche Freveltat ausführen, ohne durch den Widerstand derer behindert zu werden, die aus den Wohltaten ihres Opfers Nutzen gezogen hatten. Sie würden ihre Bosheit ausführen können – und doch würden sie damit den Ratschluss Gottes erfüllen.

Die Pläne der Hohenpriester und Ältesten scheitern

Letztlich also planten diese Menschen nicht nur ohne Gott, sondern vergeblich. Das ist umso bemerkenswerter, als zwischen Festnahme und Tod Jesu keine 18 Stunden lagen. Seine Verurteilung und Hinrichtung waren somit Teil eines äußerst hektischen Prozesses. Darin waren nicht nur die jüdischen Führer sowie das jüdische Synedrium, ihr oberster Gerichtshof, eingebunden. Auch die politische, weltliche Gerichtsbarkeit unter Pilatus, dem Statthalter Roms in Jerusalem, hatte Anteil daran. So wurde am Ende kein Plan mehr verfolgt – alles nahm seinen Gang, wie der Herr es vorhergesagt hatte.

Aus Johannes 11,57 wissen wir, dass die Führer Israels eine regelrechte Fahndung nach dem Herrn ausgeschrieben haben. Es war ein Befehl von ihnen erteilt worden, dass jeder, der wusste, wo Jesus war, das anzeigen musste. Auch diese Menschen können sich nicht damit herausreden, dass der Ratschluss Gottes den Tod Christi vorsah. Das bezeugt Petrus in seiner ersten großen Rede nach dem Kommen des Heiligen Geistes: „Jesus, den Nazaräer, einen Mann, von Gott vor euch bestätigt durch mächtige Taten und Wunder und Zeichen, die Gott durch ihn in eurer Mitte tat, wie ihr selbst wisst – diesen, hingegeben nach dem bestimmten Ratschluss und nach Vorkenntnis Gottes, habt ihr durch die Hand von Gesetzlosen an das Kreuz geschlagen und umgebracht“ (Apg 2,22.23). Ja, es war Gottes Ratschluss. Aber genauso wahr blieb, dass sie die volle Verantwortung für ihr Tun besaßen.

Da der Plan, Jesus nicht an dem Fest zu töten, nicht zum Ratschluss Gottes gehörte, konnte er nicht ausgeführt werden und schlug fehl. Von Anfang an hatte Gott entschieden, dass es an diesem Passahtag und an keinem anderen geschehen sollte. Offenbar wollten diese bösen Menschen den Mord im Geheimen begehen. Aber sie mussten ihn in aller Öffentlichkeit vollziehen. Sie konnten den Verrat eines Jüngers und das öffentliche, schnelle Urteil eines römischen Landpflegers nicht voraussehen. Außerdem gab es entgegen ihren Befürchtungen keinen Aufruhr unter dem Volk, jedenfalls nicht zu einem gegen sie gerichteten. So kam es, dass Jesus an jenem Tag des Passah nach dem Wort Gottes starb. Christus sprach (Vers 1), die Führer Israels sagten ihre Meinung (Vers 5): Das eine offenbarte sich als Wort Gottes, das andere als wirkungsloses Menschenwort.

Wahrscheinlich dachten diese Menschen, Jesus würde sich auf sein Volk und dessen Gunst berufen. Aber nicht nur bei Ihm, sondern auch bei vielen anderen Märtyrern gingen die Menschen fehl in ihren Annahmen. Sie denken immer, die Gläubigen würden sich so verhalten, wie sie selbst es als Ungläubige tun würden. Aber der Glaube ist einfältig auf Gott gerichtet. So finden wir auch hier, dass der Herr Jesus einfach das tat, was sein Vater Ihm aufgetragen hatte. So gab es am Todestag des Herrn zwar einen gewissen Aufruhr, aber dieser war der gemeinsame und wiederholte Schrei der Volksmenge: „Er werde gekreuzigt!“ (Mt 27,15.22.23).

Abschließend sei noch hinzugefügt, dass durch die Erfüllung des Bildes, das Gott durch das Passahlamm und dieses Fest vorstellen wollte, die Passahfeier heute ihre Existenzberechtigung verloren hat. Zwar wird von Juden noch heute das Passah Jahr für Jahr gefeiert. Aber es ist ein inhaltsleeres Fest geworden. Das trifft nicht nur zu, weil es – wie schon zu Zeiten des Herrn – ohne Gott begangen wurde und daher zu einem Fest der Juden (vgl. Joh 5,1) geworden ist. Wenn die Wirklichkeit eingetreten ist, gehört das Bild der Vergangenheit an (vgl. Heb 7,18.19; 8,13).

Verse 6–13: Die Salbung des Königs und seine Missachtung

„Als aber Jesus in Bethanien war, im Haus Simons, des Aussätzigen, kam eine Frau zu ihm, die ein Alabasterfläschchen mit sehr kostbarem Salböl hatte, und goss es aus auf sein Haupt, als er zu Tisch lag. Als aber die Jünger es sahen, wurden sie unwillig und sprachen: Wozu diese Vergeudung? Denn dieses hätte teuer verkauft und den Armen gegeben werden können. Als aber Jesus es erkannte, sprach er zu ihnen: Was macht ihr der Frau Schwierigkeiten? Denn sie hat ein gutes Werk an mir getan; denn die Armen habt ihr allezeit bei euch, mich aber habt ihr nicht allezeit. Denn indem sie dieses Salböl über meinen Leib gegossen hat, hat sie es zu meinem Begräbnis getan. Wahrlich, ich sage euch: Wo irgend dieses Evangelium gepredigt werden wird in der ganzen Welt, wird auch davon geredet werden, was diese getan hat, zu ihrem Gedächtnis (Verse 6–13).

In diesen Versen kommen wir zu einer Szene, die ihresgleichen in der Schrift sucht. Hingabe und Liebe für den Herrn Jesus gab es während seines Lebens vorher und nachher nicht mehr in gleicher Weise. Anders ausgedrückt: Gott hat für das Herz Jesu eine besondere Erfrischung bereitet, eine Salbe, die mehr für sein Herz als für seinen Körper gedacht war. Aber selbst diese Umstände werden vom Feind benutzt, um Judas zum Stachel und Antreiber gegen die Hingabe dieser Frau und damit gegen Christus zu machen. Dieser „Sohn des Verderbens“ (Joh 17,12) wird von Satan anlässlich der Handlung Marias (vgl. Joh 12,3) zum Äußersten getrieben. Nur einer Person, einer Frau, war der Herr so viel wert, dass sie dafür ungefähr das Einkommen eines ganzen Jahres opferte. Einem Jünger des Herrn war der Meister gerade einmal ein Sklavenlohn wert – so können sich Jünger voneinander unterscheiden.

Während in Jerusalem der Rat der Bösen zusammentritt, finden wir in Bethanien eine vollkommen andere Szene. Insofern stellt dieser Abschnitt nicht nur einen Gegensatz zu dem nachfolgenden über Judas dar. Er ist auch ein Kontrapunkt zu den vorherigen Versen. Wir wechseln gewissermaßen die Szene von der grausamen Bosheit, die wir in den prunkvollen Räumen in Jerusalem sehen, hin zu einer Tat voller Liebe und Hingebung. Diese findet in einem schlichten Heim statt, wo solche wohnten, die zu den gottesfürchtigen Übriggebliebenen gehören.

Jesus war in den letzten Tagen seines Lebens vor dem Tod immer wieder von Jerusalem nach Bethanien gegangen. Dort verbrachte Er jeweils die Nacht (Joh 12,1; Mt 21,17; Mk 11,11.12.19.27). Sein Herz fand dort eine Zufluchtsstätte des Friedens, wo Er die Zuneigung des Lazarus und seiner Schwestern genoss. Der Herr hat den Hass der Feinde gerade in diesen letzten Tagen vollkommen empfunden. Umso mehr genoss Er die Ihm in Bethanien bezeugte Zuneigung und Gemeinschaft. Sein menschliches Herz sehnte sich nach Mitgefühl und wusste es als vollkommener Mensch auch wertzuschätzen. Was für einen Unterschied stellt die Atmosphäre dieses Ortes und Hauses zu der im Haus des Kajaphas dar, wo man beratschlagte, Ihn zu ermorden.

Der Herr wusste auch, dass Er in diesem „Heiligtum“, das Ihm in Jerusalem vorenthalten wurde, zum letzten Mal aufgenommen wurde. Das Herz Jesu war immer voller Liebe. Er war jederzeit bereit, diese Liebe auch zu offenbaren, wann immer das möglich war. Zugleich war sein Herz immer beengt durch die sündhafte Welt von Menschen, die diese Liebe nicht erwiderten und nicht erwidern wollten. Gerade deshalb war Bethanien für Christus eine gesegnete Zufluchtsstätte. Wenn auch der Herr die Nähe des Kreuzes tief empfand, konnte Ihm das nicht die Schönheit der Atmosphäre dieses Ortes rauben. Es machte diese Gemeinschaft feierlich und zu Herzen gehend. Gerade weil Er nicht aufhörte, Mensch zu sein, empfand Er tief, was hier geschah.

Im Gegensatz zu seinen Jüngern, die seine Worte wohl während der ganzen dreieinhalb Jahre nie richtig verstanden haben, hatte Maria – darf man sagen: instinktiv? – ein Empfinden dafür, dass die Feindschaft gegen den Gegenstand ihrer Zuneigung auf einen Höhepunkt zuschritt. Das hier gebotene Schauspiel bringt uns den Herrn fühlbar nahe. Zugleich heiligt es unsere Herzen. Wir erleben einen Herrn, der sich täglich aufopferte, hier jedoch selbst der Gegenstand eines Opfers wurde.

Die Beziehung von Maria zu ihrem Herrn

Bevor wir uns der Einzelheiten dieser wunderbaren Szene widmen, weise ich noch auf drei Punkte einleitend hin:

  1. Maria wird von Matthäus nicht mit Namen genannt, obwohl wir aus Johannes 12 wissen, dass es sich um niemand anderes handeln kann. Auch Markus erwähnt ihren Namen nicht. Niemand wird daran zweifeln, dass es dafür einen triftigen Grund gibt. Hängt dies mit der Tatsache zusammen, die der Herr Jesus in Vers 13 ausspricht? Er sagt dort, dass wo irgend das Evangelium gepredigt wird, auch davon geredet wird, was diese Frau getan hat, und zwar zu ihrem Gedächtnis. Genau diese Aussage fehlt bei Johannes, wo der Geist Gottes ihren Namen nennt. Denn letztlich kann es beim Evangelium nicht um Maria gehen, sondern um den Herrn. Weil Ihm aber ihre Hingabe so wertvoll war, sollte sie – mehr als jeder andere Mensch nach Christus – ein Denkmal gesetzt bekommen. In Verbindung mit Vers 13 werden wir uns das näher ansehen.
    Ein weiterer Grund dafür, dass Matthäus den Namen Marias nicht erwähnt, mag darin liegen, dass es hier um die öffentliche Herrlichkeit des Königs geht. Dabei ist der Name der Frau nicht wichtig, wohl aber die Ehrerweisung dieser Person ihrem Messias gegenüber. Johannes dagegen zeigt uns immer wieder ganz persönliche Beziehungen zwischen dem Sohn Gottes und einzelnen Menschen. So auch hier, wo Er das ganz persönliche Interesse an dieser Frau und ihrer Hingabe offenbart.
  2. Es ist traurig, dass man an dieser Stelle erwähnen muss, dass die Zuneigungen Marias nicht falsch verstanden werden dürfen. Da es heute manche verwerflichen und blasphemischen Äußerungen gibt, ist es leider nötig, diesen Punkt kurz anzuschneiden. Es war echte Liebe vonseiten Marias, aber es war keine, die auch nur entfernt mit Empfindungen zu tun hat, die wir heute zwischen Mann und Frau kennen. Gerade deshalb wird die Beziehung von Maria zu ihrem Herrn in so heiliger Zurückhaltung beschrieben. Es ist gotteslästerlich, hier etwas anderes hineinzulesen.
  3. Dann ist noch etwas zur Chronologie der Ereignisse zu sagen. Wahrscheinlich gehört der Bericht über die Salbung des Herrn zu den wenigen Ereignissen, die Markus nicht in chronologischer Ordnung mitteilt. Johannes dagegen, der wie Markus der geschichtlichen Reihenfolge folgt, berichtet auch an dieser Stelle noch immer der Zeit nach. Er spricht davon, dass der Herr sechs Tage vor dem Passah nach Bethanien kam.2 Das Passah war am Freitag. Somit dürfte das Abendessen, das dem Herrn in Bethanien bereitet wurde, am Samstagabend stattgefunden haben, der nach jüdischer Zählung zum Sonntag gehört. Das ist der erste Tag der Woche! Matthäus berichtet davon erst viel später, um den inneren Zusammenhang der Schlussszenen und mit den Entscheidungen von Judas offenzulegen. Die Tat Marias wird umso beeindruckender, je mehr man bedenkt, dass noch einige Tage vergingen, bis der Herr wirklich starb.

Der Herr war in Bethanien im Haus Simons, des Aussätzigen. Wir dürfen davon ausgehen, dass dieser durch den Herrn von seinem Aussatz gereinigt und geheilt worden war. Sicherlich wird uns deshalb von seinem Aussatz berichtet. Es ist undenkbar, dass Simon noch immer aussätzig war. Nach 3. Mose 13 und 14 hätte er dann außerhalb des Lagers sein müssen, ohne jede Möglichkeit auf Kontakt mit anderen Juden.

Viele haben darüber gerätselt, wer dieser Simon ist. Die Schrift schweigt darüber. So lassen wir offen, ob er wirklich der Ehemann von Martha war, wie manche annehmen. Da es sich um das Haus Simons und nicht, jedenfalls nicht dem Titel nach, um das Haus Marthas handelte, ist der Mut Marias umso erstaunlicher. Ihre Handlung wird so zu einer sehr persönlichen Sache zwischen ihr und dem Herrn. Sie fand eben nicht in dem Haus ihrer Familie statt – es sei denn, auch sie wohnte in Simons Haus.

Die Hingabe Marias für ihren sterbenden Retter

Im siebten Vers wird uns dann die eigentliche Handlung Marias berichtet. Wie kam diese Frau dazu, gerade in diesem Augenblick ein äußerst wertvolles Alabasterfläschchen zu nehmen, um es ganz auf das Haupt Jesu auszugießen? Sie hatte offenbar mehr Verständnis als alle Jünger von ihrem Herrn und Meister. Wie ist das möglich, wo sie den Herrn doch viel seltener gesehen und gehört hat als die Zwölf? Sie hatte die Worte ihres Retters offenbar nicht nur gehört, sondern sie hatte Ihm und seinem Wort auch zugehört. Sie hatte sich dafür Zeit genommen und sich bewusst zu seinen Füßen hingesetzt (vgl. Lk 10,39). Das aber war nicht alles, wie wir hier sehen. Sie verband das Hören mit wahrer Hingabe. Der Herr nahm diese an, weil sie durch Liebe hervorgerufen wurde, die der Heilige Geist in dieser einsichtsvollen Frau bewirkt hatte.

Was muss das für eine Freude für den Herrn gewesen sein! Inmitten der Ablehnung vonseiten seines Volkes und angesichts des Unverständnisses bei seinen Jüngern gab es eine Person, die mit Ihm empfand. Diese Art der Zuwendung finden wir so nicht mehr am Kreuz. Maria steht dort nicht, weil sie ihrem Meister bereits hier das gegeben hat, was sein Herz suchte. Wir finden diesen „Honig“ (vgl. 3. Mo 2,11), den der Herr genießen durfte, nicht am Kreuz, wo er unpassend wäre, wie ein Ausleger schreibt (JND). Honig ist manchmal in der Schrift vielleicht ein symbolischer Hinweis auf eine vom natürlichen Bereich ausgehende (reine) Zuneigung.

Dieser Honig hatte keinen Platz bei den Opfern. Aber vielleicht ist diese Handlung Marias etwas von diesem „Süßen“ an dieser Stelle. Nachdem der Herr in den Kapitel 21–25 seinen Auftrag seinem Volk gegenüber vollkommen ausgeführt hatte, gewährt Gott Ihm diese Erfrischung. In Kürze würde Er den Platz des Opfers einnehmen. Dazwischen lagen Tage, die schon von tiefsten Leiden gekennzeichnet waren. Daher schenkte Ihm sein Vater, dass Er die Liebe der Person genießen durfte, die Ihm ihr Herz geöffnet hatte. Das erinnert uns an die prophetischen Worte Davids: „Auf dem Weg wird er trinken aus dem Bach, darum wird er das Haupt erheben“ (Ps 110,7).

Wir finden hier also das Ergebnis davon, dass sich ein Herz in Liebe auf den Herrn ausrichtet. Maria war mit Ihm beschäftigt und fühlte daher seine Lage. Sie fühlte, was Ihn bewegte, und dies setzte ihre Liebe in Tätigkeit. Da sie innerlich fühlte, dass das Ende nahte, bewirkte das in ihr eine ganz besonderen Ausdrucksform der Hingabe. Demgegenüber sehen wir das Wachsen des Hasses gegen Christus und den Entschluss bei Judas und den Führern des Volkes, Ihn zu ermorden. Maria aber tat das einzig Angemessene, und sie führte es in der passenden Art und Weise aus. Wir können nicht sagen, ob ihre Handlung einem gewissen inneren „Instinkt“ ihres Herzens entsprang. Wir wissen auch nicht, was sie von ihrer Handlung wirklich verstand. Aber Jesus legte ihrem Tun doch den ganzen Wert bei, den seine vollkommene Einsicht ihr beimessen konnte. Er rechnete ihr die Gefühle ihres Herzens und die kommenden Begebenheiten in ihrer ganzen Tragweite zu. Das tut Er immer mit den Seinen. Wenn Paulus durch den Geist Gottes die Gabe der Philipper beurteilt, so bezeichnet er sie als ein Opfer: „Das von euch Gesandte ..., einen duftenden Wohlgeruch, ein angenehmes Opfer, Gott wohlgefällig“ (Phil 4,18). Wer von uns würde eine materielle Gabe mit solchen Worten bezeichnen, die Gott im Blick auf das einzigartige Opfer seinen Sohnes verwendet? Gott tut das, weil Er jede Hingabe eines Gläubigen damit adelt, dass Er sie mit dem Werk des Herrn Jesus verbindet.

Maria wartete also nicht auf die Verheißung des Vaters (Lk 24,49), bis sie dem Herrn die tiefe Anbetung ihres Herzens brachte. Sie goss diese in Form dieses Salböls bereits vor seinem Tod über seinem Haupt und seinen Füßen aus. Denn sie liebte Ihn mit einer von Gott bewirkten tiefen, anbetenden Liebe. Die göttliche Person, nämlich der Heilige Geist, die kurze Zeit später im Überfluss (Joh 10,10) mitgeteilt wurde, wirkte schon damals in den Trieben einer neuen, göttlichen Natur. Johannes sagt, dass die Salbe aufbewahrt worden war (Joh 12,7). Früher habe ich gedacht, dass Maria dieses Salböl für andere Zwecke, vielleicht für sich selbst, gekauft hat. Das glaube ich heute nicht mehr. Sie hat dieses Alabasterfläschchen gerade für ihren Meister gekauft. Sie wusste nicht, wann sie es Ihm widmen könnte. Aber jemand anderes kam dafür aus ihrer Sicht nicht in Frage – sie selbst auch nicht. Es war das Beste, was sie hatte, und sie goss es über Jesus aus. Wie gering dies in ihren Augen auch scheinen mochte – in seinen Augen war es überaus kostbar. Sie liebte Ihn und fühlte die drohende Gefahr. Denn die Liebe fühlt schnell und genauer als die geschärfteste menschliche Klugheit.

Salböl für Haupt und Füße

Matthäus berichtet uns, dass Maria das Salböl auf das Haupt des Herrn Jesus ausgoss. Das ist eines Königs würdig, der im Alten Testament auf dem Kopf gesalbt wurde. Man denke zum Beispiel an David (1. Sam 16; vgl. 1. Sam 10,1; 2. Kön 9,3). Johannes dagegen schreibt, dass Maria die Füße des Sohnes Gottes salbte. Manche wollten daraus einen Widerspruch in der Bibel kreieren. Mit ein wenig Nachdenken wird man verstehen, dass sie beides getan hat. Konnte sie dem ewigen Sohn Gottes, von dem Johannes spricht, das Haupt salben? Unmöglich! Das wäre vollkommen ungeziemend gewesen. So salbt sie Ihm in dem Bericht, der von seiner höchsten Herrlichkeit spricht, die Füße. Sie fällt anbetend vor Ihm nieder, dem ewigen Wort, das Fleisch geworden ist.

Was für eine Kühnheit erblicken wir in dieser Frau, dass sie dem Herrn Jesus, während Er zu Tisch lag, Kopf und Füße salbte. Dazu gehörte großer Mut, vor allem, das vor anderen zu tun. Maria hatte einen solchen. Bedenken wir dabei, dass Johannes der Täufer sich nicht einmal für würdig erachtete, dem Herrn die Riemen seiner Sandalen zu lösen. Dabei war er der Größte unter Frauen Geborene. Aber er stand für ein altes System, in dem Gott hinter dem Vorhang des Allerheiligsten wohnte. Maria dagegen ist ein Vorbild auf die Versammlung und jeden Gläubigen in der heutigen Zeit. Ohne Scheu – aber mit großer Ehrfurcht – dürfen wir dem Vater nahen und auch den Herrn Jesus anbeten.

Die Feinde würden den Herrn Jesus nur kurze Zeit später mit Dornen krönen. Maria aber salbte dieses königliche Haupt mit wertvollem Salböl. Das Reich Christi konnte nur aufgerichtet werden, indem der König starb und auferstand. Daher – weil diese Frau seinen Tod erahnte, den Gott in seinem Ratschluss festgelegt hatte – nahm Christus ihre Salbung zu seinem Begräbnis an. Maria konnte etwas zur Einbalsamierung des Herrn beitragen. Als die übrigen Frauen mit ihren Spezereien zur Gruft kamen, war Jesus schon auferstanden (Lk 24,1). Nikodemus und Joseph von Arimathia kamen ebenfalls nicht mehr vor dem Tod Jesu. Aber ihnen wurde immerhin noch die Ehre zuteil, den Herrn nach seinem Tod mit Spezereien zu bedienen (Joh 19,40). Maria dagegen kam rechtzeitig. Diese Frau, die ihren Herrn besser verstanden hatte als alle anderen und deren Liebe weiter reichte als die aller Jünger, ergriff hier eine einmalige Gelegenheit.

Diese Tat Marias erinnert uns an Hohelied 1,12: „Während der König an seiner Tafel war, gab meine Narde ihren Duft.“ Wir bedenken dabei, dass es normalerweise genügte, einen Tropfen einer solchen, wertvollen Narde zu verwenden, um solch einen Duft zu bewirken. Aus Markus 14,3 wissen wir, dass Maria das ganze Fläschchen – wir müssen wohl annehmen, den Flaschenhals – zerbrach. Sie wollte nichts für sich zurückbehalten, sondern die gesamte Narde über ihren Herrn und Meister ausschütten. Wie wertvoll war Er ihr.

Ein Vergleich von Lukas 7 und Matthäus 26

Bevor wir zu den Reaktionen der Jünger weitergehen, verweise ich noch auf eine sehr ähnliche Begebenheit. Dabei ist sehr auffallend, dass auch diese zweite Handlung im Haus eines Simon geschieht. Es handelt sich um zwei verschiedene Personen. In Matthäus 26 befinden wir uns in Bethanien, in der Nähe Jerusalems. In Lukas 7,36, wo eine Sünderin den Herrn Jesus salbt, ist Jesus in Galiläa. Diese Begebenheit fand auch deutlich früher statt. In Lukas handelt es sich um den Pharisäer Simon, in Matthäus 26 um den (ehemals) aussätzigen Simon. Simon bedeutet „Erhörung, erhört“. Der Aussätzige ist in seinen Bitten erhört worden und konnte gereinigt werden. Der Pharisäer Simon dagegen trug offenbar einen Namen, der nicht seine Lebenswirklichkeit darstellte. Jedenfalls gleicht er den Jüngern, da auch er nicht wollte, dass der Herr eine solche Salbung bekam und annahm.

Um auf die Handlung an sich zu kommen, kann man Folgendes aus den beiden unterschiedlichen Begebenheiten lernen: In Matthäus 26 leitet die Liebe und das tiefe Gefühl für die Herrlichkeit Jesus eine Frau an, Christus zu salben. In Lukas 7 wird in dem Herzen einer Sünderin genau dasselbe bewirkt, da sie in der Gegenwart der göttlichen Gnade Jesu vollkommen zusammenbricht. Wir lernen daraus: Die Gnade und die Herrlichkeit des Herrn führen zu derselben Handlung. Sie unterscheiden sich im Beweggrund und Anlass und auch im Umfang der Tat. Denn nur bei Maria heißt es, dass es sich um ein sehr kostbares Salböl handelte.

Die Handlung der großen Sünderin ist das Ergebnis ihrer Dankbarkeit, die Tat Marias ist die Folge ihrer Anbetung. Die Sünderin hat den Reichtum der Gnade Gottes in Christus erfahren, Maria den Reichtum seiner Herrlichkeit. Die Sünderin handelt, weil die erfahrene Liebe ihr Herz erfüllte, Maria wird tätig, weil die Person des Sohnes Gottes ihr Herz erfüllt. Aber beide Handlungen gleichen sich in der Auswirkung. Die Wertschätzung an sich ist unterschiedlich, weil die Anbeterin, die den Herrn kannte, viel einsichtsvoller handeln kann. Aber die Liebe einer Seele, die soeben göttliche Gnade empfangen hatte, bringt sie zu derselben Handlung. Der Herr nimmt beides in vollkommener Wertschätzung an. Beide Personen haben einen besonderen Platz in dem Herzen dessen, der nun im Begriff stand, am Kreuz die Sühnung zu bewirken und die Vergebung der Sünden beider Frauen.

Wenn man die Berichte von Johannes, Markus und Matthäus miteinander vergleicht, scheinen sich folgende Schwerpunkte anzudeuten. Johannes zeigt uns besonders, was für eine Wirkung diese Hingabe Marias besaß: Das ganze Haus wurde von dem Geruch der Salbe erfüllt. Ihr Werk galt dem Herrn, aber es hatte gewaltige Auswirkungen. Darüber hinaus zeigt uns der Geist Gottes durch Johannes ein Bild der christlichen Anbetung in Geist und Wahrheit. Im Markusevangelium steht besonders der Umfang dessen vor uns, was Maria gegeben hat. Nur Markus sagt uns, dass sie das Fläschchen zerbrach, so dass es ganz für ihren Meister gegeben wurde. Es konnte danach nie wieder benutzt werden. Sie gab alles, was sie hier besaß. Matthäus scheint besonders die Gelegenheit zu betonen, die Maria ergriff. Das „während“ des Abendessens bei Markus ist eine Zeitangabe „im Vorübergehen“. Matthäus dagegen zeigt, dass Maria diese Tat genau in dem Augenblick vollbrachte, „als er zu Tisch lag“. Sie ergriff diese Gelegenheit, die sich ihr bot, auch wenn andere zugegen waren und sie abschätzig beurteilen konnten.

Die Unwilligkeit der Jünger über Maria

Mit dem achten Vers tritt eine Wende in dieser Begebenheit ein. Die Ursache dieses Wechsels in der Atmosphäre in Bethanien wird uns nicht von Matthäus, sondern von Johannes mitgeteilt (Joh 12,4): Das Herz von Judas war die Quelle dieser Kritik an Maria. Aber die übrigen Jünger fielen in diese Schlinge Satans, weil ihre Herzen nicht mit Christus beschäftigt waren. Das Böse war im Herzen von Judas. Es breitete sich aus, so dass „einige unwillig“ wurden (Mk 14,4). Am Ende lesen wir, dass „die Jünger“ sich alle eins mit diesem Widerstand gegen Maria machten (Mt 26,8). Wie traurig ist es, dass sich das Böse und die Opposition gegen die Hingabe für den Herrn so schnell ausbreiten kann – auch unter Gläubigen.

Es ist gerade das Zeugnis der Zuneigung und Hingabe an Jesus, das den Eigennutz und die Herzlosigkeit der Übrigen offenbart. Erkenntnis über Ihn, die auch bei den Jüngern vorhanden war, reicht nicht aus, um auch Zuneigungen des Herzens zu erwecken. Dazu muss Christus zu dem alleinigen Gegenstand des Herzens werden, wie wir es bei dieser einen Frau gesehen haben.

Wir sehen somit, wie eine verderbte Seele andere beschmutzen kann, die unvergleichlich besser sind als sie. Die ganze Jüngerschar um den Herrn herum wurde für einen Augenblick durch das Gift, das einer verspritzte, beeinflusst. Was für Herzen haben wir – selbst zu einer solchen Zeit und angesichts einer solchen Liebe! Das hat sich bis heute nicht geändert. Ein böses Auge kann sehr schnell seine boshaften Empfindungen mitteilen, wodurch viele verunreinigt werden. Zwar war die Bosheit und Geldliebe von Judas die eigentliche Ursache und Anstiftung. Doch in den übrigen Jüngern war ebenfalls etwas vorhanden, was sie für eine ähnliche Selbstsucht auf Kosten Jesu empfänglich machte. Das ist unser verdorbenes, unverbesserliches Fleisch, das solche Giftpfeile gerne aufnimmt. Im Unterschied zu Judas gestatteten die Jünger Satan jedoch nicht, in ihre Herzen einzutreten. Sie waren Gläubige. Wir dürfen jedoch nicht übersehen, wie oft sich Satan einen geistlichen Anstrich gibt. Er sprich (durch Menschen) von der Sorge um die Lehre oder wie hier von der Sorge für die Armen, als ob es ihm darum ginge. Sein einziges Bestreben ist es, Christus die Ehre und Anbetung zu rauben. Zu diesem Zweck kann er sogar das an sich gute Verlangen benutzen, das Evangelium zu verkündigen. Letztlich wirft er sich nichts anderes als ein frommes Mäntelchen um, hinter dem er seinen Hass gegen Christus zu verbergen sucht. Dabei hat er immer den einen Plan: Christus zu schaden.

Wie leicht ist es also für elf gute Menschen, durch einen schlechten Menschen in die Irre geführt zu werden. So verstanden selbst diejenigen, die dreieinhalb Jahre mit Jesus gearbeitet und gelebt hatten, nichts von den Empfindungen Marias für ihren Meister. Es gibt nichts Gutes in einem Gläubigen, wenn Christus nicht der Gegenstand vor seinem Herzen bleibt, der ihn kontrolliert und antreibt. Daher waren die Jünger weit von der Gemeinschaft entfernt, die zwischen dem Herrn Jesus und Maria bestand. Sie ließen sich durch den Sohn des Verderbens dazu hinreißen, den Armen der Welt mehr Wert beizumessen als ihrem Retter. Wie wird durch diese Verse bestätigt, dass die Liebe zu Christus der einzig richtige Weg zu wahrem geistlichen Verständnis ist.

Wie muss diese fleischliche Einschätzung das Herz Jesu verletzt haben, wie auch das der Maria. Sie schweigt, weil sich Empfindungen und Zuneigungen nicht durch Argumente verteidigen lassen. Entweder ist Christus der einzige Antrieb – dann versteht man ein solches Tun. Oder Er ist es nicht. Dann helfen auch keine Argumente weiter.

Maria verteidigt sich daher nicht. Hätte sie einen besseren Verteidiger haben können als ihren Meister? Er lässt nicht zu, dass die Kritik an ihr, sie sei unsozial und ungeistlich, unbeantwortet im Raum stehenbleibt. Er verdeutlicht, was in seinen und den Augen Gottes wahren Wert besitzt. In den Gedanken der Jünger wäre es keine Verschwendung gewesen, wenn das ganze Geld für die Welt ausgegeben worden wäre. Für sie war es Verschwendung, alles für Christus zu geben. Diese Gesinnung entlarvt übrigens auch Salomo einmal (Hld 8,7). Sie steht aber im Widerspruch zu den göttlichen Gedanken. Waren die Jünger nicht dabei gewesen, als der Vater mehrfach verkündet hat, dass Christus und Er allein der geliebte Sohn Gottes ist? Hatten sie nicht erlebt, dass die Nöte der Welt allein durch Ihn beseitigt werden konnten? War Er nicht immer wieder auf Arme zugegangen, um sie zu retten? Der Herr hat überhaupt nichts dagegen einzuwenden, die Bedürfnisse von Armen zu stillen. Aber es gab etwas, was jetzt viel wichtiger und wertvoller war.

Der Herr bestätigt ausdrücklich, dass Maria ein „gutes Werk“ getan hat. Die Jünger hätten dieses Werk gerne verhindert. So erkennen wir, dass es – heute wie damals – eine „Zwei-Klassengesellschaft“ unter Jüngern gibt: Auf der einen Seite stehen die hingebungsvollen, oft unverstandenen Jünger, deren Herz allein auf den Herrn und seine Wünsche ausgerichtet ist. Sie vergessen die Armen nicht! Aber Christus hat den ersten Platz in ihren Herzen. Auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die sehr sozial sowie rational und einsichtig scheinen, die aber letztlich in erster Linie an sich selbst denken. Sie sprechen von den Armen, aber im Grunde genommen suchen sie sich und ihren Dienst, vielleicht sogar ihre eigene Ehre.

Die Bedeutung, die Jesus der Tat Marias beimisst

Maria war bei weitem nicht über die vielen Einzelheiten informiert, die in den folgenden Tagen und Stunden für den Herrn Jesus Wirklichkeit werden sollten. Sie war auch keine Prophetin. Aber sie hatte ein instinktives Verständnis dessen, was kommen würde. Sie spürte, dass die Feindschaft, von der auch Thomas und die Jünger gesprochen hatten (Joh 11,8.16), jetzt ihrem Höhepunkt entgegenging. Aber sie hatte andere Schlüsse daraus gezogen als Thomas und die Jünger.

Sie hatte es nicht einmal für sein Werk, sondern allein für Ihn getan. Maria besaß diese eine, letzte Möglichkeit, den Herrn zu salben. Sie nutzte diese. Der Herr sieht ihre Tat an, als habe sie Ihn zum Begräbnis gesalbt. Dieser Tod stand jetzt vor Ihm – und nichts konnte Ihn davon abbringen, dieses Werk zu vollbringen. Wir haben gesehen, dass die Zeit des Zeugnisablegens und der Erklärungen vorbei war. Daher war sein Herz frei, die Zuneigungen anzunehmen, die Ihm in Liebe und Dankbarkeit gegeben wurden. Sein Herz und seine Gedanken waren auf das Werk gerichtet, das Er tun wollte. Solange Er seine Macht zum Wohl der Ihn umgebenden Menschen ausübte, ging es nur um die anderen. Jetzt aber, wo Er als das Lamm zur Schlachtbank geführt wurde, öffnete Er sich für diejenige, die Ihm Anbetung bringen wollte, und nahm diese an.

Die Predigt des Evangeliums in der ganzen Welt

Die Handlung Marias ist in der wunderbaren Geschichte des Lebens Jesu hier auf der Erde einzigartig. Denn man muss in Betracht ziehen, in was für einem Augenblick und in was für einer Liebe sie es tat. Das empfand der Herr, so dass Er seinen Jüngern und damit auch uns sagt: „Wahrlich, ich sage euch: Wo irgend dieses Evangelium gepredigt werden wird in der ganzen Welt, wird auch davon geredet werden, was diese getan hat, zu ihrem Gedächtnis.“ Er unterstreicht ein göttliches Prinzip: „Die mich ehren, werde ich ehren, und die mich verachten, werden gering geachtet werden“ (1. Sam 2,30).

Es ist in den Augen des Herrn angemessen, dass zu allen Zeiten berichtet wird, dass ein Herz Ihn so wertschätzte, als sich die ganze Welt gegen Ihn zusammenrottete und sogar die Jünger seine Empfindungen nicht verstanden! Das unterstreicht den Wert, den Er dieser Hingabe beimaß. Nicht, dass wir sagen könnten, dass in den Jüngern in diesem Augenblick Unaufrichtigkeit war. Es war schlicht Herzensarmut. Es war das menschliche Herz, das nicht tiefer schauen kann, als wozu Klugheit und Menschenverstand in der Lage sind.

Man fragt sich nun, warum gerade diese Handlung mit der Verkündigung des Evangeliums verbunden wird. Dazu müssen wir noch einmal bedenken, dass weder Matthäus noch Markus den Namen Marias erwähnen. Matthäus war dabei gewesen und hätte diesen Namen sofort nennen können. Aber er bekam diesen Auftrag nicht. Nicht Maria als Person steht im Vordergrund, wenn das Evangelium verkündigt wird, sondern das, was sie getan hat. Aber es wird zu ihrem Gedächtnis berichtet.

Sollen wir durch diesen Vers nicht lernen, dass es viel zu wenig wäre, das Ziel der Verkündigung des Evangeliums in der Rettung verlorener Menschen zu sehen? Natürlich möchte Gott durch den Herrn Jesus Menschen retten. Deshalb lässt Er bis heute sein Evangelium der Herrlichkeit verkündigen. Aber Er erwartet viel mehr. Er will, dass die Annahme des Evangeliums dazu führt, dass Menschen zu Anbetern des Vaters und des Herrn Jesus werden. Er möchte, dass die Annahme des Evangeliums Menschen anregt, ihr Leben mit allem, was sie besitzen, dem Herrn Jesus zur Verfügung zu stellen. Die Annahme des Evangeliums führt zu Konsequenzen im Leben dieser Erlösten: Sie leben von nun an für ihren Meister, sie dienen Ihm, sie geben sich Ihm hin. Genau das hat Maria getan. Und deshalb wird ihre Tat ein Gedächtnis bleiben, wo irgend dieses Evangelium Gottes gepredigt wird.

Das zeigt uns, dass es nicht damit getan ist, Menschen zuzurufen, dass sie sich bekehren müssen. Das ist nur der Anfang. Und das „ganze Evangelium“ umfasst weit mehr. Bei der Verkündigung „dieses“ Evangeliums, des biblischen, sollen wir auch die Konsequenzen für das Leben eines Christen auf der Erde vorstellen. Dabei bedenken wir, dass das Evangelium zum Beispiel im Römerbrief weitaus mehr beinhaltet als nur die Botschaft an den Sünder. Der „biblische“ Evangelist verkündigt diese gute Botschaft auch Gläubigen, wie Paulus das getan hat. Das Leben des bekehrten Menschen gehört nun einem anderen, dem er mit Freude und Hingabe dient: Christus, seinem Herrn und Meister. Es wäre ein verkürztes Evangelium, wenn wir auf diesen Teil der Botschaft verzichteten.

Schlussfolgerungen

Wir wollen für uns daraus lernen, die Augen in allem direkt auf den Herrn zu richten. Nicht das Lob von anderen ist wichtig, sondern die Hingabe für Ihn. Was andere sagen mögen, ist nicht entscheidend. Wichtig ist, was Er sagt. Heute gibt es auch unter Christen viele philanthropische menschliche Anstrengungen. Da mögen unsere Werke, wie auch immer sie aussehen, von Menschen und selbst von Gläubigen nicht besonders geachtet werden. Was aber zählt, ist die Anerkennung unseres Retters und Meisters. Daher müssen unsere Werke die Frucht der Wertschätzung des einen, abwesenden, verachteten und gekreuzigten Herrn sein! Viele Monumente wurden auf dieser Erde schon zum Gedächtnis herausragender Leistungen und Menschen aufgestellt. Eines bleibt in Ewigkeit stehen: das dieser Frau! Sie hatte zu den Füßen des Herrn gelernt. Wenn wir ihr gleichen wollen, müssen auch wir uns zu seinen Füßen aufhalten. Dann werden auch unsere Herzen für Ihn erwärmt.

Noch einmal: Das heißt nicht, dass die Gläubigen die Armen vergessen sollen (Gal 2,10). Aber die beständige Anbetung (Hld 1,3; Heb 13,15) hat Vorrang. Das Salböl selbst spricht von der Hingabe des Herrn. Die zerbrochene Flasche und das ausgegossene Salböl sind Symbole seiner Hingabe bis in den Tod. Wir werden – wie vermutlich auch Maria – oftmals vielleicht nur ein wenig von dem wahren Wert dieser Hingabe verstehen. Aber das, was wir erkennen dürfen, darf uns antreiben, alles für Christus zu tun und vor allem, vor Ihm anbetend niederzufallen.

Verse 14–19: Die Vorbereitung des Verrats Jesu und das Zubereiten des Passah

Dann ging einer der Zwölf, der Judas Iskariot hieß, zu den Hohenpriestern und sprach: Was wollt ihr mir geben, und ich werde ihn euch überliefern? Sie aber setzten ihm dreißig Silberstücke fest. Und von da an suchte er eine Gelegenheit, ihn zu überliefern“ (Verse 14–16).

Wir hatten bereits den scharfen Gegensatz zwischen dem Hass der Feinde Jesu (Verse 3–5) und der tiefen Liebe von Maria (Verse 6–13) gesehen. Nun wird die Hingabe Marias dem treulosen Verrat von Judas gegenübergestellt. Eine erste Antwort im Herzen von Judas hatten wir bereits in der Begebenheit der Salbung des Herrn gesehen, auch wenn Matthäus sie nicht direkt nennt. Jetzt aber erkennen wir, was vielleicht die Hingabe Marias in seinem Herzen bewirkt hat. Jedenfalls wird uns hier dieser Gegensatz vor Augen gemalt. Judas wurde zum Werkzeug der Bosheit der Obersten des Volkes. Beide befanden sich in den Händen Satans. Aber auch Satan kann alles nur der Absicht Gottes entsprechend einrichten. Denn über allem steht Gott, dessen Ratschluss selbst Satan erfüllen muss.

Die Gewalttätigkeit erreichte ihren Gipfel in den Führern – sie wollten Christus ohne irgendwelche Bedenken und möglichst sofort umbringen. Die Verdorbenheit erreichte ihren Gipfelpunkt in Judas, der drei Jahre lang seinen Herrn begleitet hatte. Er konnte viele Male sehen und erleben, wie der Herr für andere da war und sich um ihre Bedürfnisse kümmerte. Judas hatte Wunder um Wunder erlebt. Und jetzt hoffte er, seine Kenntnis durch einen Verrat dazu benutzen zu können, einen schäbigen Gewinn von 30 Silberlingen einzustreichen. Für Maria war es nicht zu schade, ihrem Meister ein Opfer im Wert von 300 Denaren zu widmen, für Judas war Christus der Preis eines israelitischen Knechtes wert: Das waren 30 Silbersekel (2. Mo 21,32).

Vielleicht war es die Handlung Marias, die das zeitliche Gefüge der Hohenpriester auseinanderbrachte. Sie wollten Christus erst nach dem Fest umbringen. Aber vermutlich durch die Hingabe Marias angestachelt machte sich Judas schnell auf, um sein Werk zu verrichten. Wir können nicht mit Bestimmtheit sagen, wann Judas sich aufmachte, um mit den Hohenpriestern über den Verrat zu verhandeln. Das „dann“ in Vers 14 hinterlässt jedoch den Eindruck, dass er es in Verbindung mit dieser Hingabe Marias tat. In moralischer Hinsicht war „Bethanien“ jedenfalls in den Augen Gottes der Anlass für Judas, sich um den Verrat seines Meisters gegen eine Geldleistung zu bemühen. Vielleicht ist auch das ein Grund dafür, dass der Heilige Geist den Bericht über diese Tat Marias außerhalb der eigentlichen Chronologie gibt.

Satans List und Absicht

Weil es in dieser Szene der Hingabe Marias um einen hohen Geldbetrag ging, war dies vielleicht für Judas ein Anlass, den Herrn zu verraten. Dadurch erhoffte er sich wenigstens einen kleinen Gewinn, denn sein Herz war ja von Geldliebe geprägt. Als Wurzel alles Bösen trieb sie ihn jetzt zu dieser größten Schlechtigkeit an. Er hatte (noch) keine Gewissensbisse, aus Geldgier sogar seinen Meister an die Feinde zu überliefern.

Seine zur Schau getragene Liebe zu den Armen war geheuchelt. Die Liebe zum Geld prägte sein Leben. Das zeigt uns, wohin auch ein Christ kommen kann, wenn er bei sich böse Neigungen duldet. Nur dann, wenn wir sie im Licht Gottes richten, um von ihnen befreit zu werden, werden wir vor einem bösen Weg bewahrt (vgl. 1. Tim 6,10). Früher oder später kommt man sonst unter die Macht dieser geduldeten Neigung: „Wovon jemand überwältigt ist, diesem ist er auch als Sklave unterworfen“ (2. Pet 2,19).

Judas wurde dadurch sogar zu einem Spielzeug Satans (Lk 22,3). Nachdem dieser es ihm ins Herz gegeben hatte (Joh 13,2), fuhr er sogar in Judas, damit er seinen bösen Plan ausführen würde. So geht Satan bei allen Verbreche(r)n vor. Immer wieder bestätigt sich später: Weder der Teufel noch diejenigen, die Satan sonst noch zur Ausführung seiner Absichten gebraucht, werden mit ihrem Opfer Mitleid haben, wenn sie dessen Verzweiflung sehen. Satan versucht mit furchtbarer Rücksichtslosigkeit, seine eigenen Interessen zu vertreten, koste es bei Menschen, was es wolle. Das hat sich auch bei Judas bewahrheitet (vgl. Mt 27,3-6).

Judas Iskariot

Interessanterweise finden wir bei allen drei Synoptikern an dieser Stelle den vollen Name von Judas: Judas Iskariot.

  • Manche denken, dass dies heißt: der Mann (hebräisch ish) von Kerioth. Dann wäre Judas der einzige unter den Jüngern gewesen, der nicht aus Galiläa kam (vgl. Apg 2,7). Denn Kerioth liegt in Judäa.
  • Andere denken, dass dieser Name denselben Wortstamm wie Issaschar hat. Dann wäre er möglicherweise ein Jünger aus diesem Stamm gewesen und käme doch aus Galiläa. Der Name Issaschar hat die bemerkenswerte Bedeutung: „Er bringt Lohn“. Und was für einen Lohn ...
  • Schließlich ist in dem Namen Issaschar der Ausdruck „Shacar“ enthalten, wovon sich das Wort „eshkar“ (Zahlung, Tribut, Abgabe, Hes 27,15) ableitet. Das hat eine ähnliche Bedeutung wie Issaschar. Iskarioth kann deshalb auch Kaufmann bedeuten. Das wäre dann zugleich ein Hinweis auf das furchtbare Verbrechen, das Judas begangen hat. Gerade in der Stunde, in der er sich dem Teufel verkaufte, hören wir diesen Namen.

Wir bleiben für einen Augenblick bei der ersten und wohl wahrscheinlichsten Bedeutung des Namens stehen. Dann steht die Herkunft von Judas symbolhaft für die Ablehnung Jesu als König durch die Juden in Judäa. Die Juden aus diesem Gebiet verachteten, wie schon das Ende von Kapitel 2 deutlich macht, die Juden, die in Galiläa wohnten. Dort war der Herr als Licht erschienen, verachtet von den Juden um Jerusalem herum (vgl. Jes 9,1). Ganz zum Schluss kommt nun der einzige Judäer aus der Jüngerschaft, um dem Herrn sozusagen den Todesstoß zu geben.

Damit wird Judas, der vom Herrn in Johannes 17,12 „Sohn des Verderbens“ genannt wird, zugleich ein Vorbild des „Menschen der Sünde“, dem künftigen Antichrist. Auch dieser wird „Sohn des Verderbens“ genannt (2. Thes 2,3). In ihm wird die Ablehnung des Herrn ihren zweiten Höhepunkt finden. Auch dieser Mensch wird ein Jude sein, denn er wird sich zum König über Israel aufschwingen. Da nur Juden für das Königtum in Jerusalem in Frage kommen, muss dieser falsche Prophet aus diesem Stamm kommen.

Satans Kampf gegen den Herrn

Johannes zeigt uns, dass Satan, der nichts in Christus fand (Joh 14,30), es spätestens in dieser Situation auf Judas abgesehen hatte. In ihm fand er einen willfährigen Partner, in den er fahren konnte. Er nahm Besitz von diesem Menschen, wie er es später bei dem Antichristen tun wird (vgl. Off 13,11). Judas hat nie innerlich an den Herrn Jesus geglaubt. Im Gegenteil: Er hat Christus von Anfang an abgelehnt, ohne es öffentlich zu zeigen. Er wollte niemand als Autorität über sich akzeptieren. Der Herr Jesus wusste das von Anfang an. Und dennoch hat Er ihn als einen seiner Jünger ausgewählt. Er hat ihn sogar mit einer ganz besonderen Bevorzugung behandelt. Denken wir nur daran, dass Er ihn als Kassenwart der Jünger anerkannte und ertrug. Die Liebe des Herrn zu Judas unterschied sich nicht von der zu den anderen Jüngern. Nur dass sie bei Judas keine Antwort, keinen Widerhall fand.

Dass der Herr von Anfang an alles wusste, wird uns nur in Johannes gezeigt, wo Er als der Sohn Gottes vor uns kommt (vgl. Joh 6,64.70; 13,11). Aber auch das Alte Testament hat von Judas bereits geweissagt. Das können wir heute rückblickend sagen. Damals konnte das keiner ahnen. Stellen wie zum Beispiel Sacharja 11,12.13; Psalm 41,10; 55,13-15; 109,6-19 zeigen das deutlich.

Die Handlung von Judas – die Weissagung Sacharjas

Wenn man darüber nachdenkt, was Judas hier getan hat, muss uns innerlich regelrecht übel werden. Über drei Jahre ist er mit dem Herrn Jesus zusammen gewesen. Wie viel Liebe ist ihm erwiesen worden, wie viele Worte der Zuwendung und Hilfe. Kein einziges Mal ist er von dem Herrn Jesus in falscher Weise oder unberechtigt getadelt worden. Immer wieder hat der Meister seine segnenden Hände auch für Judas ausgestreckt. Er hat ihm dieselbe Kraft wie den anderen Jüngern gegeben, Wunder zu vollbringen und Dämonen auszutreiben. Doch es hat alles keine Wirkung im Herzen des Verräters bewirkt.

Judas schließt einen Bund mit dem Tod und einen Vertrag mit der Hölle, wie ein Schreiber sich ausdrückt (William Kelly). Das tut er für einen Preis, der eines Menschen in Israel unwürdig war. Es war der Preis eines Sklaven. Wenn der Wert des Herrn in den Augen Marias unaussprechlich groß war, was war der Wert des Herrn in den Augen von Judas? Und noch schlimmer: Was war er in denen der jüdischen Führer, der Hohenpriester? Der Preis eines Sklaven (vgl. 2. Mo 21,32)! Der Hohepriester war der von Gott eingesetzte Vertreter hier auf der Erde. Er repräsentierte das Volk vor Gott und Gott vor dem Volk. Aber den Sohn Gottes, den Messias Gottes und den Propheten Gottes lassen sie ermorden – und das für einen Sklavenpreis. Man kann diese 30 Silberstücke nicht leicht in die heutige Währung umrechnen. Manche sprechen von umgerechnet 300 Euro, andere von rund 1.500 Euro. Es war jedenfalls ein geringer, ja ein verächtlicher Preis für einen Menschen.

Sacharja hat davon gesprochen: „Und ich sprach zu ihnen: Wenn es gut ist in euren Augen, so gebt mir meinen Lohn, wenn aber nicht, so lasst es; und sie wogen meinen Lohn ab: dreißig Sekel Silber. Da sprach der Herr zu mir: Wirf ihn dem Töpfer hin, den herrlichen Preis, dessen ich von ihnen wertgeachtet bin! Und ich nahm die dreißig Sekel Silber und warf sie in das Haus des Herrn, dem Töpfer hin“ (Sach 11,12.13). Gott spricht hier mit einer heiligen Ironie. War der Preis eines Sklaven ein „herrlicher“ Preis? Er stellte eine Unverschämtheit, eine unvergleichliche Bosheit dar! Ganz abgesehen von der Gottlosigkeit, die in dieser Handlung offenbar wurde.

Aus Sicht von Judas waren 300 Denare (Joh 12,5) zu viel, um sie an Jesus zu „verschwenden“. Nach seiner Wertschätzung war Jesus nicht mehr als 30 Silberlinge wert. Für diese Summe war er bereit, seinen Meister zu verkaufen! Und doch verkaufte er in erster Linie sich selbst und seine eigene Seele (vgl. Mt 16,26). Was für einem Irrtum unterlag dieser Mann!

Das Zubereiten des Passah (Verse 17–19)

Am ersten Tag der ungesäuerten Brote aber traten die Jünger zu Jesus und sprachen: Wo willst du, dass wir dir bereiten, das Passah zu essen? Er aber sprach: Geht in die Stadt zu dem und dem und sprecht zu ihm: Der Lehrer sagt: Meine Zeit ist nahe; bei dir halte ich das Passah mit meinen Jüngern. Und die Jünger taten, wie Jesus ihnen befohlen hatte, und bereiteten das Passah. (Verse 17–19).

In den nun folgenden Versen zeigt uns der Evangelist, mit was für einer Sorge und Fürsorge der Herr für seine Jünger tätig war. Er schenkte ihnen ein letztes Mahl, bevor Er in den Tod gehen würde. Zudem benutzt Er die Gelegenheit des Passahmahls dazu, den Verräter Judas zu offenbaren. Danach führt Er in Verbindung mit der Passahmahlzeit das Gedächtnismahl ein.

Das Fest der ungesäuerten Brote

Die Jünger haben ihren Meister oft nicht verstanden. Das wird in Verbindung mit dem Kreuz noch einmal deutlich. Aber wir dürfen nicht übersehen, dass die Elfe ihrem Herrn zugetan waren und Ihm von Herzen gehorsam sein wollten. So lesen wir in Vers 17, dass sie, sicherlich der Gewohnheit nach, den Herrn Jesus danach fragen, wo sie Ihm das Passah bereiten sollten. Matthäus spricht hier vom ersten Tag der ungesäuerten Brote. Damit wird deutlich, dass das Passahfest mit dem Fest der ungesäuerten Brote (vgl. 3. Mo 23,4-8) verbunden wurde. Entsprechend schreibt Lukas in Kapitel 22,1: „Es kam aber das Fest der ungesäuerten Brote näher, das Passah genannt wird“.

Während Lukas das den aus dem Heidentum stammenden Christen erklären musste, brauchte sich Matthäus darüber nicht weiter auszulassen. Die aus dem Judentum stammenden Empfänger seines Evangeliums waren mit diesem Brauch natürlich vertraut. Wir müssen somit davon ausgehen, dass in der damaligen Zeit auch der Tag des Passahfestes, also der 14. Tag des Monats Abib, schon als Tag der ungesäuerten Brote gerechnet wurde. Das war nichts Neues. Schon in 5. Mose 16,16 (vgl. Vers 5) werden die beiden Feste miteinander verbunden und unter der Überschrift des Festes der ungesäuerten Brote zusammengefasst. So finden wir es später immer wieder (vgl. z.B. 2. Chr 30,13.15), auch wenn dieses Fest nach der Vorschrift in 3. Mose 23 eigentlich erst am Tag nach dem Passah begann.

Wir müssen davon ausgehen, dass die Jünger sich immer noch nicht bewusst waren, dass der Tod des Herrn unmittelbar bevorstand. Daher fragen sie Ihn wie vermutlich in den vorhergehenden Jahren, wo sie das Passah bereiten sollen. Aber sie wollten es „dir“, Ihm selbst, bereiten. Dieses Wort ist zu Herzen gehend. Ihnen war klar, dass es nicht um ihr eigenes Passahfest ging. Sie wollten dem Herrn dieses Mahl zubereiten. Ihm, der sich als das wahre Passahlamm, als das Lamm Gottes, kurze Zeit später darstellen sollte.

Er lässt nun seine Jünger in seiner göttlichen Allwissenheit und Autorität als Meister einen Ort finden, wo Er mit ihnen sein letztes Mahl einnehmen konnte. Was für Gedanken mochten in diesen Augenblicken auf sein menschliches Herz eindringen, das gleichzeitig in göttlicher Weise alles wusste: den Tod, den Verrat, die Verleugnung von Petrus, den Hass seines geliebten Volkes ... Zugleich erkennen wir in Verbindung mit diesem Abendessen, was für eine Liebe in seinem vollkommenen Herzen zugunsten der Seinen wirkte.

Die Zubereitung des Passah

Matthäus berichtet uns im Unterschied zu Markus nur wenig über die Anweisungen des Herrn zur Bereitung des Passahfestes. Der König hat alles unter seiner vollkommenen Kontrolle. Wir bedenken dabei: Der Passahtag begann nach jüdischer Zeitrechnung bereits am Vorabend des eigentlichen Tages, also am Donnerstag um 18 Uhr. Da aß Jesus mit seinen Jüngern das Passah. Am nächsten Morgen um 9 Uhr hing Er bereits am Kreuz, gerade einmal 15 Stunden später.

Die kurzen Anweisungen des Herrn, die von den Jüngern gehorsam ausgeführt werden, sind beeindruckend. Alles muss bereitet werden nach seinen Vorstellungen. Wir wissen nicht, ob es ein vielleicht verborgener Jünger war, der sein Gastzimmer zur Verfügung stellte. Jedenfalls bewirkt der Herr im Herzen eines bestimmten Menschen, dass dieser ein Zimmer für das letzte Passah des Herrn mit seinen Jüngern zur Verfügung stellt. Dass die Schrift seinen Namen nicht nennt, könnte ein Hinweis darauf sein, dass er eine symbolische Bedeutung hat. So steht er für alle, die dem Herrn aufmachen, damit Er bei ihnen wohnen und sein Mahl begehen kann.

Der Herr Jesus fügt dabei den eigentümlichen Satz an: „Meine Zeit ist nahe.“ Öfter schon hatten die Juden versucht, dem Herrn sein Leben zu nehmen. Das war ihnen nicht geglückt, denn seine Stunde war noch nicht gekommen. Jetzt aber war die von Gott vorgesehene Zeit nahe, in welcher der König sein Leben niederlegen sollte. Der Herr kündigt das sozusagen noch einmal an. Hätten die Jünger Ihm sorgfältig zugehört, hätten sie mehr von dem verstanden, was Ihn bewegte. Und von dem, was Ihm und ihnen bevorstand.

Es ist auch schön zu sehen, dass der Herr das Passah nicht alleine essen wollte: „Bei dir halte ich das Passah mit meinen Jüngern.“ Auch wenn sie Ihn oftmals und bis zum Schluss nicht richtig verstanden, so liebte Er sie doch und genoss die Gemeinschaft mit ihnen. Es war für Ihn eine Erfrischung, auch und gerade so kurz vor seinem Tod.

Verse 20–30: Die Entlarvung von Judas beim Abendessen und die Hingabe Christi

Als es aber Abend geworden war, legte er sich mit den Zwölfen zu Tisch. Und während sie aßen, sprach er: Wahrlich, ich sage euch: Einer von euch wird mich überliefern. Und sie wurden sehr betrübt und fingen an, ein jeder zu ihm zu sagen: Ich bin es doch nicht, Herr? Er aber antwortete und sprach: Der mit mir die Hand in die Schüssel eintaucht, der wird mich überliefern. Der Sohn des Menschen geht zwar dahin, wie über ihn geschrieben steht; wehe aber jenem Menschen, durch den der Sohn des Menschen überliefert wird! Es wäre besser für jenen Menschen, wenn er nicht geboren wäre. Judas aber, der ihn überlieferte, antwortete und sprach: Ich bin es doch nicht, Rabbi? Er spricht zu ihm: Du hast es gesagt (Verse 20–25).

Wir sehen den Kontrast zweier nicht vergleichbarer Personen: der treulose Verräter Judas steht Jesus Christus gegenüber, der bereit war, sein Leben für seine Jünger in den Tod zu geben. Sein Blut würde für viele vergossen werden zur Vergebung der Sünden. Zugleich ist Judas derjenige, der das Blut Jesu vergoss, weil er für dessen Tod verantwortlich war.

Judas ahnte noch nicht, dass der vereinbarte Verratspreis von 30 Silberstücken nur sein Gewissen verbrennen würde. Dass er Denjenigen verriet, den er so gut kannte, ging an seinem Gewissen nicht spurlos vorüber. Aber weil er keine Buße tat, war und blieb er der Sohn des Verderbens. Dieses Herz des Sohnes des Verderbens musste auch den übrigen Jüngern offenbart werden. Es war ein Herz, das sich inzwischen unter der direkten Führung und der verhärtenden Macht Satans befand.

Das lange Zusammensein mit dem Herrn hatte Judas nicht verändert. Die ganze Zeit schon war sein Inneres durch Bosheit geprägt. Auch wenn die Jünger das nicht gemerkt hatten, war er ein solcher Ungöttlicher, auch in seinen Wegen. Diese Heimtücke wurde jetzt jedoch, kurz vor dem Kreuz Christi, in einem extremen Maß sichtbar. Christus offenbarte somit, dass dieser Verräter außerdem ein Heuchler war. Wir können wohl davon ausgehen, dass Judas vermutete, der Herr würde – wie bislang immer – davonkommen. Aber er hatte nicht verstanden, dass die Stunde des Herrn jetzt gekommen war.

Lukas sagt uns, dass es nicht nur seine Stunde, sondern auch die Stunde des Menschen und die Gewalt der Finsternis war. Bei dem Abendessen verdeutlichte der Herr, der Sohn des Menschen (Vers 24), Judas jetzt in einem letzten Appell, dass er nicht nur Christus verkauft hat. Das war furchtbar genug. Aber er hat auch sich selbst, seine eigene Seele, verkauft. Und das bedeutete für ihn, in die ewige Finsternis einzugehen.

Der Abend vor der Kreuzigung

Der Abend kam, der letzte im Leben Jesu vor seinem Tod. Er legte sich, wie es damals üblich war, mit seinen Jüngern zu Tisch. Von dem eigentlichen Essen berichtet Matthäus kaum etwas. Er spricht jetzt vor allem davon, wie der Herr den Jüngern offenbarte, dass einer von ihnen zu seinem Überlieferer würde.

Während des Essens sagt der Herr mit der Bestimmtheit des „Amen“, des „wahrlich“: „Einer von euch wird mich überliefern“. Der Herr drückt hier nicht seine Kenntnis des Verräters aus. Er kannte Judas natürlich von Anfang an als den kommenden Verräter, schon als Er ihn berief. Aber das ist mehr das Thema von Johannes. Er nennt hier noch nicht einmal den Namen. Hier beschränkt sich der Herr darauf, die Tatsache als solche anzukündigen, dass einer von ihnen sein Überlieferer sein würde. Das war es, was sein Herz bewegte: „einer von euch.“ Und Er wünschte, dass auch das Herz seiner Jünger davon bewegt würde.

Dass der Sohn des Menschen durch Verrat zu Tode gebracht werden würde, war in den Schriften vorausgesagt worden. Das aber mindert nicht im geringsten die Schwere der Handlungsweise des Verräters. In diesem Akt enthüllte Judas sein wahres Ich in seiner ganzen Bosheit. Jesus wiederum schickte sich an, sich durch seinen Tod in seiner göttlichen Liebe vollständig zu offenbaren.

Vorher aber wollte der Herr seinen Jüngern bewusstmachen, wie schmerzlich der Gedanke für Ihn war, dass einer von ihnen sein Verräter war. Gerade einer von denen, die dreieinhalb Jahre bei Ihm waren, würde Ihn treulos verraten, ein Freund, ein Genosse. „Denn nicht ein Feind ist es, der mich höhnt, sonst würde ich es ertragen; nicht mein Hasser ist es, der gegen mich großgetan hat, sonst würde ich mich vor ihm verbergen; sondern du, ein Mensch wie ich, mein Freund und mein Vertrauter, die wir vertrauten Umgang miteinander pflegten, ins Haus Gottes gingen mit der Menge“ (Ps 55,13-15). Diese Verse, die David im Blick auf den Verrat seines Ratgebers und Freundes Ahitophel dichtete (vgl. 2. Sam 15,12.31), finden ihre wahre Erfüllung in Judas.

In dieser Ankündigung liegt zugleich eine letzte Warnung für Judas. Der Herr hatte „gesehen“, wie er sich an die Hohenpriester gewandt hatte. Er kannte seinen Handel mit ihnen. Er las die ganze dunkle Geschichte in seinem Herzen. Denn Er war der Allwissende, alles war vor Ihm wie ein aufgeschlagenes Buch. „Einer von euch wird mich überliefern.“ Hat dieses Wort das Herz und Gewissen von Judas erreicht? Zeigte auch er Überraschung? Wurde sein Gesicht rot oder bleich, als er seine innersten Gedanken offenbart sah?

Der Herr wollte, dass jeder Jünger ganz persönlich sein Herz und Gewissen prüfte, ob er in der Lage wäre, eine solche Tat zu begehen. Die Jünger sind dadurch sehr betroffen. Es ist schön zu sehen, dass sie betrübt waren, nicht jedoch böse auf denjenigen, der das tun würde. Sie offenbaren ein gesundes Misstrauen gegenüber sich selbst. Jeder von ihnen fragt: „Ich bin es doch nicht, Herr?“ Sie trauen sich tatsächlich eine solch böse Tat zu. Darin sind sie uns ein Beispiel, die wir oft so hoch und gut von uns denken.

Mit Ausnahme von Judas waren die Jünger vom Gedanken an eine solche Sache weit entfernt. Sie sind so überrascht und konsterniert, dass sie sich an die Allwissenheit des Herrn wenden, um zu erfahren, wer es sein könnte. Diese Reaktion zeigt, dass sie wirklich unschuldig waren. Aber sie zeigen damit auch, dass sie die Worte ihres Meisters sehr ernst nehmen und für wahr halten.

Judas, der Verräter

Matthäus berichtet uns an dieser Stelle nur einige Tatsachen, während Johannes deutlich ausführlicher ist. Der Herr bezeugt, dass derjenige, der mit Ihm die Hand in die Schüssel eintaucht, der Verräter sei. Aus Johannes 13,26 wissen wir sogar, dass Er Judas diesen Bissen reichte. Judas besaß als Kassenwart eine besondere Vertrauensfunktion, die seinen Verrat nur noch verwerflicher machte. Doch selbst dieser letzte Beweis der Liebe des Herrn, nämlich dass Er ihm den Bissen gab (eine besondere Ehrerweisung), konnte Judas nicht von seinem schrecklichen Plan abbringen. Aber nicht einmal das berichtet Matthäus. Ihm geht es nicht um die Handlung, sondern um den Gegensatz zwischen dem Verräter, dem Sohn des Verderbens, und dem Erretter, dem Sohn des Menschen.

Eigentlich war der liebevolle Hinweis des Herrn ein stilles Angebot an Judas, die Gnade wirken zu lassen und umzukehren. Aber er lehnte diesen Weg ab. In Johannes 13,2 lesen wir, dass Satan diesen Plan in das Herz von Judas eingegeben hatte. In Vers 27 heißt es dann, dass Satan in ihn fuhr, unmittelbar nach diesem letzten Angebot der Gnade, dem Bissen. So schlimm ist es, die Gnade und Liebe Christi abzuweisen.

Matthäus berichtet noch von einer Warnung des Herrn an Judas. Er selbst würde nach dem Ratschluss Gottes, wie er im Alten Testament schon verzeichnet war, dahingehen und leiden und sterben. Das aber war nur die eine Seite. Die Verantwortung dessen, der Ihn als den Sohn des Menschen überliefern würde, war gewaltig. Judas verging sich nicht nur am Messias seines Volkes. Er hatte es auch mit dem Sohn des Menschen zu tun, der einen Anspruch auf die ganze Welt besaß (vgl. Ps 8). „Es wäre besser für jenen Menschen, wenn er nicht geboren wäre.“ So furchtbar wird sein Gericht am großen weißen Thron sein (Off 20,13.15). Der Zielort wird für alle ungläubigen Menschen gleich sein: die Hölle. Aber das Ausmaß der Strafe wird nach ihren Werken sein. Es gibt nichts Schlimmeres, als Jesus selbst ans Kreuz zu bringen, indem man Ihn an die Feinde überliefert.

Wir sind erstaunt, dass Judas nicht still bleiben kann. In seiner Bosheit und Heuchelei fragt er dreist: „Ich bin es doch nicht?“ Er besitzt die Verwegenheit, dieselben Worte zu benutzen wie die unschuldigen Jünger. Nichts konnte diesen verhärteten Mann erschüttern, anscheinend auch nicht die dann folgende ausdrückliche Bestätigung des Herrn, dass er der Verräter sei. Wenn Liebe sein Herz nicht erreichen konnte, was sollte dann noch helfen? Satan war in ihm. Judas ließ sich in seinem Tun nicht mehr aufhalten.

Johannes zeigt, dass Judas genau in diesem Augenblick den Raum verließ, also nicht an der Einsetzung des Gedächtnismahl teilnahm (vgl. Joh 13,30). In den anderen Evangelien, besonders bei Lukas, aber auch hier bei Matthäus, sieht es so aus, als ob Judas beim Abendmahl dabei gewesen wäre. Vielleicht fügt das der Geist Gottes so, um uns zu warnen. Wir sollen uns bewusst sein, dass es immer möglich sein kann, dass sich ein Ungläubiger unter dem Deckmantel des christlichen Glaubens verbirgt und sich unter die Erlösten mischt. Wir können das nicht verhindern, es sei denn, dass sich jemand als Ungläubiger offenbart. In diesem Fall werden wir aufgefordert zu handeln (vgl. z.B. 1. Kor 5,11-13).

Bevor wir weitergehen, möchte ich noch auf den Unterschied in der Anrede des Herrn durch die elf Jünger im Vergleich zu Judas hinweisen. Sie konnten mit Recht sagen: „Herr“. Judas aber hören wir nie Herr, sondern stets Rabbi sagen (vgl. 1. Kor 12,3). Er akzeptierte die Herrschaft Jesu über sich nicht. Für ihn war Christus zwar ein Lehrer, aber nicht sein Herr.

Zugleich aber zeigen seine Worte noch einmal, mit was für einer Heuchelei er handelte: „Ich bin es doch nicht, Rabbi?“ Er tat so, als ob er eine Beziehung zum Herrn hätte, und doch offenbaren seine Worte durch das fehlende „Herr“ das Gegenteil. Eines wissen wir: Auch Judas wird einmal vor dem Herrn niederfallen müssen (Phil 2,11). Was wird das für ein Augenblick sein, wenn er ein „nächstes Mal“ in die Augen Jesu blicken wird. Dann wird dieser sein Richter sein. Judas war ein Teufel (Joh 6,70). Auch ihm galten somit diese „Wehe“ über die Heuchler (Mt 23,13.23.27).

Brot und Kelch – die Symbole des Todes Christi

Während sie aber aßen, nahm Jesus Brot, segnete, brach und gab es den Jüngern und sprach: Nehmt, esst; dies ist mein Leib. Und er nahm den Kelch und dankte und gab ihnen diesen und sagte: Trinkt alle daraus. Denn dies ist mein Blut, das des neuen Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden. Ich sage euch aber: Ich werde von jetzt an nicht von diesem Gewächs des Weinstocks trinken bis zu jenem Tag, wenn ich es neu mit euch trinke in dem Reich meines Vaters. Und als sie ein Loblied gesungen hatten, gingen sie hinaus an den Ölberg (Verse 26–30).

Wir kommen jetzt zu einer familiären Szene und Atmosphäre. Lukas ist der einzige der Evangelisten, der uns die eigentliche Einsetzung des Mahls als Gedächtnismahl (oder Abendmahls, wie Martin Luther es übersetzte) nennt. Denn nur Er zitiert den Satz des Herrn: „Tut dies zu meinem Gedächtnis!“ Aber auch Matthäus und Markus nennen uns die wesentlichen Teile des Gedächtnismahls: Brot und Kelch. Es geht also jetzt direkt um den Tod des Herrn.

In jener Nacht fand die jüdische Haushaltung ihr Ende. Das Passah hatte als Fest der Erinnerung an die Erlösung Israels aus Ägypten seinen Zweck erfüllt. Jetzt sollte es seine eigentliche Erfüllung finden. Denn es war ein „prophetisches“ Fest, das auf das Werk des Herrn vorauswies. Das Passahlamm war bereit(et) und sollte am nächsten Tag wirklich geschlachtet werden. Genau in dieser Nacht führte der Herr daher ein neues „Fest“ ein. Es war ein Mahl, das die fundamentale Wahrheit des Christentums darstellt, so wie das Passahlamm die des Judentums.

Die Passahfeier selbst finden wir nicht ausführlich beschrieben. Aber mit was für Empfindungen wird der Herr dieses Passah gegessen haben! Er wusste als einziger, dass dieses Passah eine großartige Bedeutung hatte. Es symbolisierte sein eigenes Sterben (1. Kor 5,7). Es wurde einmal im Jahr gefeiert. Das jetzt vom Herrn Jesus eingesetzte Mahl des Herrn wurde anfangs täglich (vgl. Apg 2,46) und später am ersten Tag der Woche (Apg 20,7) eingenommen – im Gedenken an Christus, zur Verkündigung seines Todes.

Inmitten der vielfältigen Leiden, die auf den Herrn einstürmten, nahm Er sich die Zeit für seine Jünger. Er führte das wertvollste und zugleich so schlichte Gedenken an Ihn selbst im Blick auf sein großes Opfer ein. Er stand im Begriff, sich selbst als dieses Opfer zu geben. Das Passahfest zeigt nach vorne zum Tod Christi (vgl. 1. Pet 1,19.20). Das Gedächtnismahl zeigt zurück auf die Hingabe des Herrn. Das Passah spricht mehr von der Selbstverurteilung des Gläubigen. Es erinnerte den Juden immer wieder daran, dass die Erstgeborenen in Ägypten eigentlich unter dem Todesurteil Gottes standen wie die Ägypter auch. Sie wurden nur durch den Tod des Passahlammes gerettet. Der Herr würde jetzt durch seinen Sühnungstod zeigen, dass in viel grundlegenderer Weise jeder Mensch unter dem Todesurteil Gottes steht, weil er als Sünder die Hölle verdient hat. Aber für denjenigen, der das Werk Jesu für sich in Anspruch nimmt, ist der Herr als die Erfüllung des Passah stellvertretend in den Tod gegangen.

Nun nimmt das Mahl des Herrn einen noch wichtigeren Platz als die Passahfeier ein. Denn es ist eine Erinnerung an das einzigartige Opfer Jesu, das Er gegeben hat zur Befreiung des Menschen vom ewigen Gericht. Brot und Wein sind die schlichtesten Beispiele menschlicher Nahrung. Aber auf beeindruckende Weise sprechen sie vom Leib und Blut Christi. Die Juden konnten das Passah als Symbol dieser für sie noch zukünftigen Dinge nicht verstehen. Im Unterschied zu ihnen dürfen und sollen wir erfassen, was das Mahl des Herrn bedeutet. Denn der Herr ist gestorben und auferstanden und hat uns den Geist Gottes geschenkt, der uns in die ganze Wahrheit einführt (vgl. Joh 16,13). Wenn das Mahl des Herrn heute einfach als eine formale Vorschrift eingehalten würde, wäre es weniger wert als das Passah. Denn der Herr hat uns mehr offenbart als den Juden im Alten Testament. Daher erwartet Er, dass wir das Mahl in anbetender und einsichtsvoller Weise einnehmen.

Der Messias zeigt seinen Jüngern in diesen Versen, dass sie eines gestorbenen Retters gedenken sollten. Es handelt sich nicht mehr um einen lebenden Messias. All das war vorüber. Wir haben es auch nicht mehr mit der Erinnerung an die Befreiung Israels aus der Sklaverei Ägyptens zu tun. Christus, und zwar der gestorbene Christus, begann eine ganz neue Ordnung von Dingen.3

Vers 26: Das Brot – der Leib Christi

Matthäus berichtet uns, dass der Herr Jesus während des Essens, also während des Passahmahls, Brot nahm. Wahrscheinlich nahm Er eines der für das Passahmahl vorbereiteten ungesäuerten Brote in seine Hände. Dann segnete Er es, das heißt, Er dankte für das Brot (vgl. Lk 22,19). Wir hören nichts von einem langen, ausführlichen Gebet; offenbar handelte es sich um eine schlichte Danksagung des Herrn. Dann brach Er das Brot und gab jedem der Jünger ein Stück davon. Zugleich erklärte Er, was dieses Brot für eine Bedeutung hat: „Nehmt, esst; dies ist mein Leib.“ Lukas ergänzt noch, dass es sich um den Leib des Herrn handelt, den Er dahingeben würde.

Wenn wir heute von dem Brot des Gedächtnismahls nehmen, erinnern wir uns an diese feierliche und ernste Stunde zurück. Der Herr und Retter stand unmittelbar davor, durch den schmachvollen Tod am Kreuz hindurchzugehen. Dort litt Er vonseiten der Menschen und erduldete in drei Stunden das Gericht Gottes. Wir werden an seine unvergleichliche Liebe erinnert, auf die diese Zeichen hinweisen. Aber der Herr Jesus weist hier seine Jünger nicht an, dieses Gedächtnismahl zu begehen. Denn Matthäus spricht nicht davon, dass der Herr diese Erde verlassen würde: „Siehe, ich bin bei euch ... bis zur Vollendung des Zeitalters“ (Mt 28,20). Nur durch Lukas (und später durch Paulus) wissen wir, dass wir dieses Mahl zu seinem Gedächtnis einnehmen sollen.

Wir lesen, dass der Herr das Brot „nahm“. Dadurch gibt Er diesem Brot eine besondere Bedeutung. Auch sonst hatten sie während der Passahfeier von Broten gegessen. Da aber hatte der Herr dem Brot keinen speziellen Sinn zugesprochen. Das ist hier anders. Er zeigt uns, dass dieses Brot eine neue, eine symbolische Bedeutung bekommt: Es stellt den Leib Christi dar. Es ist dieser Leib gewesen, den Er sich hat bereiten lassen, um auf diese Erde als Mensch kommen zu können (vgl. Heb 10,5). Es ist sein Leib, in dem Er für uns gelitten hat: „Gott hat seinen eigenen Sohn in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde und für die Sünde sendend, die Sünde im Fleisch [im Menschen, im Körper des Herrn Jesus] verurteilt“ (Röm 8,3). Er musste als Mensch sterben und den Preis für unsere Sünden tragen (vgl. Heb 10,10; 1. Pet 2,24). Das alles verbinden wir mit dem Brot.

Die Trennung von Brot und Wein zeigt vielleicht zudem, dass es nicht um einen lebendigen Menschen auf der Erde geht, sondern um einen gestorbenen. Denn wenn das Blut eines Menschen nicht mit seinem Körper verbunden ist, dann muss es sich um einen gestorbenen Menschen handeln. So auch hier, wo es nicht um irgendeinen Menschen geht, sondern um Christus selbst.

Die Jünger sollten das Brot nehmen und davon essen. Das ist ein Hinweis darauf, dass sie sich von nun an von einem gestorbenen Christus nähren sollen, der ihr Leben formen und bestimmen sollte. Der Herr macht den Jüngern gleich noch etwas Weiteres deutlich: Ab jetzt konnte Er keine Beziehung mehr zu ihnen pflegen, wie Er es bislang getan hat (vgl. 2. Kor 5,16). Von nun an war Er für sie der Gestorbene. Und nur mit Ihm als Gestorbenen konnten sie Gemeinschaft haben, sich von Ihm geistlicherweise nähren. Das bedeutet, dass man sich mit dem Herrn Jesus beschäftigt, wie Er uns in seinem Wort als der Gestorbene vorgestellt wird. Man denkt über diese Stellen nach und wird dadurch zur Anbetung seiner herrlichen Person geführt. Und diese Beschäftigung hat Auswirkungen in unserem täglichen Leben, weil wir dann alles vermeiden werden, was im Gegensatz zu seiner Person und seinen Worten steht.

Vers 27.28: Der Kelch – das Blut des neuen Bundes

Noch stärker als das Brot zeigt uns der Kelch den Messias als nicht mehr lebend auf der Erde, sondern verworfen, geschlagen und getötet. Die Betonung liegt in diesen Versen nämlich nicht auf dem Brot. Der Herr sagt hier nicht, dass Er seinen Leib in den Tod geben würde. Es ist auch nicht von einem gebrochenen Brot die Rede. So scheint es, dass der Herr bei Matthäus das Gewicht auf den Kelch legt. Er wird mit dem vergossenen Blut Christi und mit dem neuen Bund zur Vergebung der Sünden von vielen verbunden. Allein der Ausdruck „Kelch“ spricht schon von dem Tod des Herrn: Es ist ausgegossener Wein. Das ist vielleicht ein Hinweis auf das vergossene Blut, das dahingegebene Leben unseres Retters.

Die Juden haben ihren eigenen König abgelehnt und ans Kreuz gebracht. Dieser Tod Jesu öffnete den Weg für andere, die außerhalb des Bundes Gottes mit seinem Volk standen, also für die Heiden. Deshalb sagt Er: „Trinkt alle daraus.“ Damit verfolgt Matthäus auch an diesem Punkt wieder die Linie, die er in diesem Evangelium oft vorgestellt hat, schon in Kapitel 1. Dort erwähnt er im Geschlechtsregister des Herrn Frauen, die aus dem Heidentum stammten. Es war dem Evangelisten unter der Leitung des Geistes Gottes wichtig, auch an unserer Stelle auf die Segensausweitung zugunsten der Heiden hinzuweisen. Lukas spricht von dem Blut, vergossen für euch – nämlich die Gläubigen in Christus. Diese direkte Zuwendung spricht von der Liebe Jesu zu den Seinen. Matthäus betont das Vergießen des Blutes – also die Hingabe des Lebens des Herrn – für viele. Das zeigt, dass es nicht wenige, sondern viele sind, die Vergebung der Sünden empfangen würden. Leider wird damit auch deutlich, dass es manche geben würde, die Jesus Christus nicht als Retter annehmen werden. Von diesen Vielen aber sollten „alle“ aus dem Kelch trinken – woher auch immer sie stammten.

Der Herr spricht hier auch von der Vergebung von Sünden durch sein Blut. Das steht im Gegensatz zum Blut des alten Bundes, das die Strafe durch Blut betont. Denn das Blut in 2. Mose 24,6-8 besiegelte für das Volk das Versprechen des Gehorsams gegenüber dem Gesetz. Damit verbunden war die Androhung der Todesstrafe. Das Blut des Messias dagegen stellt uns das Zeugnis der Auslöschung ihrer Sünden vor. Es ist zur Vergebung von Sünden. Das ist ein weiterer Bezug zu der Einrichtung des Passah, wo das Blut nach 2. Mose 12 wie ein Schutzwall für die (Erstgeburt der) Juden war. Das Mahl des Herrn stellt somit die Erinnerung an den gestorbenen Jesus dar, der durch seinen Tod mit der Vergangenheit gebrochen hat. Er hat die Grundlage des neuen Bundes gelegt, die Vergebung der Sünden erwirkt und den Heiden die Tür geöffnet.

Alter Bund – neuer Bund

Gott war mit seinem Volk am Sinai einen Bund eingegangen, durch den es sich verpflichtete, alles zu tun, was der Herr geboten hatte (2. Mo 19,5-8). Dieses Versprechen und der Bund ganz grundsätzlich wurden durch das Besprengen des Blutes der Farren bestätigt (2. Mo 24,8; Heb 9,20). Aber in seinem Ungehorsam hatte das Volk sein Wort nicht gehalten: „Die Posaune an deinen Mund! Wie ein Adler stürzt er auf das Haus des Herrn, weil sie meinen Bund übertreten und gegen mein Gesetz gefrevelt haben“ (Hos 8,1). Dadurch gingen die Segnungen, die von ihrer Treue abhingen, verloren. Als ihnen dann ihr Messias vorgestellt wurde, töteten sie Ihn. Darum haben Israel und in der Folge auch der Mensch, was seine Verantwortung betrifft, kein Anrecht mehr auf irgendeinen Segen, sondern nur auf Gericht. Aber in seiner grenzenlosen Gnade hat Gott seinen Sohn dahingegeben, der durch seinen Tod die göttliche Gerechtigkeit befriedigt hat. So kann Gott den Sünder erretten und Israel die Segnungen geben, die unter dem alten Bund unmöglich erreicht werden konnten. Davon lesen wir in Hebräer 8,8-13 und Jeremia 31,31-34. Die Jünger bekamen in dem Kelch somit die Garantie für die Erfüllung der Segnungen Israels geschenkt, die an einem zukünftigen Zeitpunkt verwirklicht werden.

Das Besondere aber ist, dass dieses Blut nicht nur für Israel vergossen wurde, sondern für viele. Das heißt für alle, die sich an allen Orten durch Glauben unter den Schutz des Blutes stellen. Das sind nicht im absoluten Sinn alle, aber doch viele. Der Hinweis auf die Vergebung „für viele“ ist nicht nebensächlich. Gerade aufgrund dieses Verses haben auch wir Heiden Anteil an dem Werk des Herrn! Sonst wären wir für immer Fremdlinge geblieben! Denn ein lebender Messias war die Krone der Herrlichkeit für die Juden. Aber wenn Er von der Erde erhöht werden würde, würde Er alle, ohne Beschränkung durch Volks- und Landesgrenzen, zu sich ziehen (vgl. Joh 12,32).

Auch der neue Bund wird, wie auch der alte, mit Israel gemacht, nicht mit Christen. Der neue Bund weist auf den alten hin. Weil er diesen ablöst, wird er neu genannt. Geschlossen wird er mit Juda und Israel, wie wir Jeremia 31,31-34 entnehmen können. Der Bund verbindet sie mit Gott, aber nicht mehr auf dem Grundsatz des Gesetzes, sondern dem der Gnade. Er beruht auf dem Blut und der vollkommenen Wirksamkeit dieses dahingegebenen Lebens Christi vor Gott. Derzeit ist Israel als Nation zur Seite gestellt, wie wir im Verlauf dieses Evangeliums immer wieder gesehen haben. Das Volk genießt daher keinen Bund. Aber der Mittler des Bundes hat sein Blut vergossen und damit die Grundlage gelegt für den neuen Bund. Das ist bestätigt und unabänderlich von Gott festgelegt worden. So beruht der neue Bund nicht mehr auf der Verantwortung von Menschen, sondern allein auf dem freigiebigen Segen Gottes.

Christus ist aufgefahren in die Höhe. Als Christen werden wir schon jetzt mit Ihm identifiziert, so dass wir all die Wirkungen genießen, die mit seiner Person und seiner Stellung verbunden sind. Uns „gehört“ damit schon jetzt das Blut des neuen Bundes. Künftig werden gläubige Juden den Dienst des neuen Bundes ausüben – nicht wir. Unsere Stellung ist schon heute, mit dem Mittler des neuen Bundes vereinigt zu sein. So können wir alle Vorrechte genießen, die Er als Mensch selbst genießt und die Er durch sein Blut bewirkt hat.

Auch wenn der Bund nicht mit uns geschlossen worden ist, ist er es in Christus vor Gott. Wir sind in Ihm, während wir hier auf der Erde leben. Daher trinken wir – geistlicherweise – sein Blut. Wenn ein Jude das Blut unter dem alten Bund getrunken hätte, wäre es sein Tod gewesen. Konnte sich ein Mensch durch den Tod nähren? Das war unmöglich, denn dieser ist die Frucht der Sünde. Das heißt nichts anderes, als dass er letztlich Verdammnis und Zorn von Gott bedeutete. In dem Blut des Menschen war das Leben. Kein Jude hatte das Recht, dieses Blut zu vergießen oder zu trinken. Jetzt aber hat Christus den Tod erlitten. Daher kann sich der Christ geistlicherweise von seinem Tod nähren. Das liegt daran, dass das Werk vollbracht ist und hinter uns liegt. Es geht somit um eine vollbrachte Errettung. Der Tod Christi ist der unendliche Beweis der Liebe Gottes zu uns. Das Blut ist ein Hinweis auf sein dahingegebenes Leben und schenkt uns den Frieden seines Herzens und zugleich die Errettung von Sünde vor Gott. Was für ein Unterschied besteht daher zwischen dem alten Bund und der heutigen Zeit, die den geistlichen Segen des neuen Bundes bereits vorwegnimmt.

Es handelt sich beim Blut des neuen Bundes also um das Blut, das den Juden künftig und den Gläubigen heute Vergebung der Sünden gibt. Daher finden wir diesen neuen Bund auch in 1. Korinther 11 erwähnt, wo es ausschließlich um Christen geht. Auch wenn sich der neue Bund an Juden richtet, ist das Blut dieses Bundes zugleich der Segen für das himmlische Volk Gottes, die Versammlung. Der Bund wird zwar nicht mit ihr geschlossen, aber der Segen des neuen Bundes fließt auch zu ihr. Dieser Bund wird im Hebräerbrief „ewiger Bund“ genannt (vgl. Heb 13,20) und führt zu einem dauerhaften, unveränderlichen Segen.

Es ist zu Herzen gehend, dass der Geist Gottes an allen vier Stellen, die von dem Gedächtnismahl berichten, diesen neuen Bund erwähnt. Der Herr stand im Begriff, von seinem Volk ans Kreuz überliefert zu werden. Das aber führt nicht dazu, dass seine Liebe zu seinem Volk kleiner wird. In Verbindung mit dem Kelch sagt Er jedes Mal, dass es das Blut des Neuen Bundes ist. Es gibt Hoffnung für das Volk Israel. Und der Herr Jesus verheißt die Grundlage dieser Hoffnung genau in dem Moment, in dem sein Volk im Begriff stand, die größtmögliche Sünde zu begehen: den eigenen Messias zu verwerfen. Auch wir sollten beim Trinken vom Kelch nicht vergessen, dass Christus nicht nur die Versammlung, sondern auch sein Volk hat, für das Er gestorben ist. Wenn Er daran gedacht hat unmittelbar vor seinen größten Leiden, wie viel mehr sollte dies unsere Herzen beschäftigen.

Fleisch und Blut in Johannes 6

Manche haben die Worte des Herrn Jesus, die wir in Johannes 6,52-59 lesen, mit dem Gedächtnismahl in Verbindung gebracht. Das aber ist abwegig. Der Herr spricht dort weder vom Passah noch von seinem Gedächtnismahl.

In den Versen 53 und 54 zeigt Er, dass man durch das Essen seines Fleisches und Trinken seines Blutes ewiges Leben erhält. Das heißt, dass man dadurch, dass man seine Person (Fleisch) und sein Werk (Blut) als Retter und Rettung in Anspruch nimmt. Man erkennt an, dass man ein Sünder und daher verloren ist. Er aber, der Sündlose, ist für mich gekommen und hat das Werk der Erlösung am Kreuz vollbracht, so dass Gott im Blick auf die Sünde und die Sünden zufriedengestellt worden ist und mir in Christus Vergebung der Sünden anbieten kann.

In den Versen 55 und 56 zeigt der Herr dann, dass die Beschäftigung mit seiner Person und seinem Werk einen Gläubigen auf seinem Lebensweg begleiten soll. Praktische, tägliche Gemeinschaft mit dem Herrn Jesus können wir nur dann pflegen, wenn Er und sein Werk zum Mittelpunkt unseres Lebens werden. Das ist die Voraussetzung dafür, dass wir wahrhaft glücklich leben können.

Ergänzende Gedanken zum Gedächtnismahl

Bevor wir zu Vers 29 weitergehen, möchte ich noch drei mir wichtig erscheinende Punkte zu diesen ersten drei Versen unseres Abschnitts aufgreifen:

  • Die Worte des Herrn über die Vergebung in Verbindung mit Brot und Kelch zeigen, dass das Schuldopfer beim Mahl des Herrn nicht vergessen werden darf. Zweifellos zeigen uns das Friedens- und Brandopfer noch höhere Seiten. Und tatsächlich kennen wir vornehmlich den Gedanken des Brand- und Friedensopfers beim Gedächtnismahl. Diese Opfer zeigen die erhabene Seite, dass Christus sich ganz für Gott hingegeben hat und damit Gemeinschaft zwischen uns und Ihm bewirkt hat. Aber auch die Seite, die dem Menschen zugewandt ist, hat ihre Berechtigung. Denn Christus hat sein Leben auch für uns zur Vergebung der Sünden hingegeben. Gerade Matthäus stellt uns immer wieder vor, dass der Herr Jesus das wahre Schuldopfer geworden ist.
  • Schon im Alten Testament finden wir eine Andeutung eines Gedächtnismahls: „Den Becher der Rettungen will ich nehmen und anrufen den Namen des Herrn. Ich will dem Herrn meine Gelübde bezahlen, ja, in der Gegenwart seines ganzes Volkes. Kostbar ist in den Augen des Herrn der Tod seiner Frommen“ (Ps 116,13-15). Hier wird der Tod des einen Frommen mit dem Becher der Rettungen verbunden, die Christus durch sein Werk vollbracht hat. Für uns allerdings ist es nicht nur ein Becher der Rettungen, sondern ein Kelch, der mit der Herrlichkeit und Hingabe einer Person zu tun hat.
    In Jeremia 16,7.8 geht es um die Trauer angesichts des Todes eines Menschen. Dort heißt es, sozusagen negativ: „Und man wird ihnen kein Brot brechen bei der Trauer, um jemand zu trösten über den Toten, noch ihnen zu trinken geben aus dem Becher des Trostes über jemandes Vater und über jemandes Mutter. Auch in ein Haus des Gastmahls sollst du nicht gehen, bei ihnen zu sitzen, um zu essen und zu trinken.“ Bei uns geht es aber nicht um eine Trauermahlzeit, obwohl es sich um den gestorbenen Retter handelt. Nein, wir wissen, dass Er jetzt der auferstandene Christus ist, der verherrlicht zur Rechten Gottes thront. Daher haben wir einen Kelch der Danksagung, nicht der Trauer.
  • Wir müssen uns nicht weiter mit der Irrlehre großer Kirchen beschäftigen. Sie meinen, dass bei Brot und Kelch eine Transsubstantiation (Verwandlung des Brotes in den Leib des Herrn, des Kelches in das Blut des Herrn) stattfindet. Eine andere Kirche ist überzeugt von der Konsubstantiation (Verbindung vom Leib des Herrn mit dem Brot und vom Blut Christi mit dem Kelch). Wir können klar sagen: Der Herr Jesus setzt Symbole für seinen Leib und sein Blut, das heißt sein dahingegebenes Leben, ein. Er stand leibhaftig vor den Jüngern, als Er ihnen das Mahl gab. Keineswegs war Er in Form von Brot und Wein bei ihnen. Er stand als vollkommener Mensch vor ihnen. Das zeigt, wie absurd und sogar gotteslästerlich es ist, Ihn als oder mit Brot und Wein zu sich zu nehmen. Man muss also Symbol und Wirklichkeit unterscheiden. Ähnliches kennen wir auch im alltäglichen Leben: Beispielsweise ist das Ausrufezeichen auf einem Verkehrsschild ein Symbol für „Gefahr“, nicht aber die Gefahr selbst.

Brot und Wein bleiben uns nun bis heute schlicht als Symbole erhalten. Im Übrigen sind weder Brot noch Kelch bzw. der Inhalt des Kelches, Wein, „heilig“. Sie bleiben profanes Brot und profaner Wein. Nur in der Stunde des Gedächtnismahls bekommen sie einen symbolischen Wert. Vor und im Anschluss daran besitzen sie diesen symbolischen Wert nicht mehr.

Vers 29: Nicht vom Gewächs des Weinstocks trinken ...

Wenn der Herr zu seinen Jüngern vom Gewächs des Weinstocks spricht, deutet Er übrigens auf den Kelch des Passahmahls hin, das die Freude versinnbildlicht (vgl. Lk 22,17.18). Das ist beim Kelch des Abendmahls, dem Bild vom Blut des Herrn, nicht der Fall. So verbinden sich die Gedanken von Freude und Leiden, wie wir das auch in Hebräer 12,2 lesen können: „Jesus, der, die Schande nicht achtend, für die vor ihm liegende Freude das Kreuz erduldete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes.“

Wir haben eben gesehen, dass die Jünger beim Gedächtnismahl an Christus denken und sich zugleich geistlicherweise von Ihm nähren würden. Hier lernen wir, dass der Herr von jetzt an nicht mehr zusammen mit ihnen von der Frucht des Weinstocks trinken wird. Wein ist ein Hinweis auf Freude (Ri 9,13; Ps 104,15), die besonders auf der Erde genossen wird. Da Er aber jetzt das Werk der Erlösung vollbringen würde, änderten sich seine Beziehungen zu den Jüngern. Als König war Er verworfen. So kann Er diese Freude nicht mehr in Verbindung in seinen bisherigen Beziehungen des Königreiches, wie die Jünger es noch immer erwarteten, genießen.

Die Frucht des Weinstocks

Die Frucht des Weinstocks ist das Zeichen „sozialer“ Freude, der gemeinsamen Freude von Menschen. Das Zusammenleben mit seinen Jüngern würde nun jedoch in der bisherigen Form beendet sein. Aber nicht nur das, es würde nicht einmal in derselben Weise wiederhergestellt werden. Denn die Jünger würden von nun an geistliche, himmlische Beziehungen zu ihrem Herrn geschenkt bekommen, die nichts mit einem irdischen Reich zu tun haben. Daher würden sie auch zu späterer Zeit in ganz neuer Weise (das ist die Bedeutung von „neu“ an dieser Stelle) Freude mit Ihm genießen. Denn wenn der Herr Jesus wiederkommen wird, kommt Er im Königreich seines Vaters. Dazu gehören himmlische Beziehungen.

Der Wein spricht sicher auch in symbolischer Weise von Israel (vgl. Jes 5,1-5). Dieses Volk aber hatte Gott keine Freude gebracht. So kann der Herr Jesus in diesem Sinn auch keine Freude haben bis zu der Zeit, da Er sein Königreich neu und in Herrlichkeit aufrichten wird. Das ist die Freude im Tausendjährigen Königreich. Dann wird Er den Wein aufs Neue, allerdings in einer ganz neuen Weise, mit ihnen in dem Reich des Vater trinken.

Der Herr lässt also seine Beziehungen zu den Jüngern, wie Er sie damals gepflegt hatte, ruhen. Er bricht mit diesen jüdischen Menschen, sogar mit den Jüngern hier auf der Erde, indem Er nicht mehr von der Frucht des Weinstocks trinkt. Nur Matthäus und Markus sprechen davon, dass Er es später erneut mit ihnen tun wird. Noch war der neue Bund nicht eingeführt und etabliert. Aber die Grundlage dafür, das Blut, würde jetzt gelegt werden. Dafür gab der Herr den Jüngern mit Brot und Kelch ein doppeltes Zeugnis. Es gab von diesem Zeitpunkt an keine Verbindung mehr zwischen dem Menschen im Fleisch und Gott. Dafür gab es etwas wunderbar Neues: eine Erlösung, welche die Grundlage für ganz neue Beziehungen sein würde.

Das zeigt, dass sich die Botschaften von Matthäus und Lukas in Verbindung mit diesem Mahl unterscheiden. Matthäus spricht gewissermaßen von Trennung. Lukas dagegen betont das Gedenken, das Gedächtnis. Matthäus zeigt uns, dass der Herr sein Volk verlassen musste, um in einer neuen Stellung später zu seinem Volk zurückzukehren.

Die Veränderung

Von der damaligen Zeit an war Jesus getrennt von der Freude mit ihnen, mit den (irdischen) Seinen, bis das Königreich des Vaters kommt. Manche haben mit diesem Ausdruck den Gedanken verbunden, dass wir schon heute in einer himmlischen Weise die Freude des Herrn teilen. Das ist sicherlich wahr, scheint jedoch hier nicht gemeint zu sein. Denn der Ausdruck „Königreich des Vaters“ wird in diesem Evangelium verschiedentlich verwendet und meint in aller Regel nichts anderes als das Tausendjährige Friedensreich. Wir haben schon früher gesehen, dass damit nicht eine besondere, himmlische Seite des Königreichs gemeint ist (vgl. die Erklärungen zu der zweiten Bitte im sogenannten „Vater unser“), sondern dass es einfach die Ausdrucksweise dieses Evangeliums ist, das Reich aus einer himmlischen Perspektive zu sehen. Nicht von ungefähr wird es das Königreich der Himmel genannt. Es ist ein Reich, das von „seinem“ Vater ist. Das lässt noch einmal die besondere Beziehung des Messias mit seinem Vater hervorstrahlen.

Wenn dieses Reich aufgerichtet werden wird, dann wird Christus seine Beziehung zu seinem (gläubigen) Volk hier auf der Erde wieder mit Freude neu beginnen. Es wird aber eine andere Beziehung sein als die frühere. Sie beruht auf dem Erlösungswerk, welches das Volk Israel noch nicht kannte. Und sie ist Teil des neuen Bundes, der nicht von der Verantwortung des Volkes Israel abhängig ist. Für uns gilt, dass wir diese Segnungen geistlicherweise vorwegnehmen können. Die Gottesfürchtigen trinken sein Blut geistlicherweise schon jetzt mit Danksagung (Joh 6,56).

Der Einrichtung des Mahls nach der Schilderung von Matthäus können wir nicht entnehmen, dass wir das Mahl bis zu seiner Wiederkunft haben werden. Das finden wir erst in 1. Korinther 11,26: „Denn sooft ihr dieses Brot esst und den Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.“ Aber wir können diesen Gedanken bereits aus Vers 29 unseres Kapitels folgern, denn der Kelch spricht von Segen und Freude. Diesen Kelch wird der Herr erst in der Zukunft und in neuer Weise trinken. In der Zwischenzeit ist der Kelch für uns vorgesehen, nicht für Ihn. An dem Tag des Reiches wird Er an dem Segen und der Freude auf eine völlig neue Art teilnehmen. Er wartet jetzt mit Ausharren auf die Errichtung dieses Reiches. Wir tun es mit Ihm.

Vers 30: Ein letztes Loblied vor dem Kreuz

Der Herr hatte zu den Jüngern von seinem Tod gesprochen, von seiner Hingabe. Danach sangen sie zum Abschluss ein Loblied. Aus den Überlieferungen der Juden wissen wir, dass sie die Psalm 115-118 zum Abschluss des Passahfestes sangen. Sie werden im jüdischen Ritual die großen Hallel-Psalmen genannt.

Mit was für Empfindungen der Seele muss Er diese Psalmen mit seinen Jüngern gesungen haben! Was für eine Ermunterung muss es für Ihn gewesen sein, mit seinen Jüngern verbunden zu sein. Sie hatten mit Ihm ausgeharrt, wie Er sagt (Lk 22,28). Die Psalm 115-118 enthalten gesegnete und beeindruckende messianische Vorhersagen, die uns im Verlauf dieses Evangeliums bereits beschäftigt haben:

„Mich umfingen die Fesseln des Todes, und die Bedrängnisse des Scheols erreichten mich; ich fand Drangsal und Kummer“ (Ps 116,3). „Denn du hast meine Seele errettet vom Tod, meine Augen von Tränen, meinen Fuß vom Sturz“ (Ps 116,8). „Aus der Bedrängnis rief ich zu Jah; Jah erhörte mich und setzte mich in einen weiten Raum“ (Ps 118,5). „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden. Von dem Herrn ist dies geschehen; wunderbar ist es in unseren Augen. Dies ist der Tag, den der Herr gemacht hat; frohlocken wir, und freuen wir uns in ihm“ (Ps 118,22-24). Und die letzten vier Verse: „Gesegnet sei, der da kommt im Namen des Herrn! Vom Haus des Herrn aus haben wir euch gesegnet. Der Herr ist Gott, und er hat uns Licht gegeben; bindet das Festopfer mit Stricken bis an die Hörner des Altars. Du bist mein Gott, und ich will dich preisen; mein Gott, ich will dich erheben. Preist den Herrn! Denn er ist gut, denn seine Güte währt ewig“ (Ps 118,26-29).

Die Jünger werden diese Psalmen am Ende des Passah wie immer gesungen haben, da sie gottesfürchtige Juden waren. Aber sie hatten noch immer nicht erkannt, dass es für Ihn das letzte Passah vor seinem Tod war. Für Ihn bedeuteten dieses Verse viel mehr. Kurze Zeit später würden Ihn die Bauleute wirklich und endgültig verworfen haben. Und drei Tage später würde Er nach seiner Auferstehung und Himmelfahrt zum Eckstein geworden sein. Und Er sah die Zukunft: „Gesegnet ist, der da kommt im Namen des Herrn!“ – eine Zukunft, die noch weit entfernt war. Das ist sein zweites Kommen, das auch für uns noch zukünftig ist.

Verse 31–46: Selbstüberschätzung bei Petrus und Jesu Abhängigkeit im Gebet

„Dann spricht Jesus zu ihnen: Ihr werdet alle in dieser Nacht an mir Anstoß nehmen; denn es steht geschrieben: ‚Ich werde den Hirten schlagen, und die Schafe der Herde werden zerstreut werden. ‘ Nach meiner Auferweckung aber werde ich euch vorausgehen nach Galiläa. Petrus aber antwortete und sprach zu ihm: Wenn alle an dir Anstoß nehmen werden, ich werde niemals Anstoß nehmen. Jesus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir, dass du in dieser Nacht, ehe der Hahn kräht, mich dreimal verleugnen wirst. Petrus spricht zu ihm: Selbst wenn ich mit dir sterben müsste, werde ich dich nicht verleugnen. Ebenso sprachen auch alle Jünger“ (Verse 31–35).

In den folgenden Versen haben wir einen vierten Kontrast vor uns. Wir erleben einen Jünger des Herrn – Petrus –, der sich vollkommen überschätzt. Er bemerkt nicht, wie er sich auf falsche Gleise begibt. Wir sehen aber auch unseren Herrn, der sich in einem dreifachen Gebet in vollkommener Abhängigkeit von seinem Gott und Vater befindet. Der eine ist ein schwacher, sündhafter Mensch, der zu Fall kommt. Der andere ist Gott selbst, der hier aber als Mensch und Gesandter Gottes siegreich aus Prüfungen hervorkommt.

Um zum Ölberg zu gelangen, musste man aus der Stadt hinausgehen, ins Tal Kidron hinabsteigen und den Hügel hinaufgehen, der Jerusalem gegenüberliegt. Ohne sich von der Ihm bevorstehenden seelischen Belastung niederdrücken zu lassen, nutzte der Herr die Zeit auf dem Weg nach Gethsemane zu letzten Mitteilungen an seine Jünger. Ein Teil dieser Worte ist auch schon im Obergemach gesprochen worden, wie Johannes nahelegt. Der Herr wollte seine Jünger noch einmal auf das aufmerksam machen, was sich jetzt ereignen sollte. Der Herr war der gute Hirte und hatte entsprechend für seine Schafe gesorgt. Er hatte sie bei ihrem Namen gerufen. Aber damit sie das Leben empfingen, musste Er nun für sie sterben und an ihrer Stelle die Strafe erdulden. Das tat der gute Hirte für seine Schafe (vgl. Joh 10,11).

In Vers 24 haben wir gesehen, dass der Herr das erfüllen würde, was über Ihn geschrieben stand. Hier lernen wir, dass auch über das Volk etwas geschrieben worden war. Und auch in Bezug auf sie würden die Schriften in Erfüllung gehen.

Nachdem die letzte Note der Psalmlieder verklungen ist, spricht der Herr wieder. Zunächst weist Er seine Jünger darauf hin, dass sie alle in der gerade begonnenen Nacht Anstoß an ihrem Meister nehmen werden. Mit anderen Worten: Sie werden Ihn verlassen. Das traf nicht nur auf Petrus zu, sondern auf alle Jünger. Aber Petrus ist derjenige, der das so nicht akzeptieren will und daher meint, eine Antwort geben zu müssen.

Das Werk des Herrn zerstreut?

Zunächst zitiert der Herr Sacharja 13,7. Dort finden wir die bekannten Worte: „Schwert, erwache gegen meinen Hirten und gegen den Mann, der mein Genosse ist!, spricht der Herr der Heerscharen. Schlage den Hirten, und die Herde wird sich zerstreuen. Und ich werde meinen Hand den Kleinen zuwenden.“

Die vom Herrn zitierten Worten können sich nicht auf das Erlösungswerk als solches beziehen. Denn von Johannes wissen wir, dass sein Sühnungstod Menschen zusammenführt, nicht auseinandertreibt. Kajaphas, der damals gerade Hoherpriester war, hatte geweissagt, „dass Jesus für die Nation sterben sollte; und nicht für die Nation allein, sondern damit er auch die zerstreuten Kinder Gottes in eines versammelte“ (Joh 11,51.52). Dies wird ausdrücklich eine Weissagung genannt. Das heißt, dass sie zutreffend war und sich in diesem Fall auf das Werk des Herrn bezog.

Worauf bezieht sich die Weissagung Sacharjas dann? Eine Antwort auf diese Frage gibt Psalm 102. Dort lesen wir: „Du hast mich emporgehoben und hast mich hingeworfen“ (Ps 102,11). Der Herr hatte zuerst einen triumphalen Empfang in Jerusalem gehabt (Mt 21,1-11). Da wurde Er von Gott gewissermaßen emporgehoben. Dann aber lehnte Ihn sein Volk endgültig ab. Gott ließ das nicht nur zu. Natürlich war es zu 100 Prozent das Versagen und die Bosheit des Volkes Israel, die den Herrn ans Kreuz brachte (Apg 2,23b). Aber zugleich war dies der Ratschluss Gottes (Apg 2,23a). Gottes Führung und Fügung hatten Christus ans Kreuz gebracht. So wurde Er sozusagen kurz nach dem Emporheben wieder hingeworfen.

Das – nicht das Sühnungswerk – würde die Jünger derart erschüttern, dass sie zerstreut würden. Das Sühnungswerk geschah in den drei Stunden der Finsternis und bezieht den Tod des Herrn mit ein. Dieses Hinwerfen dagegen bezieht sich besonders auf die äußeren Umstände vor und während seines Sterbens. Es war die Verwerfung des Messias, die Er nach Sacharja 13 usw. aus der Hand Gottes annahm, die dazu führte, dass sich die Jünger zerstreuten. Sein Tod brachte für sie eine tiefe Prüfung, die sie nicht verstehen und daher auch nicht bestehen konnten. Sie bekamen große Furcht und flohen.

Die Schläge für den Hirten, für den Messias, die Gott zuließ, waren Schläge durch seine jüdischen Feinde, die Christus an das Kreuz nageln ließen. Aber der Herr musste hier als Messias die vollkommene Verwerfung und sogar den Tod empfinden. Nach Psalm 69 wird über diese Feinde die Rache Gottes kommen. So war das Schlagen des Hirten sozusagen „Verlust“, der zur Zerstreuung führt. Die Sühnung in den drei Stunden dagegen ist sowohl für das Volk Israel als auch für uns in jeder Hinsicht „Gewinn“. Dadurch, dass der wahre Messias an das Kreuz gebracht wurde, musste Israel verwirrt werden. Ihren eigenen König hatten sie ermordet – das musste zu einer Zerstreuung unter ihnen führen.

Natürlich hat der Herr Sühnung bewirkt am Kreuz. Um diese geht es aber in diesem Vers nicht, jedenfalls nicht im zweiten Teil. Da sehen wir das Gericht, das den König traf und in der Folge sogar die ganze Herde, die zerstreut wurde. Das Volk hielt den Herrn Jesus als von Gott bestraft (Jes 53,4). Tatsächlich war es auch das Gericht Gottes, das über Ihn kam. Aber Er hat das für uns getragen, weil Er selbst ohne jede Schuld war. Es gab auch viele andere Märtyrer, die äußerlich ähnlich gelitten haben wie Christus. Aber keiner von ihnen war der wahre König für den Thron Israels. Das macht, was unseren Vers betrifft, den Unterschied aus.

Ein neuer Sammelpunkt: Galiläa

Der Herr wollte diese Zerstreuung aber nicht dauerhaft bestehen lassen. Daher fügt Er sofort hinzu, dass Er auferstehen und dann den Jüngern nach Galiläa vorausgehen würde. Diese Zusage ist auffallend. Sie zeigt, dass Er als auferstandener Retter seine Beziehungen zu diesen Armen der Herde wieder aufnehmen wird. Und das würde in der Gegend sein, wo Er sich schon während seines Lebens mit ihnen einsgemacht hat: in Galiläa. So knüpft der Messias an den Anfang wieder an, wo ein Licht in der Finsternis in diesem verachteten Bereich Israels aufgeleuchtet hat (vgl. Jes 8,23 ff.).

Die Jünger hörten dem Herrn nicht richtig zu. Dennoch redet Er weiter in Liebe mit ihnen. Er macht ihnen deutlich, dass Er ihre Zerstreuung nicht dauerhaft hinnehmen will. Er nennt ihnen daher schon vor seinem Tod einen Sammelpunkt, wo sie sich wiedersehen würden. Tatsächlich finden wir die Jünger dort in Matthäus 28,16 wieder.

Warum wollte der Herr gerade nach Galiläa gehen? Das war die Region, wo Er besonders am Anfang seiner Zeit gewirkt hat und aus der zumindest die meisten seiner Jünger stammten. Das war der Ort der Verachtung, wohin kein Jude ging, der etwas auf sich hielt. So steht Galiläa auch hier wieder für eine Abkehr des Herrn vom Judentum. Einerseits nimmt Er seine Beziehung zu den Jüngern wieder auf. Andererseits aber verdeutlicht Er, dass das Judentum die Jünger nicht länger würde binden können. Er sammelt also hier die Armen seiner Herde, um sie von dort aus in die Versammlung des lebendigen Gottes hineinzubringen. Er hat die Versammlung in den Kapiteln 16 und 18 bereits erwähnt. Sie würde ihr Zufluchtsort ab Apostelgeschichte 2 werden. Das aber geht über die Botschaft des Matthäusevangeliums hinaus.

Die Selbstüberschätzung des Petrus

Nach diesen Worten des Herrn tritt Petrus wieder auf.

  1. Er gehörte nach Kapitel 4,18 zu den ersten, die Jesus in die Nachfolge rief.
  2. Er war in Kapitel 14 der Jünger, der als Einziger auf dem Wasser und dort zu Jesus gelaufen war.
  3. In Kapitel 15 war er der Sprecher der Jünger, die eine Erklärung erfragten über das Gleichnis der Verunreinigung des Menschen von innen heraus.
  4. In Kapitel 16 hatte er das großartige Bekenntnis über den Herrn Jesus, den Sohn des lebendigen Gottes abgelegt.
  5. Kurz danach aber musste der Herr ihn als „Satan“ bezeichnen, weil er Ihn vom Weg zum Kreuz abhalten wollte.
  6. Mit Johannes und Jakobus war er auf dem Berg der Verklärung gewesen (Kapitel 17).
  7. In Kapitel 17 lesen wir noch, dass er sich vordrängte und sagte, sein Meister habe die Doppeldrachme längst bezahlt.
  8. In Kapitel 18 wollte er vom Herrn wissen, wie oft man einem Bruder vergeben müsse.
  9. In Kapitel 19 schließlich hatte er davon gesprochen, wie hingebungsvoll er und seine Jüngerkollegen gewesen seien, um alles für Christus zu verlassen.

Jetzt tritt er ein zehntes Mal auf. Er vergleicht sich mit den anderen Jüngern und hält sich für den Besten von ihnen: „Wenn alle an dir Anstoß nehmen werden, ich werde niemals Anstoß nehmen.“ Das zeugt von einem ungesunden Selbstbewusstsein, das sich selbst weit überschätzt. Abgesehen davon, dass wir nie Veranlassung haben sollten, uns mit unseren Geschwistern zu vergleichen, sollten wir uns erst recht nicht für besser halten als andere.

Petrus stützt sich auf die Liebe, die er für seinen Meister empfand. Sie war tatsächlich vorhanden. Leider aber war sie mit Regungen des alten Simon vermischt. Es wäre besser gewesen, wenn er Misstrauen gegen sein eigens Ich gehabt hätte, um desto mehr auf Gott zu blicken. Dann wäre er imstande gewesen, das zu tun, wozu seine Liebe ihn veranlassen wollte. Tatsächlich würde er mit sich und seinen Überzeugungen nicht weit kommen, wie wir kurze Zeit später finden.

Wir hatten bereits früher gesehen, dass der Herr Jesus bis zum Ende des 25. Kapitels alle Klassen von Personen gerichtet hatte. In unserem Kapitel zeigt Er den Charakter seiner Beziehungen zu den Menschen, mit denen Er bislang engen Kontakt gepflegt hatte. Dazu gehören vor allem Maria, die Schwester von Lazarus, sowie Judas Iskariot und die Jünger. Jeder nimmt einen bestimmten Platz dem Herrn gegenüber ein.

Das sehen wir jetzt auch bei Petrus. Er besaß so viel natürliche Energie, dass er weiter als die anderen mit dem Herrn mitging; jedenfalls in seinen Worten. Kapitel 14 zeigt, dass sich dies teilweise sogar auf Handlungen wie das Gehen über Wasser ausdehnte. Aber diese natürliche Energie brachte ihn jetzt leider nur dazu, in schwierigen und prüfenden Umständen tief zu fallen. Der Herr war der einzige Mensch, der in diesen Stunden äußerster Versuchung aufrecht bleiben konnte. Petrus gehört dagegen zu den Menschen, von denen schon Salomo schrieb: „Die meisten Menschen rufen ein jeder seine Güte aus; aber einen zuverlässigen Mann, wer wird ihn finden?“ (Spr 20,6). Über sich selbst zu sprechen, ist nicht so schwer. Entsprechend auch zu handeln, fällt uns jedoch nicht leicht.

Die Antwort Jesu

Der Herr ließ diese selbstüberzeugten Worte von Petrus nicht im Raum stehen. Mit einer starken Bekräftigung antwortete Er: „Wahrlich, ich sage dir, dass du in dieser Nacht, ehe der Hahn kräht, mich dreimal verleugnen wirst.“ Das war eine konkrete Weissagung über eine dreifache Sünde dieses ersten der Jünger. Er dachte von sich, er sei besser als seine Mitjünger. Der Herr muss ihm zeigen, dass er so tief fallen würde, dass er gar nicht mehr an die anderen Jünger denken könnte. Er würde tiefer fallen als die anderen zehn.

Allein die Tatsache, dass der Herr dieses Versagen zeitlich vorhersagte, hätte den Jünger vorsichtig machen müssen. Petrus dürfte sofort gewusst haben, dass sein Meister vom nächtlichen Hahnenschrei sprach. Aber Simon Petrus ist in seiner alten Natur nicht zu bremsen: „Selbst wenn ich mit dir sterben müsste, werde ich dich nicht verleugnen“. Wenn der Herr einem Menschen etwas mitteilt, sollte dieser zuhören. Petrus wusste, dass sein Meister immer Recht behalten hatte. Es wäre für ihn gut gewesen, schnell zu lernen, dass der Herr die Wahrheit sagte. Petrus hatte seinen Herrn genauso kennengelernt. Er hätte also wissen können, was auf ihn zukam. Aber er setzte sich in maßloser Selbstüberschätzung über die Ankündigung seines Meisters hinweg. Es würde nicht lange dauern, dass er einen ersten Dämpfer erhielt – schon in Gethsemane. Aber das wäre nur der Anfang ...

Wir haben keinen Grund, mit Steinen auf Petrus zu werfen. Auch die anderen Jünger waren letztlich nicht besser, sondern sprachen ebenso. Aber sie taten es nicht ganz so lautstark wie Petrus. Und haben wir nicht in unserem eigenen Leben ebenfalls oft entdecken müssen, dass wir viel besser von uns sprachen, als es sich geziemte? Und dass wir erst recht viel besser von uns dachten, als was die Wirklichkeit offenbarte? Wie leicht vergleicht man sich mit anderen und kommt dabei nach eigener Einschätzung nicht so ganz schlecht weg. Das sollte uns zunehmend vorsichtiger machen in dem, was wir von uns denken und sagen.

Wir alle haben zu lernen, dass, wenn wir treu sein und dem Herrn hingebungsvoll nachfolgen wollen, wir uns nicht auf unsere eigene Kraft stützen dürfen. Es gehört nicht zum Wesen der neuen Natur, nach Kraftentfaltung zu trachten. Wir müssen uns vielmehr unserer eigenen Schwachheit und unseres Unvermögens bewusst sein. Dann werden wir die Kraft in dem suchen, der in uns sowohl das Wollen als auch das Wirken vollbringt (Phil 2,13). Wenn wir uns gegenüber nicht kritisch, misstrauisch und nüchtern sind, lässt Gott es zu, dass wir fallen. Dann müssen wir aus negativer Erfahrung lernen. Genauso war es bei Petrus. Bereits der erste Angriff des Feindes brachte ihn zum Wanken (Vers 51), der zweite zu Fall (Verse 69 ff.).

Der Herr Jesus in Gethsemane – die vorempfindenden Leiden des Kreuzes

„Dann kommt Jesus mit ihnen an einen Ort, genannt Gethsemane, und er spricht zu den Jüngern: Setzt euch hier, bis ich dorthin gegangen bin und gebetet habe. Und er nahm Petrus und die zwei Söhne des Zebedäus mit und fing an, betrübt und beängstigt zu werden. Dann spricht er zu ihnen: Meine Seele ist sehr betrübt bis zum Tod; bleibt hier und wacht mit mir. Und er ging ein wenig weiter und fiel auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst. Und er kommt zu den Jüngern und findet sie schlafend; und er spricht zu Petrus: Also nicht eine Stunde vermochtet ihr mit mir zu wachen? Wacht und betet, damit ihr nicht in Versuchung kommt; der Geist zwar ist willig, das Fleisch aber schwach. Wiederum, zum zweiten Mal, ging er hin und betete und sprach: Mein Vater, wenn dieser Kelch nicht vorübergehen kann, ohne dass ich ihn trinke, so geschehe dein Wille. Und als er kam, fand er sie wieder schlafend, denn ihre Augen waren beschwert. Und er ließ sie, ging wieder hin, betete zum dritten Mal und sprach wieder dasselbe Wort. Dann kommt er zu den Jüngern und spricht zu ihnen: So schlaft denn weiter und ruht euch aus; siehe, die Stunde ist nahe gekommen, und der Sohn des Menschen wird in die Hände von Sündern überliefert. Steht auf, lasst uns gehen; siehe, nahe ist gekommen, der mich überliefert“ (Verse 36–46).

Matthäus, Markus und Lukas schildern die vorherigen Verse so, als ob der Herr seine Worte an die Jünger auf dem Weg nach Gethsemane gesprochen hätte. Ein Vergleich mit Johannes 13,36-38 zeigt jedoch, dass der Herr diese Unterhaltungen sehr wahrscheinlich im Obergemach geführt hat. Dort war Er mit seinen Jüngern zum Essen des Passahmahls zusammengekommen. Matthäus berichtet diese Worte aber in Verbindung mit Gethsemane, um uns den Blick auf die Gegenüberstellung zwischen Petrus und Christus zu ermöglichen. Dieser Kontrast wird uns am Ende des Kapitels noch einmal beschäftigen. Dann geht es nicht mehr nur um die Frage praktischer Abhängigkeit und Demut, die hier im Mittelpunkt steht. In den letzten Versen des Kapitels werden uns die Folgen des Verhalten des Petrus auf der einen Seite und des Herrn Jesus auf der anderen Seite gezeigt.

Ab Vers 36 erleben wir die wohl bemerkenswerteste Stunde im Leben unseres Retters, bevor Er am Kreuz starb. Er empfand offensichtlich das Bedürfnis, sich zurückzuziehen und in dieser feierlichen Stunde so kurz vor dem Kreuz sein Herz vor seinem Vater auszuschütten. Man fragt sich, warum uns der Vater den Zugang zu dieser Szene gewährt hat und sogar gleich dreimal hat aufschreiben lassen. Es ist seine Gnade! Das, was am Kreuz in den drei Stunden der Finsternis geschah, können wir nicht erfassen. Aber diese Szene der vorempfindenden Leiden ermöglicht uns einen gewissen Einblick in die Empfindungen unseres Herrn. Wie könnten wir seinen Leiden gegenüber gleichgültig sein? Können wir dabei einschlafen? Können wir aus dieser erhabenen Szene nicht sogar etwas für unser eigenes Leben lernen, was die Haltung, die Hingabe und die Aufgabe im Gebet betrifft?

Die Bedeutung von Gethsemane

Bevor wir die Einzelheiten anschauen, sollten wir uns bewusst sein, was uns der Geist Gottes in diesen Versen gestattet. Wir haben Zugang zu der ernstesten und feierlichsten Stunde im Leben des Herrn, wenn wir von den drei Stunden der Finsternis absehen. Bei der Beschäftigung mit diesen Versen denken wir an 2. Mose 3,5: „Zieh deine Schuhe aus von deinen Füßen, denn der Ort, auf dem du stehst, ist heiliger Boden.“ Wir haben eine Szene vor uns, die unsere Herzen zur Anbetung führt. Denn um unsertwillen erlitt der Herr diese furchtbare Angst. Er, der Schöpfer, fiel als Mensch auf den Staub der Erde, die Er geschaffen hatte, um zu beten. Die Leiden des Herrn im Garten gehen über unser Fassungsvermögen hinaus. Die Reaktion der Jünger zeigt, dass die übermenschlichen Versuchungen im Leben Jesu hier ihren Anfang nahmen (vgl. dazu im Gegensatz: 1. Kor 10,13), auch wenn es in Gethsemane noch nicht um Sühnung ging.

Kein Erlöster wird je in der Lage sein, das tiefe Geheimnis der Leiden des Erlösers zu erfassen. Dann müssten wir seine herrliche Persönlichkeit verstehen können, was nach Matthäus 11,27 unmöglich ist. Nur die richtige Wertschätzung seiner Person kann uns – wenigstens teilweise – ein wenig Verständnis geben von seinen tiefen Leiden bis in den Tod. Aber es sind gerade diese heiligen Szenen, in die der Mensch in seiner Verwegenheit und Rationalität versucht hat einzudringen. Auch dadurch hat er die Person unseres einzigartigen Retters so verunehrt. In Gethsemane ging es nicht um die äußeren Umstände, die zu seinem Tod führten. Der Herr wich auch nicht einen Augenblick zurück vor den körperlichen Leiden und den brutalen und seelischen Verfolgungen am Kreuz. Diese hatte Er während seines Lebens mehrfach angekündigt. Aber das war nicht das, womit Er sich in Gethsemane beschäftigte.

Was aber war dann der Kelch, den Er fürchtete, der Angst (Vers 37) bei Ihm auslöste? Was war die Betrübnis bis zum Tod? Es war die Tatsache, dass der Fleckenlose, der das Bild Gottes ist, am Kreuz in drei Stunden der Finsternis zur Sünde gemacht werden sollte. Dort sollte Er in der Gegenwart Gottes stehen, nicht länger als der Geliebte, sondern an der Stelle der Sünder. Er würde dort zur Sünde gemacht. Das Angesicht Gottes, auf das Er immer geblickt hatte, das Ihn immer mit Freude betrachtet hatte, sollte sich vor Ihm verbergen. Die ewige Liebe, die Er immer genossen hatte, sollte in diesen drei Stunden nicht zu Ihm ausfließen können. An ihrer Stelle standen das Gericht und Zorn Gottes über die Sünde.

Was bedeutet es, wenn Er zur Sünde für uns gemacht werden sollte? Dieser schreckliche Schrei von dem Kreuz gibt uns die Antwort: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Was beinhaltete dieser Schrei für den Heiligen? Werden wir jemals die Tiefen und das Ausmaß der schrecklichen Leiden des Einen kennen, der für uns zur Sünde gemacht wurde? Genau vor dieser Trennung von seinem Gott schreckte seine heilige Seele zurück. In den drei Stunden würden unsere Sünden und die Strafe für unsere Sünden auf Ihm liegen – das konnte Er nicht für sich wünschen. Seine Heiligkeit und Vollkommenheit wären befleckt worden, wenn Er davor nicht zurückgeschreckt wäre. Er konnte nichts anderes tun, als sich davor zu scheuen. Und doch beugt Er sich in vollkommener Unterordnung und in Gehorsam unter den Willen seines Vaters. „Doch nicht wie ich will, sondern wie du willst.“

Johannes führt uns nicht zu diesem Gebet. Er stellt uns den ewigen Sohn Gottes vor, der in allem der Handelnde war. Er führte den Ratschluss Gottes aus und opferte sich selbst als Brandopfer für Gott. In dieses Gemälde passt dieses intensive Gebet größter Abhängigkeit nicht hinein. Denn alle Aktivität ging von Ihm aus, der die Welt in seinen Händen trug.

Psalm 102 und Gethsemane

Der 102. Psalm könnte mit „Gethsemane-Psalm“ überschrieben sein. Er beginnt mit der tiefsten Bedrängnis Jesu, wie Er sie in diesem Garten empfunden hat. Und er endet mit der ewigen Herrlichkeit dessen, der in solchen Leiden war. Man kann auch an Klagelieder 1,12 denken, gerade, wenn man an das Thema des Matthäusevangeliums denkt: „Merkt ihr es nicht, alle, die ihr des Weges zieht? Schaut und seht, ob ein Schmerz ist wie mein Schmerz, der mir angetan wurde, mir, die [eigentlich geht es um die Leiden der Stadt Jerusalem, um die künftigen Leiden der Treuen in Juda, mit denen sich der Herr Jesus einsmacht] der Herr betrübt hat am Tag seiner Zornglut.“

Die letzten Verse des 102. Psalms sind, wie Hebräer 1 deutlich macht, eine Antwort Gottes auf die Leiden des Herrn. „Du hast einst die Erde gegründet, und die Himmel sind deiner Hände Werk. Sie werden untergehen, du aber bleibst; und sie alle werden veralten wie ein Kleid; wie ein Gewand wirst du sie verwandeln, und sie werden verwandelt werden; du aber bist derselbe, und deine Jahre enden nicht“ (Ps 102,26-28; Heb 1,10-12). Im Neuen Testament denken wir zudem an Hebräer 5,7.8, wenn wir über Gethsemane nachsinnen. Auch hier finden wir nicht, dass Jesus darum bat, vor dem Tod bewahrt zu werden, sondern aus dem Tod! Darum geht es in Gethsemane.

Matthäus zeigt uns nicht die göttliche Person des ewigen Sohnes Gottes, wie wir sie im Johannesevangelium finden. Matthäus spricht auch nicht so sehr von dem Menschen, der in Abhängigkeit alles das, was äußerlich und innerlich auf Ihn einstürmt, im Gebet überwindet. Lukas zeigt uns den Gehorsam und die Gnade des vollkommenen Menschen. Er beschreibt die Ausgewogenheit in dem wahren und makellosen Opfer Jesu Christi. Matthäus spricht vom König, der bereit ist, um des Ratschlusses des Vaters willen zu leiden. Er wollte sein Volk erretten und zugleich den Weg für die Nationen freimachen.

Verse 36–38: Die äußeren Umstände in Gethsemane

Der Herr kommt mit den Elfen nach Gethsemane. Dieser Ort bedeutet übersetzt: Ölpresse. Der Ölbaum ist in der Schrift immer wieder ein Bild des Volkes Israel (vgl. Röm 11,17.24; Ri 9,8.9; Jer 11,16). An ihrer Stelle würde Er in das Gericht Gottes gehen, in diese Presse der Prüfung. Acht von seinen Jüngern lässt der Herr zurück. Drei von ihnen aber lässt Er noch weiter mit sich gehen. Was Er jetzt tun wollte, war keine Sache der Gemeinschaft. Er konnte das Erlösungswerk nur alleine vollbringen. Auch diese vorempfindenden Leiden der Sühnungsstunden konnte niemand mit Ihm teilen. Aber Er wollte doch, dass die drei Jünger, die Ihm am nächsten standen, etwas davon erleben sollten, was Ihn bewegte. Es kam Ihm nicht auf eine große Anzahl an. Der Herr nahm nur drei seiner Jünger mit sich, damit sie in diesem feierlichen Augenblick, wo ihr Herr in die Einsamkeit ging, um dem Vater die Ihm bevorstehenden Leiden im Gebet vorzutragen, mit Ihm wachen könnten. Es ging also nicht um Gemeinschaft im Segen, sondern um Gemeinschaft im Wachen (vgl. Vers 38).

Schon auf dem Berg der Verklärung waren diese drei Jünger bei Ihm gewesen, auch bei der Auferweckung der Tochter von Jairus. Es waren auch gerade diese drei Jünger, die – zusammen mit Andreas – die prophetische Rede des Herrn gehört hatten (Mt 24.25; vgl. Mk 13,3). Wie sie seine Herrlichkeit im Reich und seine Auferstehungsmacht gesehen hatten, sollten sie jetzt auch seine Leiden mit ansehen dürfen. Gott wollte, dass diese Jünger etwas von den Leiden des Todes, von seiner Auferstehungsmacht, von der Herrlichkeit seines Reiches und von den Wegen Gottes mit den Menschen kennen würden. Matthäus nennt nur Petrus mit Namen, nicht jedoch Johannes und Jakobus, die der Geist Gottes hier Söhne des Zebedäus nennt. Ein Grund dafür mag darin liegen, dass es auch hier um die Unterscheidung von Petrus und dem Herrn gehen sollte. Der Selbstüberschätzung des Petrus stand die vollkommene Abhängigkeit Jesu gegenüber.

Er fing nun an, betrübt und beängstigt zu werden. Gerade seine Vollkommenheit ließ Ihn zurückschrecken vor all dem, was diese Leiden als Gericht Gottes enthielten. Als vollkommener Mensch durfte Er von den ausgewählten Jüngern Mitgefühl erwarten, doch es erfüllte sich das Wort aus Psalm 69,21: „Ich habe auf Mitleid gewartet, und da war keins, und auf Tröster, und ich habe keine gefunden.“

Der Herr ruft seine drei Jünger auf, mit Ihm zu wachen. Am Kreuz finden wir keinen solchen Aufruf an die Jünger. Dort war Er endgültig und absolut allein. Denn dort litt Er für uns, für unsere Sünde. Da war kein Mensch oder Engel in irgendeiner Weise oder irgendeinem Maß mit Ihm verbunden oder Ihm nahe (moralisch gesprochen). Er war ganz allein, als Gott Ihn verließ und sein Angesicht vor Ihm verbarg. Nur im Nachhinein gibt es hier eine gewisse Gemeinschaft. Das ist keine Anteilnahme im eigentlichen Sinn. Es ist letztlich nur Bewunderung, die wir dem Herrn hier entgegenbringen können. Paulus hatte später den Wunsch, um Christi willen „ihn [zu] erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden, indem ich seinem Tod gleichgestaltet werde“ (Phil 3,10). Aber das waren nicht die sühnenden Leiden, sondern die Leiden von Seiten der Menschen und der Tod Christi.

Wachen

Man fragt sich, worin das hier vom Herrn genannte „Wachen“ eigentlich bestand. Es kann ja nicht einfach darum gehen, dass die Jünger nicht einschlafen sollten. Die drei Jünger sollten auch nicht für den Herrn Jesus beten. Dieser Gedanke wäre grundverkehrt, als ob der Herr die Gebete der Seinen nötig gehabt hätte. Darum bittet Er an keiner Stelle. Nein, Ihm musste niemand beistehen, damit Er bereit wäre, den Kelch der Leiden aus den Händen des Vaters anzunehmen.

Christus war immer wachsam, auch hier. Der Teufel hat nichts in dem Herrn Jesus gefunden, wo er hätte anknüpfen können, um Ihn zu Fall zu bringen (vgl. Joh 14,30). Doch der Herr Jesus ist vollkommen Mensch und hat tief empfunden, was jetzt auf Ihn zukommen würde: das Gericht Gottes über unsere Sünden.

Nun suchte Er solche Herzen, die mit Ihm Gemeinschaft hätten, die ein Mitempfinden hätten, dass schwere Stunden vor Ihm lagen. Er suchte Mitleiden, die Er aber nicht fand (Ps 69,21). Die Jünger konnten nicht erfassen, was der furchtbare Inhalt dieser drei Stunden am Kreuz sein würde. Aber sie konnten bis zu einem gewissen Grad an den Empfindungen des Herrn teilnehmen. Der Herr rechnete das den Jüngern zu: „Ihr seid es, die mit mir ausgeharrt haben in meinen Versuchungen“ (Lk 22,28). Hier aber versagten sie – und Gott sendet dem Herrn einen Engel, der Ihn äußerlich stärkte.

Die Jünger kamen in eine äußerst angespannte Situation hinein. Der Herr nennt sie die Stunde der Gewalt der Finsternis (Lk 22,53). Die Jünger standen in Gefahr, durch körperliche und geistliche Schwachheit von einer Haltung des Gebets zu Gott, dem Vater, abgehalten zu werden. Satan stand vor der Tür und wollte die Jünger davon abhalten, sich auf die Seite ihres Meister zu stellen. Er wollte verhindern, dass sie Ihn bis zur Kreuzigung begleiteten. Er wollte sie von einer Haltung größter Andacht, Wachsamkeit und innerer Stille abhalten.

Bei dem Herrn konnte der Widersacher das nicht tun. Er betete und blieb seinem Gott in allem hingebungsvoll zugewandt. Die Jünger sollten es Ihm gleichtun, auch wenn sie nicht im Blick auf sein Sühnungswerk beten konnten. Dazu aber mussten sie auf der Hut sein.

Vers 39: Das erste Gebet Jesu

Wenn wir diesen heiligen Moment im Leben unseres Herrn nachempfinden wollen, müssen wir uns fragen: Wer außer seinem Vater vermochte die ganze Tragweite eines solchen Augenblicks zu erfassen? „Mein Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ Der Herr Jesus spricht dieses schwere Gebet im vollen Bewusstsein seiner Beziehung zu seinem himmlischen Vater. Erst am Kreuz in den sühnenden Leiden sagt Er: „Mein Gott ...“ In Gethsemane kann Er die Gemeinschaft mit seinem Vater trotz der großen Leiden und der Angst genießen. Am Kreuz gibt es in den drei Stunden der Finsternis diese Gemeinschaft mit seinem Gott nicht mehr.

Dennoch sehen wir hier etwas von dem, was der Kelch für Ihn bedeutete: Was für ein Kummer, was für eine Pein, was für Leiden! Aber bevor unser Herr die Leiden von Seiten der Menschen auf sich nahm, betete Er im Blick auf das, was viel schwerer auf seiner Seele lag: die sühnenden Leiden vonseiten Gottes. Diese trug Er seinem Vater vor. Er durchlebte sie im Geist, bevor Er sie an seinem Leib und in seiner Seele wirklich erduldete. Dabei vergessen wir nicht, dass es hier um einen Höhepunkt geht. Denn hier begegnete Christus den Schrecken des Todes – und was für eines Todes! –, die der Fürst dieser Welt auf Ihn lud. Aber dieser fand nichts in Ihm (Joh 14,30). So konnte in der Stunde, als die Leiden wirklich über Ihn kamen, Gott in Ihm, dem Sohn des Menschen, verherrlicht werden.

Nicht alles wird uns mitgeteilt, was der Herr in der einen Stunde in Gethsemane betete. Auch ein Israelit konnte nicht in das Speisopfer hineinsehen, das im Ofen gebacken wurde (3. Mo 2,4). Aber das Speisopfer im Napf und in der Pfanne konnte er sehen. So wird uns diese eine Bitte unseres Herrn mitgeteilt, die vielleicht die zentrale Bitte in dieser Stunde bildete, die der Herr auf seinem Angesicht lag.

Der Kelch des Grimmes Gottes

Noch trank Jesus den Kelch des Ratschlusses Gottes und des Zorns Gottes über die Sünde und die Sünden nicht, aber dieser stand vor seinen Augen. Am Kreuz trank Er ihn, als Er für uns zur Sünde gemacht wurde und seine Seele von Gott verlassen wurde. Andeutungen dieses Kelches finden wir bereits im Alten Testament. In Psalm 11,5.6 lesen wir, dass der Becher des Zorns über die Sünder schrecklich ist. Genau diesen Becher über die Sünde musste Christus leeren: „Der Herr prüft den Gerechten; aber den Gottlosen und den, der Gewalttat liebt, hasst seine Seele. Er wird Schlingen auf die Gottlosen regnen lassen; Feuer und Schwefel und Glutwind wird das Teil ihres Bechers sein.“ Ähnlich ist es in Psalm 75,8.9: „Denn Gott ist Richter; diesen erniedrigt er, und jenen erhöht er. Denn ein Becher ist in der Hand des Herrn, und er schäumt von Wein, ist voll von Würzwein, und er schenkt daraus ein: Ja, alle Gottlosen der Erde müssen seine Hefen schlürfend trinken.“

Jesaja spricht von dem Becher des Grimmes Gottes: „Erwache, erwache; steh auf, Jerusalem, die du aus der Hand des Herrn den Becher seines Grimmes getrunken hast! Den Kelchbecher des Taumels hast du getrunken, hast ihn ausgeschlürft ... So spricht der Herr, dein Herr, und dein Gott, der die Rechtssache seines Volkes führt: Siehe, ich nehme aus deiner Hand den Taumelbecher, den Kelchbecher meines Grimmes; du wirst ihn fortan nicht mehr trinken“ (Jes 51,17.22). Das ist das Gericht über Israel, das unser Herr am Kreuz auf sich genommen hat. „Doch um unserer Übertretungen willen war er verwundet, um unserer Ungerechtigkeiten willen zerschlagen. Die Strafe zu unserem Frieden lag auf ihm, und durch seine Striemen ist uns Heilung geworden ... der Herr hat ihn treffen lassen unser aller Ungerechtigkeit“ (Jes 53,5.6).

Das Gericht hat aber nicht nur mit Israel zu tun, sondern auch mit den Nationen: „Denn so hat der Herr, der Gott Israels, zu mir gesprochen: Nimm diesen Becher Zornwein aus meiner Hand und gib ihn allen Nationen zu trinken, zu denen ich dich sende; damit sie trinken und taumeln und rasen wegen des Schwertes, das ich unter sie sende“ (Jer 25,15.16).

Wenn wir bedenken, was für ein Gericht durch diesen Kelch symbolisiert wird, sehen wir etwas davon, was die Seele Jesu im Vorgefühl der Schrecken des Todes empfunden haben muss. Das volle Ausmaß dieses Gerichtes konnte nur Er selbst kennen. Der Tod hatte seinen Stachel noch nicht verloren. Wir wissen, dass der Teufel die Macht des Todes besitzt (vgl. Heb 2,14). Auch damals besaß der Tod den vollen Charakter des Lohnes der Sünde, des Fluches und des Gerichtes Gottes.

Wir lesen hier, dass der Herr angesichts der Schwere dieses Todes und des Werkes am Kreuz wachte und betete. Er wurde in seinen Gedanken und Empfindungen, auch in seiner Gesinnung nicht schläfrig, sondern ging diesen Weg aus Liebe und Hingabe für seinen Gott. Hier war Er als Mensch diesem Sturm preisgegeben, weil Er seinen Vater liebte, dessen Ratschluss Er ausführen wollte. Und weil Er uns liebte, die Er an das Herz seines Vaters bringen wollte. So ließ Er sich durch nichts, nicht einmal in der schwersten Stunde, die Er vor dem Kreuz erlebte, von dem Weg des Gehorsams abbringen. Wir lesen von Betrübnis und Beängstigung. Diese Angst trieb Ihn nur umso mehr in die vollständige Unterwerfung und das völlige Vertrauen zu seinem Vater. Ihm wollte Er sich ganz ausliefern. Denn Er war gekommen, um seinen Willen zu tun (Heb 10,7).

Wir wollen dabei bedenken, dass Er als wahrer Mensch einen eigenen Willen besaß, einen Willen, der in jeder Hinsicht vollkommen war. Es war richtig, dass Er die schrecklichen Leiden der drei Stunden am Kreuz scheute. Und dennoch bittet Er, dass der Wille seines Vaters getan würde, nicht sein eigener. Denn Er wusste, dass Er sich diesem Willen ausliefern musste, wenn ein Mensch errettet und der Vater vollkommen verherrlicht werden sollte. Auch wenn Er in übernatürlicher Weise geprüft werden und durch ein göttliches Gericht des Feuers gehen musste, so war Er dazu bereit. Denn es war der Wille seines Vaters. Vorher aber war es nötig, dass Er wachte und betete. Denn die Leidenszeit in Gethsemane forderte Ihn und seine Hingabe bis aufs Äußerste.

Satan in Gethsemane?

Oftmals ist gefragt worden, welchen Anteil Satan an diesen Stunden in Gethsemane hat. Wir müssen dabei zunächst feststellen, dass die Schrift überhaupt nicht von diesem Feind Christi redet, wenn es um Gethsemane geht. Das macht uns sehr vorsichtig. Dagegen hörten wir in Lukas 22,53: „Dies ist eure Stunde [die Stunde des Menschen] und die Gewalt der Finsternis [die von Satan beherrscht wird].“ Das ist ein klarer Hinweis darauf, dass Satan bei der Gefangennahme des Herrn und dann am Kreuz beteiligt war. Nicht an den sühnenden Leiden, wohl aber an der Kreuzigung und den Schandtaten der Menschen.

Dennoch lesen wir in Matthäus 26,38, dass unser Herr zu seinen Jüngern sagt: „Wacht mit mir.“ Also hat auch unser Herr gewacht. In welcher Hinsicht? Er besaß im Gegensatz zu uns keine alte Natur, da Sünde nicht in Ihm ist. Kurze Zeit später spricht Er von Versuchungen (Vers 41). Wer war der Versucher hier, wenn nicht Satan? Der Herr bezieht sich in Vers 41 auf die Jünger. Aber wenn Satan diese bedrängt, würde er vor dem eigentlichen Ziel seiner hasserfüllten Angriffe haltmachen?

So kann man doch den Eindruck gewinnen, dass Satan hier mit Macht auch auf Christus eindrang. Wollte er Ihn, wie Petrus zuvor, davon abbringen, das Werk zu erfüllen? Bot er Ihm noch einmal an, Ihm alles zu schenken, wenn Er sich ihm unterwarf, wie Er es schon bei den drei Versuchungen getan hatte? Lukas sagt uns am Ende der Versuchungen: „Und als der Teufel jede Versuchung vollendet hatte, wich er für eine Zeit von ihm“ (Lk 4,13). Er sollte wiederkommen. Ob es nicht schon in Gethsemane gewesen ist? Wir müssen das letztlich offenlassen, weil Gott darüber nicht klar spricht.

Bewusste Abhängigkeit von Gott

Eines ist klar, die Jünger haben sich durch ihr Verhalten, nicht zu wachen und zu beten, in die Versuchung des Teufels begeben. Der Herr aber kam nicht in die Versuchung. Der Versucher, der Teufel, mochte das beabsichtigen. Aber der Herr ließ das nicht zu, weil Er wachte. Und weil Er alles aus der Hand des Vaters annahm. Mochten die Umstände noch so schrecklich sein; mochten die Menschen, die den Herrn mit Gewalt und Brutalität erwarteten, noch so viele sein: Der Herr ließ sich nicht durch die Umstände und Menschen innerlich gefangen nehmen. Er fühlte diesen Hass und diese Gewalt der Finsternis, aber Er sah auf seinen Vater. In vollkommener Abhängigkeit, die sich im Gebet ausdrückt, lebte Er auch in diesen schweren Stunden in Gemeinschaft mit seinem Vater.

Der Unterschied zwischen dem Herrn und den Jüngern wird am deutlichsten, wenn man den Gegensatz zwischen Petrus und Christus betrachtet. Petrus kam jetzt in die Versuchung Satans, der Herr überhaupt nicht. Dabei war das, was Jesus bevorstand, viel schlimmer als das, womit Petrus es zu tun hatte. Petrus schlief. Der Herr dagegen schlief nicht und versuchte nicht, den Bedrängnissen, die für Ihn sogar den Tod einschlossen, durch Schlaf zu fliehen. Er ging einen Steinwurf weiter und betete zu seinem Vater. Seine Augen blieben nicht auf die Umstände gerichtet, um über diese nachzudenken. Er sah auf zu seinem Vater. In viel intensiverem Maß fühlte Er, was auf Ihn zukam. Deshalb betete Er zu dem Vater über den Kelch. Er war sich seiner Schwachheit als Mensch, also seiner vollkommenen Abhängigkeit von Gott bewusst. Und genau das war seine Stärke.

Daraus lernen wir, dass wir der Versuchung Satans entgehen, wenn wir uns dieser Schwachheit bewusst sind, indem wir uns vollkommen von Gott abhängig fühlen. Für den Herrn war das, was bevorstand, keine Versuchung Satans, sondern der Kelch des Vaters. Er stand nicht vor dem Widersacher, sondern vor seinem Vater. Er sieht nicht auf Pilatus oder Judas, sondern zu seinem Vater.

Dieses Bewusstsein seiner menschlichen Schwachheit, die bei Ihm überhaupt nichts mit Sünde oder mit den Folgen der Sünde zu tun hat, wird in seinem Gebet in Psalm 22 deutlich: „Wie Wasser bin ich hingeschüttet und alle meine Gebeine haben sich zertrennt“ (Vers 14).

Petrus war sich dieser Schwachheit nicht bewusst. Er hat nicht verstanden, dass der Herr ihm sagt: „Der Geist zwar ist willig, das Fleisch aber schwach“ (Mt 26,41). Und deshalb mangelte es bei Petrus an Gebet. Während der Herr betete, schlief Petrus. Er wachte nicht, er sah nicht, dass er schwach war, und er sah nicht auf Gott, der ihm jede Kraft und Bewahrung geschenkt hätte.

Die Unterschiede in den Evangelien

Die Evangelisten geben die Gebete des Herrn mit unterschiedlichen Worten wieder. Damit stehen sie jedoch nicht im Widerspruch zueinander. Vielmehr zeigt die jeweilige Berichterstattung eine unterschiedliche Herrlichkeit Jesu in seinen Leiden. Der Heilige Geist wählt entsprechend dem Charakter jedes Evangeliums aus.

  • Markus: „Abba, Vater, alles ist dir möglich; nimm diesen Kelch von mir weg!“ Der Diener hat eine besondere Beziehung zu seinem himmlischen Vater. Er ist sich bewusst, dass Er als Diener von dem Allmächtigen abhängig ist. Dieser kann den Kelch von Ihm wegnehmen – oder nicht. Es steht in der Macht des Vaters. Als Diener ordnet Er sich Ihm in allem unter.

    Lukas: „Vater, wenn du willst, so nimm diesen Kelch von mir weg.“ Der Mensch Jesus braucht keine langen Worte zu seinem Vater zu sprechen. Er unterwirft sich als Mensch dem Willen seines Vaters. Wenn es dessen Willen entspricht, sollte Er den Kelch von Ihm wegnehmen. Der demütige Mensch ist seinem Vater auch hier in allem gehorsam.

    Matthäus: „Mein Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber.“ Der Messias ist an und für sich souverän. Daher bittet Er nicht direkt darum, dass Gott Ihm diesen Kelch der Leiden wegnehmen solle. Aber wie sollte der König wünschen, den Kelch des Zornes Gottes leeren zu müssen? Das war undenkbar. So sollte, wenn es überhaupt möglich war, dieser Kelch an Ihm vorübergehen.
  • Markus: „Doch nicht, was ich will, sondern was du willst!“ Der Knecht tut nur das, was sein Herr will.

    Matthäus: „Doch nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ Bei dem König war es nicht eine Frage des „was“, denn Er besaß selbst Autorität. Aber das „wie“ war hier von Bedeutung. Er war bereit, was den Weg betraf, den Gott mit Ihm gehen wollte, sich diesem ganz auszuliefern.

    Lukas: „Doch nicht mein Wille, sondern der deine geschehe.“ Beim Menschen geht es um den Willen und die Bereitschaft, sich dem Willen Gottes unterzuordnen. Der Wille des Vaters sollte entscheiden. Es war die vollständige Auslieferung an seinen Vater, sowohl was das „was“ als auch was das „wie“ betraf.
Vers 40.41: Der Herr wacht ganz allein

Der Herr hatte intensiv gebetet und gewacht. Seine Jünger, die meinten, dass sie selbst in den schwersten Stunden treu auf der Seite des Herrn stehen würden, waren dagegen eingeschlafen. Sie waren nicht einmal in der Lage, auch nur eine Stunde mit Ihm wachen.

Jesus spricht nicht die Jünger insgesamt an, sondern denjenigen, der sich zum Sprecher dieser und zum herausragenden Zeugen Jesu gemacht hatte. Schon bei der ersten Gelegenheit und Herausforderung, seinen Worten aus den vorherigen Versen Taten folgen zu lassen, hatte er versagt. Und doch sind wir erstaunt, in was für einer zarten Weise der Herr ihn an sein falsches Vertrauen erinnert. Wie hätten diese Worte das Herz von Petrus treffen und ihn zu größerer Wachsamkeit veranlassen sollen.

In diesen Versen erkennen wir darüber hinaus den außerordentlichen Unterschied zwischen dem Christus Gottes und allen anderen Menschen. Jeder von ihnen versagt früher oder später. Obwohl der Herr den größten Prüfungen von allen ausgesetzt war, sehen wir Ihn in vollkommener Ruhe und Hingabe im Gehorsam – bis zum Ende.

Wir haben darüber nachgedacht, dass die Jünger später in den sühnenden Leiden am Kreuz kein Teil mit Christus haben konnten. Aber konnte Er nicht hier von ihnen eine gewisse Gemeinschaft im Wachen mit Ihm erwarten? Die Worte des Herrn klingen nicht enttäuscht, da Er von seinen Jüngern nicht enttäuscht werden konnte. Er wusste, was in ihren Herzen war. Aber seine Hinweise zeigen, dass Er tief empfand, dass Er schon hier ganz allein in seiner Hingabe und Wachsamkeit war. In den Zeiten größter Nöte können unsere Herzen taub und unsensibel sein, weil wir nicht in der Lage sind, in die Gedanken des Herrn einzugehen. Ist denn eine Stunde wirklich zu lang, um Mitleid mit seinen Leiden zu haben? Der Herr jedenfalls hatte eine Stunde im Gebet vor seinem Vater verharrt. Natürlich vergessen wir nicht, dass es hier mitten in der Nacht war. Die Jünger waren verständlicherweise müde, nach einem langen Tag. Aber hatte ihr Meister nicht den ganzen Tag über viel mehr getan als sie? Und auch Er war vollkommener Mensch. So begegnet seine Seele Schritt für Schritt zunehmenden Leiden, ohne dass Er in irgendeiner Weise Erleichterung geschenkt bekommen hätte. Das ist das Teil des Schuldopfers, wie es uns Matthäus vorstellt.

Drei Jünger hatte der Herr ausdrücklich gebeten, mit Ihm zu wachen. Es waren die drei Jünger, die auch schon bei seiner Verherrlichung geschlafen hatten (Lk 9,32). So finden wir hier wie dort das schwache Fleisch der Jünger. Bis zu diesem Augenblick war noch nicht offenbart, dass der Gläubige noch eine alte, sündige Natur trägt. Nein, das Fleisch ist hier ein Ausdruck der Hinfälligkeit des Menschen, der unter den Folgen des Sündenfalls leidet. Was für ein Unterschied zu Jesus zeigte sich bei den Jüngern, als die Versuchung kam. Dabei waren die Umstände für sie nur ein schwacher Schatten von dem, was Er erleiden musste.

In Vers 41 lesen wir nicht mehr, dass der Herr verlangte, dass die Jünger mit Ihm wachten. Er gibt sich damit zufrieden, dass sie für sich selbst wachten. Sie sollten sich ihrer Schwachheit bewusst sein und sich daher nicht einer Prüfung aussetzen, der sie nicht gewachsen waren. Petrus wird später an diese Worte seines Meisters zurückgedacht haben. Dass ihr Geist willig war, hatten sie mehrfach durch ihre Worte ausgedrückt. Aber das Fleisch war schwach – das zeigte sich an ihren Taten. Wir haben keinen Anlass, auf die Jünger herabzuschauen. Von uns wäre jeder, der in der damaligen Situation gewesen wäre, in gleicher Weise gescheitert und gefallen. Wir besitzen heute den Heiligen Geist. Und dennoch benehmen wir uns oft noch schlimmer als die Jünger damals ...

Verse 42–44: Das zweite und dritte Gebet

Es ist beeindruckend, wie der Herr sich seinen Jüngern zuwandte und dann wieder zu seinem Vater zurückkehrte. Er war bereit, den Kelch zu trinken. Aber Er nahm ihn aus den Händen seines Vaters. Denn es war dessen Wille, dass Er ihn trinke. Wir wollen festhalten: Christus nahm den Kelch weder aus der Hand der Feinde noch aus der von Satan. Er stand allein vor seinem Vater.

Wie lehrt uns auch dieses zweite Gebet die Bereitschaft des Messias, sich seinem Vater zu unterwerfen. Unterordnung und Gehorsam spricht aus allem heraus, was Er betet. Dabei atmet das zweite Gebet ein im Vergleich zum ersten Gebet noch weitergehenderes Bewusstsein, dass es für Ihn keinen anderen Weg geben konnte. Ohne sühnende Leiden war keine Erlösung des Volkes Israel und des Menschen überhaupt möglich. Im ersten Gebet musste zunächst deutlich werden, dass der Herr Jesus als Mensch unmöglich wünschen konnte, zur Sünde gemacht zu werden. Daher spricht Er dort von der Möglichkeit des „Vorübergehens“. Beim ersten Gebet wartete Jesus noch auf eine Antwort seines Vaters.

Jetzt aber wird noch deutlicher, dass es keinen anderen Weg geben konnte, und der Herr geht diesen Weg freiwillig: „Wenn dieser Kelch nicht vorübergehen kann, ohne dass ich ihn trinke, so geschehe dein Wille.“ Man könnte ergänzen: „Wenn dieser Kelch also nicht vorübergehen kann, ohne dass ich ihn trinke, ...“. Der Wille des Vaters stand über allem. Es ist das höchste und schönste Gebet, das wir uns vorstellen können: „Es geschehe dein Wille“. Gerade Matthäus betont, mehr als die anderen Evangelisten, die Unterwerfung Jesu unter den Willen Gottes. Das macht diese Begebenheit so besonders zu Herzen gehend.

Die Jünger hatten aus den Worten des Herrn nach seinem ersten Gebet nichts gelernt. Sie schliefen schon wieder, denn ihre Augen waren beschwert. Ihre natürlichen Bedürfnisse hinderten sie daran, an den geistlichen Bedürfnissen des Herrn Anteil zu nehmen. Der Herr wusste, dass Er nicht auf sie rechnen konnte und ging ein drittes Mal hin, um dasselbe Wort zu sprechen. Er forderte sie nicht noch einmal auf zu wachen. Denn Er wusste, dass sie dazu nicht in der Lage waren. Er war und blieb allein in seiner Weihe für Gott.

Wer vermag die Beängstigungen und die Betrübnis der Seele unseres geliebten Herrn zu ermessen? Vor sich sah Er Satan in seiner ganzen Macht des Todes (Heb 2,14) und vor allem die drei Stunden der Finsternis des Gerichtes Gottes. Auch beim dritten Mal liefert sich der leidende Herr ganz dem Willen seines Vater aus. Allerdings sollten wir nicht denken, dass die drei Gebete einfach Wiederholungen waren. Nein, jedes einzelne Gebet war ein Gebet seines Herzens, indem Er seine Empfindungen vor Gott ausbreitete. Seine Seele war so betroffen, dass diese Worte seine tiefsten inneren Gefühle ausdrückten. Es war gewissermaßen die göttliche Zahl drei, die seine Gebete kennzeichnete. Mit dem dritten Gebet schloss Er dieses so wichtige Kapitel vor dem Kreuz ab. Er hatte die ganze Last seiner Seele vor Gott ausgebreitet. Aber nach dem dritten Gebet lag alles in den Händen Gottes, seines Vaters. Er würde gerecht handeln. Und Jesus hatte sich so deutlich wie nie zuvor als der völlig reine Mensch erwiesen, der die Abscheulichkeit der Sünde kannte und – wenn irgend möglich! – keinen Kontakt mit ihr haben wollte.

Vers 45.46: Ruhe für die Jünger – Überlieferung für Christus

Wir wären enttäuscht, wenn wir keine mitfühlenden und mitwachenden Mitstreiter hätten, gerade dann, wenn wir darum gebeten hätten. Was für eine Liebe und Gnade strahlt demgegenüber aus den Worten des Herrn. Künftig konnten nun seine Jünger, die in dieser Situation versagt hatten, wahre Ruhe genießen. Denn Er, der Gerechte, der Unschuldige, stand im Begriff, den Tod zu erdulden, den sie verdient hatten. Er würde ihnen Ruhe verschaffen (vgl. Mt 11,28). Seine Liebe war nicht nur stärker als der Schlaf, sie war vor allem stärker als der Tod (Hld 8,7).

Die dauerhafte Ruhe der Jünger war nicht abhängig von ihrem Wachen oder Werk. Gott sei Dank! Sie hing allein von der Treue und Hingabe Christi ab, der gehorsam war bis zum Tod, sogar dem Tod am Kreuz.

Man kann bei diesen Worten Jesu sicher auch daran denken, dass ein Wachen mit dem Herrn nicht mehr nötig war, weil der Herr sein Gebet nun beendet hatte. So lässt der Herr seine Jünger gewissermaßen weiterschlafen. Er wusste, dass nur Er das Werk der Erlösung vollbringen könnte. Nun würde Er als Sohn des Menschen nicht nur für die Juden, sondern im Blick auf die ganze Welt Rettung schaffen. Dazu war es nötig, in die Hände von Sündern überliefert zu werden. Wie mag Ihn allein dieser Ausdruck „Sünder“ innerlich betroffen gemacht haben. Denn Er empfand, was Sünde in den Augen Gottes war. Er war ja selbst der heilige Gott. Und es war Leid für Ihn, von Sündern angefasst und misshandelt zu werden.

Dennoch bleibt der Herr der Handelnde, der alles Wissende. Daher kann Er die Jünger auffordern aufzustehen. Judas, sein Überlieferer, war nahe gekommen. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern, bis der Messias von seinem eigenen Volk ans Kreuz geschlagen würde.

Einige praktische Bemerkungen zu den Gebeten Jesu

Zum Abschluss dieses Teils möchte ich noch praktische Bemerkungen für unsere Zeit machen. Natürlich sind diese Gebete des Herrn einzigartig. Keiner von uns wäre in der Lage, ein solches Werk zu vollbringen. Keiner von uns wird je in eine vergleichbare Situation kommen, wie wir sie in Gethsemane vorfinden. Darum kann es also nicht gehen.

Aber die Hingabe unseres Herrn, seine Auslieferung an den Willen seines Vaters ist beispielgebend auch für uns. Es gibt manche Situationen, in denen wir eine bestimmte Vorstellung haben, wie es weitergehen könnte. Das ist nicht verkehrt. Aber sind wir bereit, den Willen des Vaters und seinen Weg nicht nur zu akzeptieren, sondern sogar zu wünschen: „Nicht wie ich will, sondern wie du willst!“?

Vielleicht kommen wir in große Not, in der wir keinen Ausweg sehen, als nur einen Weg, der uns gut erscheint. Gerade dann kommt es darauf an, den eigenen Wunsch im Gebet vor den Vater zu bringen. Aber es ist zugleich wichtig zu bitten, dass sein Wille und allein der Seine geschehe. Dazu gehört Selbstverleugnung und Demut. Gerade das lernen wir bei unserem Herrn und Meister.

Bemerkenswert ist sicher auch, dass wir noch ein zweites Mal im Neuen Testament lesen, dass jemand dreimal gebetet hat. Wir finden das bei Paulus, nachdem er einen Dorn für das Fleisch bekommen hatte. Bei ihm war es, weil er in Gefahr stand, sich wegen der außergewöhnlichen Offenbarungen zu überheben (vgl. 2. Kor 12,7 ff.). Beim Herrn Jesus ging es um sein bevorstehendes Erlösungswerk, bei Paulus ging es darum, dass er im Dienst nützlich bleiben sollte.

Als es um andere ging, betete er in jedem seiner Gebete für sie (Phil 1,4). Als es um ihn selbst und seine Leiden handelte, betete er dreimal (2. Kor 12,8). Dann gab ihm Gott zu verstehen, dass es genug war. Er sollte sich damit begnügen, die Gnade Gottes anzunehmen. So lernen wir, dass, wenn es um uns selbst geht, wir nicht unaufhörlich bitten sollten. Drei Gebete sind angemessen. Wenn es aber um andere geht, dürfen wir unaufhörlich für sie am Thron der Gnade eintreten.4 Das ist Gott wohlgefällig.

Verse 47–56: Der Verrat von Judas und die würdevolle Ergebenheit Jesu

Und während er noch redete, siehe, da kam Judas, einer der Zwölf, und mit ihm eine große Volksmenge mit Schwertern und Stöcken, ausgesandt von den Hohenpriestern und Ältesten des Volkes. Der ihn aber überlieferte, hatte ihnen ein Zeichen gegeben und gesagt: Wen irgend ich küssen werde, der ist es; ihn greift. Und sogleich trat er zu Jesus und sprach: Sei gegrüßt, Rabbi!, und küsste ihn sehr. Jesus aber sprach zu ihm: Freund, wozu bist du gekommen! Dann traten sie herzu und legten die Hände an Jesus und griffen ihn. Und siehe, einer von denen, die mit Jesus waren, streckte die Hand aus, zog sein Schwert und schlug den Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm das Ohr ab. Da spricht Jesus zu ihm: Stecke dein Schwert an seinen Platz; denn alle, die das Schwert nehmen, werden durch das Schwert umkommen. Oder meinst du, dass ich nicht meinen Vater bitten könnte und er mir jetzt mehr als zwölf Legionen Engel stellen würde? Wie sollten denn die Schriften erfüllt werden, dass es so geschehen muss? (Verse 47–54).

Im ersten Abschnitt dieses Kapitels haben wir gesehen, dass die Hohenpriester den Mord an Jesus geplant hatten. Im zweiten lesen wir, dass sie in Judas einen willfährigen Partner finden, der seinen Meister verraten will. Im dritten Abschnitt wird gezeigt, dass der Herr selbst sein Leben in den Tod hingeben wird. Im vierten steht vor uns, dass dies der Wille des Vaters ist. Nun sehen wir, dass Judas seinen Plan verwirklicht und den Hohenpriestern damit in die Hände spielt. Der Messias lässt das alles an sich geschehen, in wahrer Hingabe an seinen Gott und Vater.

Im vorigen Abschnitt bestand der Gegensatz in der Haltung von Petrus im Unterschied zu Christus. Nun lesen wir von einem Kontrast zwischen Judas und dem Herrn Jesus. Der eine kommt des Nachts mit brutalen und bösen Menschen, um Jesus zu überliefern. Dieser wiederum ist bereit, sich überliefern zu lassen, um die Schriften zu erfüllen. Er ist Gott treu, auch wenn Er letztlich allein gegen diese menschliche Übermacht von Feinden steht.

Der Herr hatte noch nicht aufgehört, mit seinen Jüngern zu reden, da kam schon der Überlieferer Judas. Von ihm heißt es hier ausdrücklich, dass er einer der Zwölf war. Er kam nicht allein, sondern zusammen mit einer großen Volksmenge, die Schwerter und Stöcke trug. Sie kamen nicht in eigenem Namen, sondern ausgesandt von den Hohenpriestern und Ältesten, den hierarchisch höchsten Juden. Die Jünger waren zuvor eingeschlafen. Einer von ihnen allerdings nicht: Judas. Er hatte alles getan, um seine 30 Silberlinge zu verdienen. Aber sein habgieriges Herz führte ihn zu seinem Untergang.

Judas hatte die Zwischenzeit insofern in seinem Sinn sehr gut genutzt. Der Herr hatte ihm gesagt: „Was du tust, tu schnell!“ (Joh 13,27). Genau das hatte er nunmehr getan. In fieberhafter Eile und Hast war er in die Nacht gegangen. Durch Satan besessen und geführt, schienen sich jetzt alle seine Pläne zu erfüllen. Amtsträger und abgesandte römische Soldaten, vielleicht sogar mehrere Hundert (vgl. Joh 18,12), wurden ihm zur Verfügung gestellt. Sie trugen Schwerter und andere Waffen, auch Lampen und Fackeln. Vermutlich handelte es sich bei den Schwertträgern um Heiden, vielleicht sogar aus verschiedenen Ländern, die von den Römern erobert worden waren. Aber es waren auch andere dabei, vermutlich Juden (vgl. Mk 14,49), die Stöcke trugen.

Die Tempelwache war offenbar ebenfalls in voller Stärke erschienen (vgl. Lk 22,52). Sie waren die Mietlinge der Hohenpriester und Ältesten. Der Pöbel der Straße hatte sich vermutlich dazugesellt, denn Matthäus spricht von einer großen Volksmenge. Was für eine Szene! Heiden und Juden finden sich zusammen, um ihre Hände an den Fürsten des Lebens, den Herrn der Herrlichkeit zu legen. Sie sind bereit für die größte Sünde, die auf der Erde jemals geschehen ist. Trugen sie diese Bewaffnung und kamen sie in dieser Masse, um sicherzugehen, dass sie den fangen können, der sich als der Allmächtige erwiesen hatte? Sie täuschten sich in Ihm, denn Er war noch immer sanftmütig und von Herzen demütig. Letzten Endes war es ein Zeugnis seiner Macht, die sie fürchteten. Und doch bewies es zugleich ihre Blindheit.

Die Waffen erwiesen sich als nutzlose Vorsichtsmaßnahme, stand doch der Eine vor ihnen, der im Begriff war, sich selbst Gott zu opfern. Er war bereit, sich von ihnen gefangen nehmen zu lassen. Aber niemand von ihnen erkannte Ihn als solchen. Denn wenn sie Ihn erkannt hätten, hätten sie wohl den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt (vgl. 1. Kor 2,8). Wir wollen dabei immer bedenken, dass der Herr nicht wegen menschlicher Macht in die Gefangenschaft ging – Er hätte sie auch, obwohl Er allein war, mit dem Hauch seines Mundes töten können. Nein, es war der Wille seines Gottes, der Ihn dazu bereit machte, und seine eigene Liebe.

Verse 47–50: Der Judaskuss

Was für eine Überraschung muss das für die Jünger gewesen sein, hier auf einmal Judas wiederzusehen. Lukas zeigt uns, dass er nicht nur der Führer der Menge war, sondern dieser auch vorausging. Was für ein scharfsinniger Plan, wie raffiniert, und doch wie offensichtlich. Alles sollte so bereitet sein, dass eine Flucht unmöglich war. Der Kuss sollte zeigen, wer gefangen zu nehmen war. Zugleich wurde Jesus dadurch räumlich von den Seinen getrennt. Dann wäre ganz schnell alles vorüber. Petrus bestätigt das später, ganz am Anfang der Apostelgeschichte: „Brüder, die Schrift musste erfüllt werden, die der Heilige Geist durch den Mund Davids über Judas vorhergesagt hat, der denen, die Jesus griffen, ein Wegweiser geworden ist“ (Apg 1,16).

Diese Szene zeigt, dass Judas wirklich nicht an den Herrn Jesus als Sohn Gottes glaubte! Er rechnete nicht mit einer „göttlichen“ Antwort. Sonst hätte er gewusst, dass dieser Plan viel zu kurz griff.

Judas hatte seine Pläne mit der Volksmenge besprochen. Nun ging er voran, um seinen heimtückischen und feigen Plan auszuführen. Er hatte viele Male erlebt, dass der Herr jeden Gedanken von Menschen lesen kann. Dennoch meinte er, weil er keinen Glauben besaß, dass seine Motive unerkannt blieben, wenn er Ihn in dieser abscheuerregenden, hinterhältigen Weise verraten würde. Als ob der Herr nicht wüsste, dass dieser Kuss ein Verräterkuss war. Judas tarnt seine Treulosigkeit somit hinter solch einer Heuchelei, dass bis heute der Judaskuss ein sprichwörtlicher Ausdruck der Abscheu ist.

Der erste Ausspruch „sei gegrüßt“, ist eigentlich ein Ausdruck der Freude über das Wiedersehen. Um was für eine Freude sollte es sich hier drehen? Ein letztes Mal hört der Herr aus diesem Mund das Wort „Rabbi“. „Herr“ kann der Verräter nicht sagen, da er Jesus als Herrn verworfen hatte. Die Wahrheit, die er denkt, will er aber auch nicht sagen. So nennt er Ihn, wie viele andere auch, Rabbi. Und dann küsste Judas den Herrn Jesus sehr: vielmals, zärtlich. Was für ein Schmerz muss es für das reine Herz unseres Retters gewesen sein, der diesen abscheulichen Kuss fühlte, der sich auf seine Wangen brannte. Wir denken daran, dass der, der den Wind mit Autorität gestillt hatte, dessen allmächtiges Wort Kranke geheilt und Tote auferweckt hatte, auf so schmähliche Weise überliefert wurde ...

Dennoch spricht Jesus diesen Mann nicht voller Verachtung an, wie wir es wahrscheinlich getan hätten. Er nennt ihn Freund: „Freund, wozu bist du gekommen!“ Im Lukasevangelium (Lk 22,48) finden wir die ausführliche Darstellung dessen, was der Herr ihm gesagt hat. Die Demut Jesu und seine Treue strahlen hier hervor.

Sollte diese ruhige und feierliche Antwort das Herz und Gewissen von Judas nicht erreichen können? Aber es gab keine Hoffnung mehr für diesen hartgesottenen Mann. Wir wollen bei der Ansprache Jesu bedenken, dass der Ausdruck „Freund“ keinen Herzensfreund meint, sondern einen Genossen5. Es ist also nicht dasselbe Wort wie in Johannes 11,11; 15,15, wo es um wahre Freundschaft, um eine innere Beziehung geht. Denn Judas war ein Genosse Jesu, nicht aber ein wirklicher Freund. Er hatte die Wunder des Herrn getan, messianische Macht gehabt, um Kranke zu heilen (vgl. Mk 6,13). Nun sprach Christus das letzte Mal mit diesem „Genossen“, der zugleich sein Feind war. Das nächste Mal hören wir von ihm, dass er zwar Gewissensbisse besaß, aber keinen Raum für Buße fand.

Judas wird noch einmal vor Jesus stehen. Dann wird Christus der Richter der Toten sein und Judas in die Hölle werfen (Off 20,11 ff.). Was für eine Zukunft für einen der bevorrechtigsten Menschen, die je auf dieser Erde gelebt haben. Dreieinhalb Jahre durfte er die Gegenwart und Liebe des Herrn genießen. Und dennoch ist er verloren gegangen, weil er Christus als Retter ablehnte. Er wollte sich nicht bekehren und Jesus als Herrn annehmen. Kann der Hass des menschlichen Herzens noch stärker hervorscheinen?

Dann lesen wir davon, dass sich die rauen Hände unmenschlicher römischer Soldaten auf Ihn legten. Es waren brutale Hände des jüdischen Mobs, die den sündlosen Leib des Lammes Gottes voller Hass festhielten. Alle wurden durch Satan angetrieben, der hinter diesen Szenen stand. Es war die Stunde der Menschen und die Gewalt der Finsternis (Lk 22,53).

Verse 51–54: Eine fleischliche, vorschnelle Handlung von Petrus

Dieser ekelerregenden Heuchelei des falschen Jüngers Judas folgt der fleischliche Eifer eines wahren Jüngers. Der Evangelist Johannes sagt uns, dass es Petrus war (Joh 18,10). Dieser oft so selbstbewusste Mann schläft, wo er wachen sollte, und schlägt zu, wo er sich besser ruhig verhalten hätte. Es kommt zwar nach Psalm 149,5-7 die Zeit, wo die Heiligen zweischneidige Schwerter tragen werden. Aber diese Zeit war damals noch längst nicht da. Hier war die Tat nicht im Einklang mit der Haltung Jesu, der sich wie ein Lamm zur Schlachtbank führen lassen wollte.

Christus hatte seinen Mund nicht aufgetan (vgl. Jes 53,7) im Gegensatz zu Petrus, der von Matthäus allerdings nur „einer von denen, die mit Jesus waren“ genannt wird. Denn hätte Er zu seiner Verteidigung gesprochen, wäre wohl die Folge gewesen, dass seine Feinde vernichtet worden wären (vgl. Joh 18,6). Daher kann Er zu Petrus sagen: „Oder meinst du, dass ich nicht meinen Vater bitten könnte und er mir jetzt mehr als zwölf Legionen Engel stellen würde?“ (Mt 26,53). So sehen wir hier, dass der Messias auf die böse Tat von Judas und die ungeistliche Handlung von Petrus mit Sanftmut und Entschiedenheit antwortet.

Diese Würde des Herrn wäre fast zerstört worden durch die Handlung des einen, der – menschlich gesprochen – mutig mit dem Schwert gegen die Übermacht dreinschlägt. Aber Petrus hatte die Gesinnung des Königs nicht erkannt. Petrus hatte die Worte des Herrn über das Schwert vollkommen missverstanden (vgl. Lk 22,36-38). Er stand zwar auf der Seite des Herrn, aber er hatte nicht erkannt, wo diese Seite war. Er hatte offenbar auch schon bei der Bergpredigt nicht gut zugehört. Denn dort hatte der Herr gesagt, dass man dem Bösen nicht widerstehen und zudem den Feind lieben solle (vgl. Mt 5,39.44).

Leider müssen wir sagen, dass das Schwert in der Geschichte der Kirche auf der Erde viel Böses angerichtet hat. Und auch gläubige Christen haben mit Gewalt versucht, christliche Interessen durchzusetzen. Dabei sollten unsere Waffen nicht fleischlich sein, sondern göttlich (vgl. 2. Kor 10,4). Jesus kündigte damals schon an, dass diejenigen, die das Schwert nehmen, auch durch das Schwert umkommen werden. Das ist eine Warnung an alle, die mit fleischlichen und materiellen Mitteln gegen böse und ungläubige Menschen vorgehen wollen. Künftig werden die Schwerter übrigens durch Ausharren und Glauben ersetzt (vgl. Off 13,10).

Es ist auffallend, dass Matthäus im Unterschied zu Lukas nicht von der Tat der Gnade des Herrn berichtet. Denn Lukas zeigt, dass der Herr das Ohr von Malchus, dem Knecht des Hohenpriesters, wieder geheilt hat. Das war übrigens das letzte Wunder des Herrn vor dem Kreuz – und das an einem Feind! Lukas betont die Gnade Gottes, die in Christus sichtbar wurde. Daher war es sein Auftrag, dieses Heilungswunder aufzuschreiben.

Das Thema unseres Evangelisten ist ein anderes. Er zeigt uns das gehorsame und hingebungsvolle Opfer Jesu. Er spricht aber auch vom König und Souverän, dem viele Engel zu Gebote standen. Daher erwähnt er die Worte Jesu über die Engel, die Ihm zur Verfügung standen. Aber sein Auftrag war nicht, den Fokus darauf zu richten, dass Christus der vollkommene Mensch und Arzt war, der jedes Leid zu heilen bereit war. Der König konnte befehlen, das Schwert wegzustecken (Vers 52) – Mitleid mit diesem armen Menschen hatte der vollkommene Mensch Jesus. Beides ist wahr im Blick auf diese einzigartige Person, die Mensch und König, Arzt und Souverän in einer Person war.

12 Legionen Engel

Hätte Christus entrinnen wollen, brauchte Er nur um 12 Legionen Engel zu bitten, und Er hätte sie bekommen. Aber das war nicht sein Plan, als Er auf die Erde kam: Er wollte alles erfüllen, was schon im Alten Testament über den Messias angekündigt worden war. Er sollte der Erlöser für sein Volk werden.

Wir wissen, dass für das furchterregende und umfassende Gericht an Sodom und Gomorra gewissermaßen zwei Engel reichten. Wenn ein Engel 185000 Menschen in einer Nacht schlagen konnte (2. Kön 19,35; 2. Sam 24,15), was hätten 12 Legionen tun können? Die römische Legion bestand aus 6000 Menschen zu Fuß, zuzüglich Reiter. 12 Legionen waren für eine rebellische Welt mehr als ausreichend, abgesehen davon, dass kein Mensch einem Engel widerstehen könnte! Aber eine solche Bitte war einfach fehl am Platz, denn der Herr wollte das Werk der Erlösung vollbringen. Vor diesem Hintergrund war der Schwertschlag von Petrus letztlich lächerlich. Wenn wir als Christen bereit sind zu leiden, sind wir geistlicherweise Überwinder. Wenn wir nach dem Schwert greifen, verlieren wir im geistlichen Kampf und kommen im äußersten Fall sogar durch das Schwert um. Bestes Beispiel sind die vielen Kämpfe, die in der Zeit der Reformation stattfanden. Sie haben diesem Werk Gottes nicht gedient. Gerade durch diese menschliche Komponente wurde es behindert.

Nein, Christus wollte nicht kämpfen, sondern den Willen des Vaters ausführen. Daher verteidigte Er sich nicht selbst, sondern erfüllte das Wort Gottes. Das hatte für Ihn einen solchen Stellenwert, dass Er alle Vorhersagen auf den leidenden Messias erfüllen wollte. Dieser Gedanke ist Gott im Übrigen so wichtig, dass Er dieses Thema gleich zweimal in diesen Versen behandelt, in Vers 54 und in Vers 56.

Natürlich besaß der Herr auch ohne die vielen Engelscharen Macht in sich selbst. Aber Er war jetzt nicht gekommen, um sie auszuspielen. In einer zukünftigen Zeit wird Er seine Feinde mit dem Hauch seines Mundes töten (vgl. 2. Thes 2,8). Hier jedoch nimmt Er den Platz eines abhängigen Menschen ein. Er war nicht nur in den Gebeten in Gethsemane durch Abhängigkeit gekennzeichnet, sondern auch im weiteren Verlauf, ja immer in seinem Leben.

Verse 55.56: Die würdevolle Ergebenheit Christi

„In jener Stunde sprach Jesus zu den Volksmengen: Seid ihr ausgezogen wie gegen einen Räuber, mit Schwertern und Stöcken, um mich zu fangen? Täglich saß ich lehrend im Tempel, und ihr habt mich nicht gegriffen. Aber dies alles ist geschehen, damit die Schriften der Propheten erfüllt würden. Da verließen ihn die Jünger alle und flohen“ (Verse 55.56).

Jesus zeigte allen Angreifern und Zuhörern, dass Er sich trotz ihrer Bosheit allem unterziehen würde, was erforderlich war, um die Schriften zu erfüllen. Aber seine Worte lassen auch erkennen, dass Ihn die Haltung der verschiedenen Menschenklassen Ihm gegenüber tief schmerzte.

Durch seine Frage zeigte Er zugleich die Ungerechtigkeit des Handelns dieser Menschen auf. So richtete Er ein Wort der Ermahnung an ihre Gewissen. Hatte Er sich vor ihrer Gegenwart gescheut? Im Gegenteil! Praktisch jeden Tag war Er bei ihnen im Tempel gewesen. Dort hätten sie Ihn jederzeit gefangen nehmen können, wenn sie etwas an seinen Worten oder Taten hätten auszusetzen gehabt. Aber das trauten sie sich damals nicht. Jetzt aber, unter der Anleitung des Teufels und des ungläubigen Judas, waren sie bereit, ihren Messias zu beseitigen.

Angesichts des rohen Pöbels brach die Kraft aller Jünger zusammen. Sie ließen ihren Meister im Stich und flohen. Sie verschwanden im Dunkel, und Christus blieb ganz allein zurück. Es gab auf der Erde niemanden mehr, der für Ihn eintrat. Damit offenbarten alle Jünger, nicht nur Petrus, dass sie nach Vers 35 nur Lippenbekenntnisse vorgetragen hatten: „Selbst wenn ich mit dir sterben müsste ...“, hören wir Petrus und die anderen Jünger prahlen. Jetzt zeigt sich, dass sie nicht in der Lage waren, das zu verwirklichen. Wir sollten allerdings nicht meinen, besser zu sein. Auch heute sucht der Herr angesichts der Feinde Menschen, die treu zu Ihm stehen (2. Tim 1,8; 2,3.4). Ob wir dazu gehören?

Mit diesem allen wurden die Schriften des Alten Testaments erfüllt. Wir haben gesehen, wie wichtig dies dem Herrn Jesus war. Es erfüllte sich Sacharja 13,7, was ich weiter oben schon zitiert habe. Zugleich gingen die Worte Jesu aus Matthäus 26,31 in Erfüllung: „Ihr werdet alle in dieser Nacht an mir Anstoß nehmen; denn es steht geschrieben: ‚Ich werde den Hirten schlagen, und die Schafe der Herde werden zerstreut werden. ‘“ Neben vielen anderen Stellen erwiesen sich damit auch die Worte des Herrn in Johannes 16,32 als wahr: „Siehe, die Stunde kommt und ist gekommen, dass ihr zerstreut werdet, jeder in das Seine, und mich allein lasst; und ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir.“ Zudem hatte der Herr im Gegensatz zu Petrus auch die Worte der Bergpredigt verwirklicht, dem Bösen nicht zu widerstehen (5,39).

Gerade in den Leiden sehen wir immer wieder, was für eine große Bedeutung unser Herr den Schriften beimaß. Er wollte sie in allem erfüllen, und tat das auch. Es war eines seiner großen Ziele.

Letztlich können wir am Ende dieser Verse nur festhalten: Was auch immer der Mensch an Bosheiten ersinnen mag, eines geht vor: Der Wille und das Wort Gottes werden ausgeführt. Selbst das Böse führt letztlich nur zur Verherrlichung Gottes: „Denn der Grimm des Menschen wird dich preisen; mit dem Rest des Grimmes wirst du dich gürten“ (Ps 76,11). Das nimmt keineswegs die Verantwortung von dem Menschen, der das Böse tut. Aber es zeigt, dass Gottes Händen nichts entgleitet. Sein Ratschluss kommt zustande.

Verse 57–75: Das Zeugnis der Wahrheit Jesu und die drei Lügen von Petrus

Die aber Jesus gegriffen hatten, führten ihn weg zu Kajaphas, dem Hohenpriester, wo die Schriftgelehrten und die Ältesten versammelt waren. Petrus aber folgte ihm von weitem bis zu dem Hof des Hohenpriesters und ging hinein und setzte sich zu den Dienern, um das Ende zu sehen. Die Hohenpriester aber und das ganze Synedrium suchten falsches Zeugnis gegen Jesus, um ihn zu Tode zu bringen; und sie fanden keins, obwohl viele falsche Zeugen herzutraten. Zuletzt aber traten zwei herzu und sprachen: Dieser sagte: Ich kann den Tempel Gottes abbrechen und ihn in drei Tagen aufbauen. Und der Hohepriester stand auf und sprach zu ihm: Antwortest du nichts? Was bringen diese gegen dich vor? Jesus aber schwieg. Und der Hohepriester hob an und sprach zu ihm: Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, dass du uns sagst, ob du der Christus bist, der Sohn Gottes! Jesus spricht zu ihm: Du hast es gesagt. Doch ich sage euch: Von jetzt an werdet ihr den Sohn des Menschen zur Rechten der Macht sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen sehen. Da zerriss der Hohepriester seine Kleider und sprach: Er hat gelästert; was brauchen wir noch Zeugen? Siehe, jetzt habt ihr die Lästerung gehört. Was meint ihr? Sie aber antworteten und sprachen: Er ist des Todes schuldig. Dann spien sie ihm ins Angesicht und schlugen ihn mit Fäusten; einige aber schlugen ihm ins Angesicht und sprachen: Weissage uns, Christus, wer ist es, der dich schlug? (Verse 57–68).

In den nächsten Versen kommen wir zum inoffiziellen Verhör, das vor dem Hohenpriester und den Schriftgelehrten stattfand. Tatsächlich gliederten sich die Verhöre, die der Herr Jesus im jüdischen Bereich über sich ergehen lassen musste, in drei Sitzungen. Zunächst einmal wurde Jesus zu Annas gebracht, dem Schwiegervater des Kajaphas, des aktuellen Hohenpriesters. Davon berichtet uns nur Johannes. Aus irgendwelchen Gründen war es in jener Zeit anscheinend zu einer Verwirrung gekommen, was den Dienst des Hohenpriesters betraf. Er war seit der späten Zeit der Makkabäer zu einer politischen Institution geworden, so dass die biblischen Vorschriften nicht mehr entscheidend waren. So wechselte dieser Dienst und wurde nicht mehr von einer Person bis zum Lebensende ausgeführt. Annas war auch als Hoherpriester tätig gewesen (vgl. Lk 3,2); jedenfalls wollte er Macht ausüben und über die Amtsgeschäfte des Hohenpriesters Autorität bewahren. Vermutlich gab es eine Art Vorverhör bei Annas. Es ist aber nicht ganz auszuschließen, dass er den Herrn gleich zu Kajaphas sandte (vgl. Joh 18,13.19.24).

Jedenfalls finden wir Jesus dann bei Kajaphas, und zwar in dessen Wohnhaus (Lk 22,54), was möglicherweise zugleich der Amtssitz war, da dort Knechte im Hof waren (V. 58). Das war die zweite Sitzung. Dort gab es ein Geheimtreffen, wo das offizielle Verfahren vorbereitet werden sollte, damit dieses ohne Störungen verlaufen könnte. Dieses Verhör fand noch in der Nacht statt, vermutlich nach Mitternacht. Dort wurde der Herr ohne offizielle Zeugen und wahrscheinlich allein vor den Leitern der Juden befragt, untersucht, geschlagen und schlecht behandelt. Das eigentliche, offizielle Verhör durfte nach jüdischem Recht erst nach Sonnenaufgang erfolgen. Es musste vor dem Synedrium, der obersten Gerichtsbarkeit und Ratsversammlung in Israel, geführt werden. Das war eine formale Sitzung vor Zeugen, nach deren Beendigung der Herr dann zu Pilatus geführt wurde. Von diesem letzten berichtet Matthäus nur in einem Vers (Kapitel 27,1), während er den Schwerpunkt auf die Vorverhöre in der Nacht bei Annas und Kajaphas legt. Lukas spricht von dieser Sitzung des Synedriums wesentlich ausführlicher (Lk 22,66-71).

Matthäus hat ein anderes Ziel. Natürlich will auch er uns offenbar machen, wie falsch die Hohenpriester und Schriftgelehrten agierten. Und durch die Kürze der Schilderung des morgendlichen Verfahrens in Kapitel 27,1 soll deutlich werden, wie ungesetzlich die Juden gehandelt haben. Denn sie legten den Schwerpunkt auf ein nicht-öffentliches Verfahren. Ihnen war nur wichtig, den Herrn zu verurteilen. Daher konnte diese eigentlich entscheidende Sitzung wohl relativ kurz ablaufen. Sie war eben formal nötig.

Matthäus will vor allen Dingen die Würde des Königs inmitten dieser Falschheit zeigen. Und er entfaltet auch die Treue des Königs im Vergleich zu Petrus. Während Christus sich Gott weiht und dabei leiden muss, verleugnet Ihn sein Jünger tatsächlich dreimal in einer Situation, als der Herr ohnehin schon ganz allein vor seinen boshaften Anklägern stand.

Die sieben Gerichtssitzungen über Christus

Insgesamt wird der Herr Jesus jetzt sieben Gerichtssitzungen erdulden müssen:

  1. Vor Annas, dem ehemaligen Hohenpriester
  2. Vor Kajaphas, dem Hohenpriester
  3. Vor dem Synedrium unter Vorsitz des Hohenpriesters

    –––––––
  4. Vor Pilatus, dem Statthalter Roms
  5. Vor Herodes, dem Vierfürsten
  6. Vor Pilatus, dem Statthalter Roms (nach Rückkehr von Herodes)
  7. Vor Gott, dem Richter unserer Sünden (in den drei Stunden der Finsternis)

Zweifellos gehören die ersten drei und die zweiten drei Sitzungen jeweils zusammen. Es sind ungerechte Gerichte, die vonseiten der Juden und dann der Nationen über den Herrn Jesus gehalten wurden. Davon ist deutlich zu unterscheiden die siebte und letzte Gerichtssitzung, wo Gott die Strafe für unsere Sünden auf den Herrn Jesus legte. Dort wurde Er für uns zur Sünde gemacht (2. Kor 5,21). In diesen drei Stunden hat Er Sühnung getan für unsere Sündenschuld. Es war das einzige gerechte Gericht dieser sieben Sitzungen. Aber es traf Den, der unschuldig war und freiwillig für uns in dieses Gericht ging.

Es gibt noch einen bemerkenswerten Zusammenhang. Matthäus berichtet im Blick auf alle drei Gerichtsphasen (vor Juden, vor Heiden, vor Gott), dass der Herr Jesus jeweils einmal etwas gesagt hat. Aus den anderen Evangelien wissen wir, dass Christus sowohl vor dem Hohenpriester als auch vor Pilatus und in Verbindung mit den drei Stunden der Finsternis am Kreuz jeweils öfter gesprochen hat. Aber derjenige, der uns das Lamm zeigt, das stumm vor seinen Scherern willig und gehorsam war, spricht nur von jeweils einer Äußerung des Herrn. Wir bewundern Ihn für diese Hingabe!

Verse 57.58: Bei Kajaphas

Während Judas die Festnahme Jesu anführte, warteten die Schriftgelehrten und Ältesten bei Kajaphas, dem Hohenpriester, den Ausgang dieser traurigen Unternehmung ab. Das erschien ihnen vermutlich sicherer als selbst mitzukommen für den Fall, dass etwas schieflaufen würde. Nachdem die Juden Jesus hierhergeführt hatten, kam es zur ersten, inoffiziellen und schändlichen Ratssitzung. Die Empfindungen des Herrn können wir in Psalm 94,20-23 nachlesen: „Sollte mit dir vereint sein der Thron des Verderbens, der aus Frevel eine Satzung macht? Sie dringen ein auf die Seele des Gerechten, und unschuldiges Blut verurteilen sie. Doch der Herr ist meine hohe Festung und mein Gott der Fels meiner Zuflucht. Und er lässt ihre Ungerechtigkeit auf sie zurückkehren, und durch ihre Bosheit wird er sie vertilgen; vertilgen wird sie der Herr, unser Gott.“

Was für ein Triumph muss auf den Gesichtern derer gestanden haben, die zur Gefangennahme ausgesandt worden waren. Und wie freuten sich die Hohenpriester und Ältesten, nun endlich Den gebunden vor sich zu sehen, den sie hassten und verachteten. Jetzt wartete man gespannt auf das Schauspiel des Verhörs.

Der Heilige Geist spricht aber nicht nur von Jesus, dem Gefangenen. Er hat auch noch etwas über den ersten Jünger zu berichten. Denn Petrus folgte dem Gefangenenzug. Er wollte sein Wort halten und Jesus bis in den Tod folgen. Diese Absicht können wir ihm nicht absprechen. Wir finden ihn allerdings bereits jetzt mit langsameren Schritten unterwegs, als es seine vorherigen großspurigen Worte vermuten ließen. Er folgt Jesus, aber nur von weitem. So verliert er die Kraft, die man nur aus der Nähe zu Ihm ziehen kann.

Es war Johannes, der Petrus den Zugang zu diesem Hof verschaffte (vgl. Joh 18,15.16). Weder er noch Petrus selbst erkennen offenbar die Gefahr, die sich dort für den schwachen Jünger aufbaut. Es ist gefährlich, sich bei den Feinden des Herrn aufzuhalten (vgl. Ps 1,1). Petrus vertraut auf sich selbst – da ist man unempfindsam für die Gefahren, denen man sich aussetzt. Er hatte vergessen zu beten und zu wachen. Das rächt sich jetzt.

Nur kurze Zeit später wird er im Netz der Gottlosen gefangen sein: Der Gottlose „sitzt im Hinterhalt der Gehöfte, in Verstecken ermordet er den Unschuldigen; seine Augen spähen dem Unglücklichen nach. Er lauert im Versteck wie ein Löwe in seinem Dickicht; er lauert, um den Elenden zu fangen; er fängt den Elenden, indem er ihn in sein Netz zieht“ (Ps 10,9.10). Und bei diesen Feinden Jesu befindet sich jetzt sein Jünger. Er hätte sich besser zurückgezogen und gebetet, um nicht in Versuchung zu kommen.

Verse 59–62: Das ungerechte Verhör Jesu vor dem Hohenpriester

Wo hat es so etwas schon einmal gegeben? Da ist ein Richter, der das Amt des Hohenpriesters bekleidet. Er war von der politischen Macht für ein Jahr bestimmt worden. Das entsprach nicht der göttlichen Ordnung. Nach Gottes Willen durfte es nämlich nur ein Nachkomme Aarons sein, der dann bis zu seinem Tod Hoherpriester blieb.

Zudem ist dieser Hohepriester als Richter nicht objektiv. Aber nicht nur das – er ordnet sogar eine Straftat an: eine ungerechte Gefangennahme. Zugleich tritt er als Anklagevertreter auf, um die Verurteilung sicherzustellen. Was für eine Ungerechtigkeit, dass der Richter zugleich Staatsanwalt ist und verfügt, dass den Angeklagten kein Anwalt verteidigen kann. Von Anfang an offenbart sich die Bosheit und Gottlosigkeit derjenigen, die unseren Herrn und Retter verhören.

Wir haben es hier mit Menschen zu tun, die als Leiter in Israel Verantwortung trugen. Sie waren keine (passiven) Irregeführten. Nein, sie suchten aktiv falsche Zeugen gegen den „Heiligen und Gerechten“ (vgl. Apg 3,14). Sie wussten sehr genau, dass das Gesetz ein falsches Zeugnis untersagte (5. Mo 5,20; 19,16-19). Schon einem falschen Zeugen das Ohr zu leihen, obwohl man die Wahrheit kannte, war ein Vergehen. Sich aber anzustrengen, ein falsches Zeugnis zu bewirken, war doppelt böse. Wenn wir dann bedenken, dass der höchste Repräsentant Gottes im Volk der Juden der Anstifter dieser ganzen Bosheit war: Wie schlimm stand es dann um dieses Volk!

Wie schlimm, dass dieses Gerichtsverfahren damit beginnt, dass der Richter eifrig nach Lügnern sucht, um den Angeklagten verurteilen zu können! Sogar der Urteilsspruch stand schon vor dem Verfahren fest: der Tod. So hatten das Synedrium, die Ratsversammlung und zugleich der oberste Gerichtshof des jüdischen Volkes bereits im Voraus den Entschluss gefasst, Jesus umzubringen. Es handelte sich jetzt nur darum, einen stichhaltigen Grund zu finden, um diesen parteiischen Hass zu verdecken.

Gott ließ das alles zu, Christus auch. Er stand dem Gericht, das alle Gerechtigkeit preisgab, in göttlicher Würde gegenüber. Er sprach nur, um zu bestätigen, wer Er wirklich war. Um seine Empfindungen in dieser Situation zu erkennen, müssen wir uns erneut den Psalmen zuwenden. „Gib mich nicht preis der Gier meiner Bedränger! Denn falsche Zeugen sind gegen mich aufgestanden, und der, der Gewalttat schnaubt (Ps 27,12). „Ungerechte Zeugen treten auf; was ich nicht weiß, fragen sie mich. Sie vergelten mir Böses für Gutes, verwaist ist meine Seele“ (Ps 35,11.12).

Ohne übereinstimmende Zeugen, weil es nur falsche gab!

Wir sollten uns für einen Augenblick in die damalige Situation zurückversetzen. Dann erkennen wir etwas von der „Ironie Gottes“, wenn man das einmal so ausdrücken darf, die in diesem Verhör lag. Eine Abteilung nach der nächsten erschien, um ein falsches Zeugnis gegen Christus vorzubringen. So etwas war in Israel nicht das erste Mal, wenn wir an Ahab und Isebel denken, die falsche Zeugen gegen Nabot herbeischafften (vgl. 1. Kön 21,10). Aber bei dem Herrn Jesus fanden sie keins, was sie verwerten konnten. Ein falscher Zeuge nach dem anderen trat auf – aber ohne Erfolg. Wie töricht erscheint hier der Mensch! Er wollte nicht erkennen, dass er auf einem Weg ins Verderben war, wenn er Christus auf schmähliche und böse Weise zu verurteilen suchte.

Zwar gab es manche falsche Zeugen. Aber das Gesetz forderte, dass mindestens zwei Zeugen vorhanden waren, die denselben Tatbestand bestätigten (vgl. 5. Mo 17,6). Der Hohepriester war aber nicht in der Lage gewesen, zwei solche übereinstimmenden Zeugen zu bringen. Das lesen wir im Markus-Evangelium (Mk 14,59).

Zum Schluss kommen dann zwei Zeugen mit der Behauptung, Jesus sei schuldig, gegen den Tempel Gottes geredet zu haben. Dies scheint eine beliebte Anklage bei den Juden gewesen zu sein, wenn sie Volksgenossen beseitigen wollten (vgl. Apg 6,13.14). Allerdings verdrehten sie die Worte des Herrn, die Er nach Johannes 2,19-21 gesprochen hatte: „Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tagen werde ich ihn aufrichten. Da sprachen die Juden: 46 Jahre ist an diesem Tempel gebaut worden, und du willst ihn in drei Tagen aufrichten? Er aber sprach von dem Tempel seines Leibes.“ Jesus sprach also davon, dass sie – nicht Er – den Tempel (seines Leibes) abbrechen mochten, und Er diesen dann in drei Tagen wieder aufbauen würde. Nun standen sie tatsächlich im Begriff, Ihn zu töten. Dann aber würde Er in drei Tagen auferstehen, kraft der Ihm eigenen Macht und Herrlichkeit. Gerade im Matthäusevangelium wird ausführlich geschildert, dass die Juden genau das erleben und erkennen müssen. Dann haben sie auf einmal das leere Grab vor sich, das die Wachen nicht beschützen konnten.

Ein wichtiger Punkt kommt noch hinzu: Selbst wenn diese Anklage wahr gewesen wäre, würde mit diesem Vorwurf kein weltlicher Richter und auch kein jüdischer Richter eine Verurteilung zum Tod aussprechen. Offenbar war dem Hohenpriester dieses Problem bewusst. Daher fragt er nun den Herrn selbst. Obwohl man akribisch versucht hatte, eine auch vor dem weltlichen Richter Pilatus schlüssige Anklage aufzubauen, blieb dies erfolglos.

Verse 63.64: Das Beschwören durch den Hohenpriester

Daher versucht der Hohepriester, schärfere Anklagemittel einzusetzen. Zunächst wirft er – nicht ein Ankläger, sondern der Richter selbst – dem Herrn vor, nichts gegen die verschiedenen Anklagen vorzubringen. Man fragt sich, warum Kajaphas nicht sofort den Schwur gegen Christus vorbringt? Wir dürfen wohl sagen: Gott wollte, dass in jeder einzelnen Etappe dieses Prozesses deutlich wurde, dass hier der Unschuldige, der wahre Heilige, bewusst und ohne Anklagegrund verurteilt wurde.

Wir bewundern unseren Herrn: Vor dem Hass, der Ungerechtigkeit und Gewalttat leidet Er, die personifizierte Gnade, in der Stille. Jesus schweigt und öffnet nur seinen Mund, wenn es darum geht, Zeugnis über seine Person abzulegen, ja wenn Er dazu gezwungen wird. Gegen ein falsches Zeugnis verteidigt Er sich nicht – darin ist Er ein großartiges Vorbild für uns.

Jetzt stehen sie sich also Auge in Auge gegenüber: der grimmige, heißblütige Kajaphas, der in die Augen voller göttlicher Liebe und Wahrheit schaut. Ahnen der Hohepriester und seine Gesellen nicht, dass dieser Niedrige, der in ihrer Gegenwart gebunden steht, der Sohn Gottes ist, der verheißene Messias? Er hat es deutlich gemacht und immer wieder offenbart! Auch die letzte Frage des Herrn an seine Feinde (Mt 22,42 ff.) machte es noch einmal ganz klar. Er war es! Aber wieso schwieg Er dann wie das Lamm, das seinen Mund nicht auftut, wenn es zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Schaf, das stumm ist vor seinen Scherern (Jes 53,7)? Das konnten diese ungläubigen Juden nicht begreifen.

Die stumme Hingabe Jesu erregte Kajaphas noch mehr. Er hatte kein Vergehen in den Taten Jesu finden können, jetzt suchte er eines in der Person Jesu. Er weiß sich nur mit einem Mittel zu helfen: mit dem Schwur. Er hatte offenbar gehofft, dem Angeklagten Jesus selbst ein falsches Zeugnis unterschieben zu können. Damit war er jedoch gescheitert, weil der Herr überhaupt keine Antwort gab. Daher versucht der Hohepriester jetzt, diese Antwort zu erzwingen. Er beschwört den Herrn: „Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, dass du uns sagst, ob du der Christus bist, der Sohn Gottes!“ Damals musste also nicht derjenige schwören, der unter Eid etwas aussagen sollte. Der Schwur wurde durch den ihn Anredenden erhoben. Der so unter Eid Angesprochene musste reden und unter Eid aussagen.

Auf eine solche Beschwörung hin durfte der Herr also nicht schweigen. Manche denken dabei an 3. Mose 5,1, wo es heißt: „Wenn jemand dadurch sündigt, dass er die Stimme des Fluches [oder der Beschwörung; vgl. Spr 29,24] hört, und er war Zeuge, sei es, dass er es gesehen oder gewusst hat – wenn er es nicht anzeigt, so soll er seine Ungerechtigkeit tragen.“ So war der Herr nun aufgefordert, Stellung zu beziehen. Aber war das eigentlich in Übereinstimmung mit dem Recht, den Angeklagten unter Eid zu setzen? Damals war es üblich wie auch heute, dass Zeugen unter Eid aussagen. Aber es war noch nie in Übereinstimmung mit dem Gesetz, dass ein Angeklagter unter Eid aussagen muss.

Es ist bemerkenswert, dass der Hohepriester den Herrn bei „dem lebendigen Gott“ beschwor. Er hatte das Zeugnis von Petrus nicht gehört. Aber es ist gerade unser Evangelist, der berichtet, dass Petrus den Herrn Jesus den Sohn des lebendigen Gottes genannt hat, also den lebendigen Gott (Mt 16,16). So war derjenige, den dieser böse Mann als Autorität anrief, Derselbe, den er in seiner Dreistigkeit als Angeklagten verhörte.

Wir können das ganze Vorgehen auch noch aus einem anderen Blickwinkel sehen. Bislang ging es um falsche Anklagen gegen den Herrn. Dabei schwieg Er. Jetzt aber wird Er beschworen, was die Wahrheit über seine eigene Person angeht. Hier schweigt unser Herr nicht. Denn Er kann sich selbst nicht verleugnen (vgl. 2. Tim 2,13).

Was war nun die „Frage“? War der Herr Jesus der Christus, der Sohn Gottes? Das ist der Titel, der in Psalm 2 dem Messias gegeben wird: „‚Habe ich doch meinen König eingesetzt auf Zion, meinem heiligen Berg! ‘ Vom Beschluss will ich erzählen: Der Herr hat zu mir gesprochen: Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt“ (Ps 2,6.7). Da ist von dem Sohn Gottes im Charakter des Königs über Israel die Rede. Es geht in diesem Psalm also nicht darum, dass der König der ewige Sohn des ewigen Vaters ist, auch wenn das wahr ist. Sondern Gott hat hier auf dieser Erde einen Menschen als seinen Sohn gesalbt und eingesetzt. Dadurch, dass dieser sein Gesalbter ist, ist dieser Mensch der Sohn Gottes, der die Kennzeichen Gottes trägt.

Das erste treue Bekenntnis des Herrn

Auf diese Beschwörung antwortete der Herr sofort. Denn wenn es um sein eigenes Zeugnis ging, musste Er die ganze Wahrheit bezeugen. Daher sagte Er: „Du hast es gesagt“. Das heißt nichts anderes als: „Das ist so; du hast wahr gesprochen.“ Aber Er fügt hinzu: „Doch ich sage euch: Von jetzt an werdet ihr den Sohn des Menschen zur Rechten der Macht sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen sehen.“ Davon hatte Er schon früher (vgl.; Mt 24,30) zu seinen Jüngern gesprochen. Und in Offenbarung 1,7 wird dies noch einmal bestätigt.

Der Herr hatte auf diesen Augenblick gewartet, das „gute Bekenntnis“ (vgl. 1. Tim 6,13 – hier auf das Zeugnis Jesu vor Pilatus bezogen) abzulegen. Er bekennt, dass Er der Christus ist, der Sohn Gottes, und spricht von seiner künftigen Herrlichkeit. Diese Herrlichkeit als Sohn des Menschen geht weit über die Herrlichkeit des Königs, des Sohnes Gottes, hinaus, wie wir Psalm 8 entnehmen können und Johannes 1,50.51 entnehmen können.

Der Herr bestätigt auf der einen Seite seine Anrechte als Sohn Davids. Denn so hatte Er auch in seiner Schlussfrage an die Pharisäer gesprochen (vgl. Mt 22,42). Aber sein Wort „von jetzt an“ zeigt, dass Er den Platz des Messias und Sohnes Gottes nach Psalm 2 jetzt nicht einnehmen würde. Er war bereit, auf dieses Anrecht zunächst einmal zu verzichten. Mit dieser Veränderung war ein gewaltiges Gericht für die Juden verbunden. Denn sie würden Ihn nicht als Messias, sondern als Sohn des Menschen in Herrlichkeit und zum Gericht erleben. Als Richter wird Ihn das ungläubige Israel das nächste Mal sehen, wie wir in Kapitel 24 gelernt haben. Was die gläubigen Übriggebliebenen betrifft, so werden sie Ihn nach Matthäus 23,39 mit einem Lobpreis annehmen und als Erretter erfahren.

Die Worte des Herrn waren den Juden nicht unbekannt. Sie verweisen auf die Prophetie Daniels: „Und siehe, mit den Wolken des Himmels kam einer wie eines Menschen Sohn; und er kam zu dem Alten an Tagen und wurde vor ihn gebracht. Und ihm wurde Herrschaft und Herrlichkeit und Königtum gegeben, und alle Völker, Völkerschaften und Sprachen dienten ihm; seine Herrschaft ist eine ewige Herrschaft, die nicht vergehen wird, und sein Königtum ein solches, das nie zerstört werden wird“ (Dan 7,13.14). Es geht also um eine universelle Herrschaft, die nicht auf Israel beschränkt ist. Und damit macht der Herr Ansprüche geltend, die Ihn (nach Dan 7,22) als den Alten an Tagen, als Gott selbst, zeigen.

So bestätigt der Herr seine Göttlichkeit, wie sie in Psalm 110,1.2 ausgedrückt wird. Zugleich verweist Er auf die künftige Herrschaft des Sohnes zur Rechten Gottes. Denn Er spricht davon, dass Er zur Rechten der Macht – also Gottes – sitzen würde. Genau diese Herrlichkeit verbindet Psalm 110 mit dem Herrn. Die Worte des Herrn sind somit für einen Menschen außerordentlich „anmaßend“. Wenn ein anderer sie ausgesprochen hätte, wären sie Blasphemie gewesen. Er aber sprach hiermit nichts als die Wahrheit aus, allerdings mit einer großen Tragik für seine Zuhörer. Denn wenn Er so kommen wird, wird Er Richter sein und von Myriaden von Engeln begleitet werden, die das Gericht in Feuerflammen ausüben werden (vgl. 2. Thes 1,7.8).

Abschließend kann man also sagen, dass der Herr zu der Wahrheit stand. Niemand konnte mit Recht behaupten, dass Er schuldig war. Denn Er bekannte die Herrlichkeit seiner Person als Sohn Gottes. Zugleich erklärte Er, dass sie den Sohn des Menschen nicht mehr sehen würden als jemanden, der das geknickte Rohr nicht zerbricht: Sondern sie würden Ihn in einer machtvollen Stellung zur Rechten Gottes erblicken, aus der Er Gericht halten würde auf dieser Erde.

Verse 65.66: Die Verurteilung zum Tod

Diese Worte des Herrn nun nimmt Kajaphas zum Anlass, das Todesurteil über Christus aussprechen zu lassen. Natürlich war noch die offizielle Sitzung am nächsten Morgen nötig. Denn nur das Synedrium war formal befugt zu entscheiden. Hier aber schon ließ der Hohepriester von den Anwesenden das Todesurteil aussprechen. Das unterstreicht noch einmal, dass die Sitzung des Synedriums eine reine Farce war. Es war längst alles entschieden.

Um diese frühzeitige Urteilsfindung zu bewirken, handelte der Hohepriester sehr emotional und theatralisch. Manche Ausleger glauben, dass er sogar das Gesetz brach, indem er seine Kleider zerriss, als er Christus verurteilte. Dadurch habe er sich selbst verurteilt. Man verweist auf Stellen wie 3. Mose 10,6.7 und 21,10, wo es dem Hohepriester tatsächlich unter Androhung der Todesstrafe untersagt war, sein Kleid zu zerreißen. Man muss aber bedenken, dass es dort konkret um Trauerfälle und wahrscheinlich um das offizielle, herrliche Kleid des Hohenpriesters ging. Wir dürfen wohl davon ausgehen, dass er dieses Gewand nicht trug, als der Herr vor ihm als Gefangener erschien.

Vielleicht enthält diese Szene jedoch auch einen bildhaften Hinweis, den Gott mit dieser Szene verbindet. Der Hohepriester zerriss seiner Kleider. Mit dieser Handlung und Verurteilung des Herrn wurde in den Augen Gottes das ganze formale, alttestamentlich-jüdische System zerrissen. Es besitzt keine Gültigkeit mehr vor Gott. Wenn sie ihren eigenen Messias zum Tod verurteilten, gaben sie dem jüdischen System den Todesstoß. Denn wie konnte ein System vor Gott weiterbestehen, das den wahren Gott und seinen Messias ans Kreuz brachte?

Der konkrete Vorwurf gegen den Herrn war, dass Er Gotteslästerung begangen habe. In Wirklichkeit wurde Er verurteilt, weil Er zur Wahrheit gestanden hat, diese Wahrheit den Juden damals aber nicht passte. Die Hohenpriester und Obersten des Volkes wurden dadurch des Todes Jesu schuldig, weil sie das Zeugnis verwarfen, das Er von der Wahrheit ablegte. Er war die Wahrheit, sie aber standen unter der Macht des Vaters der Lüge und verwarfen den Retter des Volkes Israel (Mt 1,21). Deswegen würden sie Ihn von nun an nicht mehr sehen als nur als Richter. Jeder nahm somit seinen Platz ein: Jesus als das wahre Sündopfer, aber auch der Verräter, der Verleugner, die Verurteiler usw. ... Was für ein Bild des Menschen entfaltete sich vor den Augen Gottes!

Das ganze Verfahren beruhte auf Manipulation. Der Richter war Ankläger und ungerecht. Die Zeugen gaben falsches Zeugnis. Sie und die weiteren Zuhörer konnten (und wollten) unter dem Druck des Richters nicht anders antworten, als Christus zum Tod zu verurteilen. Dennoch fällt auf, dass der formale Todesspruch, der eigentlich vom Präsidenten der Versammlung hätte ausgesprochen werden müssen, überhaupt nicht erfolgt. So verurteilen die Führer des Volkes Israel ihren König ohne Grund und ohne Richterspruch. Umso herrlicher erstrahlt die Würde und Treue, die Wahrheit und Geradlinigkeit des Einen, des Messias Gottes.

Verse 67.68: Die Verhöhnung des Königs durch seine Untertanen

Für die Anwesenden war diese Verurteilung ein Signal, den Herrn der Herrlichkeit mit Beleidigungen und Misshandlungen zu überschütten. Unser Retter ließ diese still über sich ergehen. Seine ruhige Duldsamkeit leuchtete umso heller vor dem Hintergrund dieses finsteren Verderbens, in das diese Menschen in fast heidnischer Verblendung versunken waren. Was für eine Brutalität auf der einen Seite und was für eine Feigheit auf der anderen Seite.

Von diesem Augenblick an nahmen die Feinde keine Rücksicht mehr auf irgendwelche Gefühle und Rechte des Verurteilten. Jene Menschen, die als Führer des Volkes galten, gaben ihrem Hass und ihrer Verachtung freien Lauf wie Tiere. Sie behandelten Christus schlimmer, als man einen Kriminellen behandeln würde. Ein Mensch mag noch so religiös sein. Wenn er nicht die Gnade Gottes in Anspruch nimmt, kann sich sein auflehnender Charakter menschlich-religiöser Vorurteile bis zu dieser Entartung entwickeln. Wenn auch Christus heute nicht leibhaftig auf der Erde lebt, werden in manchen Erdteilen solche Misshandlungen doch Gläubigen angetan, die etwas von Christi Schönheit widerstrahlen.

In diesen Versen finden wir den Beweis der Worte von Petrus über unseren Herrn in 1. Petrus 2: „Der keine Sünde tat, noch wurde Trug in seinem Mund gefunden, der gescholten nicht wiederschalt, leidend nicht drohte, sondern sich dem übergab, der gerecht richtet“ (1. Pet 2,22.23). Er hat alle Misshandlungen an seinem Körper und in seiner Seele gefühlt, viel mehr, als wir das tun könnten. Seine Seele und seine Empfindungen wurden verletzt. Aber Er übergab alles seinem Vater, der die rechte Wertschätzung seiner Haltung hatte. Wenn Er auch damals nicht eingriff, so wird Er doch die gerechte Strafe für das ausüben, was diese religiösen Menschen an Jesus getan haben.

Das alles hat Er erlitten für solche abscheulichen Sünder, wie wir es waren! Das dürfen wir nicht vergessen. Nicht, dass durch das Erdulden dieser Drangsale auch nur eine Sünde gesühnt werden konnte. Im Gegenteil! Diese Taten der Menschen machten die Sündhaftigkeit von uns Menschen umso größer. Denn da war der Eine, den Gott jedem von uns als Maßstab hätte vorhalten können, der Ihn sogar in größtem Leid verherrlicht hat. Unsere Schuld kam durch diese Treue Christi umso mehr zum Vorschein. Gott sei Dank! Christus hat sich nicht von diesem Weg bis ans Kreuz abbringen lassen, sondern ist auch in diese Stunden des Gerichtes Gottes hineingegangen.

Wir könnten am Ende dieses Abschnitts auch sagen: Der erste Teil dessen, was der Herr seinen Jüngern mehrfach angekündigt hatte, fand jetzt seine Erfüllung: Matthäus 16,21; 17,22; 20,18.19. Immer wieder hatte Er davon gesprochen, dass Er durch Menschen misshandelt und überliefert werden würde. Bestätigt wird auch Jesaja 59,14: „Und das Recht ist zurückgedrängt, und die Gerechtigkeit steht von fern; denn die Wahrheit ist gestrauchelt auf dem Markt, und die Geradheit findet keinen Einlass.“ „Ich bot meinen Rücken den Schlagenden und meine Wangen den Raufenden, mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel“ (Jes 50,6). So bleibt der Herr für uns ein Vorbild (vgl. auch Mt 5,1-11). Er hat das getan, um uns in Situationen von Leid und Verwerfung als Hoherpriester eine Hilfe sein zu können. Wir nun dürfen heute von Seiten der Menschen leiden, wie der Meister für uns gelitten hat, und Ihm so Ehre geben, der viel mehr für uns gelitten hat.

Verse 69–75: Die dreifache Verleugnung durch Petrus

„Petrus aber saß draußen im Hof; und eine Magd trat zu ihm und sprach: Auch du warst mit Jesus, dem Galiläer. Er aber leugnete vor allen und sprach: Ich weiß nicht, was du sagst. Als er aber in das Tor hinausgegangen war, sah ihn eine andere; und sie spricht zu denen dort: Dieser war mit Jesus, dem Nazaräer. Und wieder leugnete er mit einem Eid: Ich kenne den Menschen nicht! Kurz darauf aber traten die Dastehenden herzu und sprachen zu Petrus: Wahrhaftig, auch du bist einer von ihnen, denn auch deine Sprache verrät dich. Da fing er an zu fluchen und zu schwören: Ich kenne den Menschen nicht! Und sogleich krähte der Hahn. Und Petrus erinnerte sich an das Wort Jesu, der gesagt hatte: Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Und er ging hinaus und weinte bitterlich“ (Verse 69–75).

Damit kommen wir zu besonders bitteren Augenblicken im Leben von Petrus. Diese Erlebnisse waren aber auch für seinen Meister traurig und mit Leid verbunden. Denn Er liebte Petrus. Jetzt hatte Er im Unterschied zu Judas keinen Ungläubigen unter seinen Jüngern vor sich, sondern einen Gläubigen. Dieser aber stand unter der Macht seines bösen Fleisches. So war er nicht in der Lage, ein Tröster für den Herrn zu sein. Dennoch lässt der Heiland ihn nicht einfach umkommen. Nur Lukas teilt uns den Blick des Herrn zu Petrus mit. Aber auch Matthäus berichtet davon, dass dieser als einer der Jünger nach der Auferstehung den Herrn sehen und bei Ihm sein durfte.

Die dreifache Verleugnung Jesu durch Petrus wird uns in allen vier Evangelien bezeugt. Das zeigt die Wichtigkeit, die der Geist Gottes diesem Vorgang beimisst. Dabei vergessen wir nicht, was dieser Apostel alles an guten Dingen bezeugt hat. Er wurde zum Ersten der Apostel. Aber genau das wird uns hier gezeigt: Die Versuchungen waren für Petrus zwar nicht übermenschlich (vgl. 1. Kor 10,13), im Unterschied zu denen für den Herrn. Aber noch war das Erlösungswerk nicht vollbracht, noch wohnte der Geist Gottes nicht in den Gläubigen. So war sogar der Größte der Apostel, was die Zwölf betrifft, nicht in der Lage, sie zu bestehen. Erst recht nicht, indem er auf sich selbst und seine Fähigkeiten vertraute.

Das zeigt noch einmal den großen Kontrast zu unserem Retter. Er hatte schlimmere Versuchungen zu erdulden. Aber Er kam nie zu Fall. So wird deutlich: Das Erlösungswerk konnte nur Einer vollbringen: Jesus Christus. Für Petrus aber kam jetzt eine sehr dunkle Stunde. Wenn Satan nicht den Meister erschüttern konnte, würde er den Jünger zum Straucheln bringen. Dreimal verleugnete der arme Petrus Den, für den er bekannt hatte, sterben zu wollen. Stattdessen fing er sogar an zu fluchen.

Petrus musste die Abgründe seiner Seele kennenlernen. Er musste regelrecht gesiebt werden, wie der Herr nach Lukas 22,31 sagt. Petrus wusste nicht, was das Fleisch in ihm bedeutete und imstande war zu tun. Er ist darin ein Muster vieler Gläubiger heute, die sich nicht bewusst sind, zu was ihr Fleisch fähig ist. Zweifellos wollte Petrus nicht sündigen. Er wollte das tun, was er dem Herrn gesagt hatte. Aber er war unwissend, nicht nur über seine eigene Schwachheit, sondern auch über sein ungeistliches Selbstvertrauen. Schritt für Schritt ging er auf den Abgrund zu. Wenn jemand ihm vorausgesagt hätte, was er tun würde, hätte er mit größter Abscheu gesagt: Niemals! Das ist eines Jüngers des Herrn vollkommen unwürdig. Genauso hatte er zu seinem Meister gesprochen und dessen Warnungen nicht ernst genommen.

Die absolute Unbrauchbarkeit des Fleisches lernen wir nur durch traurige, oft vielfache Erfahrungen. Zugleich aber lernen wir hier den liebenden, fürsorgenden Herrn kennen, wenn auch nur nebenbei, da dies mehr das Thema von Lukas und Johannes ist. Jesus ließ Petrus nicht im Stich, wenn auch dieser seinen Meister im Stich ließ.

Wir haben in Vers 58 gelesen, dass Petrus von weitem folgte. In unseren Versen finden wir ihn inmitten der Feinde seines Herrn. Hier war er unfähig standzuhalten. Petrus erweist sich genau da als sündig, wo er auf den ersten Blick den Anschein von Stärke gibt. Er muss erfahren, dass ungestüm zu sein nicht dasselbe ist wie Glaubensmut. Die Kraft des Fleisches hatte ihn in eine Lage gebracht, in die er nie hätte kommen sollen. So fiel er. Er hatte sich auf den Weg hinter dem Herrn her gemacht. Petrus war, wenn wir von Johannes absehen, der einzige Jünger, der dem Herrn bis dorthin folgte. Das sieht wie Stärke aus. In Wirklichkeit offenbart er damit seine Schwäche. Denn er tat dies in Eigenwillen. Allerdings brauchen wir gar nicht erst anzufangen, Steine auf ihn zu werfen. Stattdessen sollten wir dafür beten, dass es uns nicht ähnlich ergeht und wir nach einem sündigen Versagen wahre Reue empfinden, wie das bei Petrus zu finden war. Sie setzte bei ihm bereits in dem Augenblick ein, als er zum dritten Mal gesündigt hatte.

Die Orte und die Abfolge der Ereignisse in den vier Evangelien

Mancher hat beim Vergleich der verschiedenen Berichte in den vier Evangelien Schwierigkeiten, den örtlichen und den zeitlichen Rahmen richtig einzuordnen. Das jedoch sollte uns nicht zum Zweifeln bringen.

  1. Die erste Verleugnung fand am Feuer im Hof statt. Das muss draußen gewesen sein, kurz hinter dem „Eingangsbereich“ dieses Hofs (Mk 14,66). Offenbar kam man in diesen abgeschlossenen Bereich nicht ohne Weiteres hinein, so dass es der Fürsprache von Johannes bedurfte, dass Petrus Zutritt bekam (Joh 18,15.16). Anscheinend war er hier im Unterschied zu seinem Mitjünger nicht bekannt. Petrus ging zu der dort eingerichteten Feuerstelle, um sich zu wärmen, und hatte ausreichend Zeit sich dorthin zu setzen (Mt 26,69).
    Wir müssen annehmen, dass Petrus seinen Meister zu dieser Zeit gar nicht sehen konnte, da dieser von Annas und noch nicht von Kajaphas verhört wurde (Joh 18,13.24).
  2. Aus Angst, weiter erkannt zu werden, verließ Petrus offenbar diesen Hofbereich und ging in die Torhalle (Mt 26,71). Das war vermutlich ein Vorhofbereich (vgl. Mk 14,68), der sich möglicherweise noch näher am Eingang und vor allem Ausgang befand. Wollte Petrus die Szene verlassen, weil er merkte, dass er mit der Situation überfordert war?
    Der Weg in das Tor und den Hof außerhalb (Mk 14,68) muss einige Zeit in Anspruch genommen haben. Lukas spricht zwar von „kurz danach“ (Lk 22,58), aber dieses „kurz“ ist ein vergleichend benutzter Ausdruck und wird vom Schreiber des Hebräerbriefs auf den „kurzen“ Brief (von 13 Kapiteln) angewandt (Heb 13,22). Johannes nämlich zeigt uns, dass zwischen dem ersten und zweiten Verleugnen das Verhör Jesu bei Kajaphas stattgefunden hat (Joh 18,19-24). Das muss einige Zeit in Anspruch genommen haben, samt der Rückkehr Jesu. 
    Offensichtlich gab es auch dort einen Feuerbereich (vgl. Joh 18,25). Dort wärmte sich Petrus weiter auf.
  3. Bei der dritten Verleugnung wird nicht gesagt, wo sie stattfand. Wir lesen nur, dass inzwischen ungefähr eine Stunde vergangen war (Lk 22,59). Der Herr hat seinem Knecht also noch einmal die gleiche Zeit zum Nachdenken gegeben, die Er selbst in Gethsemane im Gebet verbracht hatte. Petrus nutzte diese Zeit nach der zweiten Lüge nicht zur Um- und Einkehr.

Die Umstände dieser Ereignisse jedenfalls zeigen deutlich, dass das Versagen des Petrus kein Verplappern und auch keine Unachtsamkeit war. Dazu ist der Zeitraum dieses verkehrten Handelns zu lang!

Was die Unterschiede in der Berichterstattung und der zeitlichen Umfang des Versagens Petrus‘ betrifft, kann man vielleicht noch folgende Aspekte zusammenfassend bedenken:

  • Johannes zeigt uns, dass zwischen dem ersten Leugnen und dem zweiten eine Zeit vergangen sein muss. In dieser Zeit wurde der Herr weiter befragt (Joh 18,19-24).
  • Lukas zeigt uns, dass zwischen dem zweiten Leugnen und dem dritten eine Stunde verging (Lk 22,59).
  • Johannes 18,15–27 können wir – wie gesagt – entnehmen, dass die drei Verleugnungen Petrus‘ durchaus nicht unmittelbar hintereinander stattfanden, sondern „unterbrochen“ wurden durch den Fortgang des Verhörs Jesu.
  • Matthäus, Markus und Lukas schildern sie zusammen und zeigen ihren inneren Zusammenhang.
  • Johannes offenbart die Chronologie und wir lernen, wie ganz anders sich der Eine verhielt, der in einer viel schwierigen Lage war als Petrus.

Wenn man diese Hinweise zusammenfügt, kommt man zu folgendem Ergebnis: Wir sprechen hier insgesamt von vielleicht zwei bis drei Stunden Zeit, die vom Hineingehen Petrus‘ in den Bereich des Hohenpriesters bis zu seiner dritten Verleugnung vergangen sind.

Das alles macht deutlich: Petrus beging hier trotz ausreichend Zeit zur Umkehr und ausreichender Warnung aus Menschenfurcht eine Serie schwerer Sünden. Ihm fehlte das Vertrauen zu seinem Herrn, dass Dieser ihn in dieser schwierigen Situation bewahren würde. Zugleich nutzte er nicht die Zeit zwischen den Versuchungen und Fragen der Knechte des Hohenpriesters, um umzukehren. Er schritt im Bösen fort.

Die drei Personen, die Petrus zum Straucheln brachten

Was die Personen betrifft, durch die Petrus zu Fall kam, können wir die drei Versuchungen ebenfalls unterscheiden:

  1. Die erste Fragerin war eine Magd (Mt 26,59; Mk 14,66; Lk 22,56). Vielleicht muss man sich das so vorstellen, dass die Frau, die Petrus auf Bitten von Johannes hineingelassen hatte, also die Türsteherin (vgl. Joh 18,17), sich an eine Begebenheit erinnert, wo sie Petrus und Jesus zusammen gesehen hatte. Daher lief sie hinter Petrus her und sah ihn am Feuer. Dort sprach sie ihn dann an.
  2. Die zweite Fragerin war erneut eine Magd, die zu anderen, die dabeistanden, den Vorwurf gegen Petrus erhob. Offenbar war auch die erste Magd dabei und wiederholte ihre Frage (Mt 26,71; Mk 14,69). In einem anderen Evangelium ist es einer der Dabeistehenden (Lk 22,58), Johannes zeigt, dass es mehrere waren, die sich über Petrus unterhielten (Joh 18,25). Hätte diese Tatsache Petrus nicht aufwecken müssen? Natürlich können wir menschlich verstehen, dass seine Angst durch die Mehrzahl, die gegen ihn stand, wuchs. Aber der Umstand, dass ihm jetzt gleich mehrere vorhielten, er sei ein Jünger des Herrn, hätte ihn in seinem Gewissen treffen müssen.
  3. Dann verging eine Stunde. Anscheinend ist Petrus in dieser Zeit wieder an den ersten Ort zurückgekehrt, da er ja sehen wollte, was mit Jesus passierte. Weil sich verbreitete, dass er ein Jünger Jesu war, sprachen ihn die dort Stehenden an, als er zum Feuer zurückkehrte. Dort finden wir nun einen Menschen, der ein Verwandter von Malchus war, dem Petrus das Ohr abgeschlagen hatte (vgl. Joh 18,26; Lk 22,59). Zusammen mit anderen (vgl. Mt 26,73; Mk 14,70) erkannte er Petrus, zum Teil auch durch seine Sprache, die ihn als Galiläer offenbarte. Offensichtlich war dieser Verwandte von Malchus auch bei der Gefangennahme Jesu dabei gewesen. Nun leugnete Petrus nicht nur, er verfluchte sich sogar. Petrus log also ganz bewusst. Nach dieser dritten Verleugnung blickte ihn der Herr an. Der Hahn hatte gekräht, Petrus erinnerte sich der Worte des Herrn und sah sofort den Blick seines Retters. Was für ein Blick voller Liebe, aber auch Trauer muss das gewesen sein. Er überwältigte Petrus.

Der Hahnenschrei in den Evangelien

Nicht nur die Einordnung der zeitlichen Zusammenhänge dieser Ereignisse ist herausfordernd. Auch die Frage, wie man die Hinweise zu den Hahnenschreien richtig verstehen kann, ist nicht einfach.

  • Matthäus, Lukas und Johannes berichten, dass der Herr voraussagte, dass Petrus Ihn, bevor der Hahn krähen würde, dreimal verleugnen würde (Mt 26,34; Lk 22,34; Joh 13,38). Sie sprechen also nur von einem einzigen Hahnenschrei (siehe auch Mt 26,75; Lk 22,61; Joh 18,27).
  • Nach Markus dagegen sagt der Herr: „Wahrlich, ich sage dir, dass du heute, in dieser Nacht, ehe der Hahn zweimal kräht, mich dreimal verleugnen wirst.“ (Mk 14,30). Und genau so trat es dann auch ein (Mk 14,68.72).

Auf den ersten Blick sieht das etwas widersprüchlich aus. Wie kann man diese beiden scheinbar gegensätzlichen Hinweise richtig verstehen? In Markus 13,35 gibt (auch nur) Markus wieder, dass der Herr auf die Einteilung der Nacht in vier Wachen zu sprechen kam. Die dritte davon nannte Er „Hahnenschrei“. So ist es gut möglich, dass der Herr mit den beiden Hahnenschreien insgesamt die dritte Nachtwache (mehr oder weniger) umschließt. Dazu gilt es, Folgendes zeitlich zu bedenken:

  • Wir haben bereits gesehen, dass die drei Verleugnungen eine längere Zeit „in Anspruch nahmen“. Der Herr war nach der Passahfeier und der Einsetzung des Mahls in den Garten Gethsemane gegangen. Dort hatte Er vermutlich insgesamt mehr als eine Stunde lange gebetet (allein das erste Gebet dauerte, wie der Herr zu Petrus sagte, eine Stunde lang; Mk 14,37 – und Er betete noch zweimal dasselbe Wort, V. 39; Mt 26,44).
  • Dann kam die durch Christi machtvolle Erscheinung sicher länger andauernde Gefangennahme mithilfe von Judas Iskariot (Joh 18,1-14).
  • Danach begannen die Verhöre von Annas und Kajaphas.

Es ist also gut möglich, dass wir uns bei den drei Verleugnungen Jesu bereits in der dritten Nachtwache befinden: 0–3 Uhr am Freitagmorgen.

Was die Hahnenrufe für Petrus betrifft, handelte es sich zweifellos um außergewöhnliche, ja einzigartige Ereignisse, die in dieser Weise nur in dieser Nacht so stattfanden. Jesus sagte, dass ein (bestimmter) Hahn zweimal krähen würde – aber nicht irgendwann, sondern genau in Verbindung mit den Lügen Petrus‘. Das könnte eine Weissagung des Herrn gewesen sein, legt aber doch den Schluss nahe, dass der Herr diese Schreie bei einem Hahn bewirkte und dass sie nicht einfach auf natürliche Weise hervorgerufen wurden. Der Herr wollte durch sie Petrus‘ Aufmerksamkeit gewinnen.

Da gerade dieser Evangelist (Markus) in Kapitel 13 ausdrücklich und als einziger berichtet, dass der Herr zu Wachsamkeit mehrfach aufgerufen hatte und das in der dritten Nachtwache mit dem Hahnenschrei verband, liegt es nahe, diese Zeit auch in unserem Abschnitt zugrunde zu legen.

Womöglich fand der zweite Hahnenschrei am Ende der dritten Nachtwache statt. Letzterer ist sicherlich der Schrei, den die anderen Evangelisten nennen. Der erste muss dann zu Beginn oder im frühen Verlauf der dritten Wache stattgefunden haben. So finden wir im Evangelium des Dieners eine zusätzliche Warnung für den Diener Petrus. Er hörte leider nicht darauf, obwohl er länger als eine Stunde darüber nachdenken konnte.

Wie schwer fällt es auch uns oft zurückzukehren, nachdem wir einen falschen Weg eingeschlagen haben. Wer begonnen hat zu lügen, tut sich schwer, nun für die Wahrheit einzustehen und die Lüge zu bekennen. Oft steht uns der menschliche Stolz im Weg.

Aufrichtig, aber sich selbst überschätzend

Beim ersten Mal tut Petrus so, als habe er nicht verstanden, worum es der Fragestellerin ging. Aber er hatte es sehr gut erfasst, und daher war auch dies schon eine aktive Verleugnung seiner Beziehung zum Herrn. Beim zweiten Mal leugnete er sogar mit einem Schwur, einem Eid. Beim dritten Mal fing er an zu fluchen und zu schwören: „Ich kenne diesen Menschen nicht.“ Von Mal zu Mal wurde es schlimmer. Petrus hatte die Warnungen überhört. Jetzt musste er bezahlen, was er sich eingebrockt hatte. Es reichten die Worte einer Magd, um Petrus das Fürchten zu lehren. Es war kein großer Widersacher, der gegen Petrus auftrat. Es war einfach nur eine Magd. Aber diese brachte Petrus zu Fall.

Wir haben den Jünger vor uns, der am meisten von allen auf die Kraft seiner Liebe vertraute und notfalls mit dem Herrn sterben wollte. Jetzt aber bewies er, wie wenig er bisher von der Wirklichkeit des Todes und von dessen Schrecken wusste. Alle Menschen erweisen sich angesichts der Macht des Todes als kraftlos, mit einer Ausnahme: Christus zeigte sogar in seiner größten Schwachheit, als Er am Kreuz hing (vgl. 2. Kor 13,4), dass Er allein der Geber aller Kraft und der Offenbarer aller Gnade war. Er tat dies sogar, als Er in einem solch furchtbaren Gericht war, wie es kein Mensch jemals gekannt hat.

Armer Petrus! Er liebte Jesus aufrichtig. Aber voller Vertrauen auf sich selbst hatte er die Warnungen des Herrn nicht beachtet (Verse 31.34.40.41). Der Hahnenschrei, die Erinnerung an die Worte Jesu (Lk 22,61: der Blick) zerrissen aber plötzlich den finsteren und kalten Nebel, der ihn eingehüllt hatte. In seinem Herzen konnte es von nun an wieder heller werden. Aber dazu musste er erst den auferstandenen Retter wieder vor sich haben. Daher sehen wir zunächst, dass er mit Bitterkeit erkennen musste, was er soeben getan hatte. Er ging zerbrochen hinaus und weinte bitterlich über seine schreckliche Sünde. Das wiederum ist beispielgebend für uns! Manchmal kann man sich fragen: Wie viele von uns kennen diese Tränen der Reue und Buße?

Von der Ohnmacht des Menschen gegenüber dem Feind seiner Seele und der Sünde schmerzlich überführt, ging Petrus hinaus und weinte bitterlich. Seine Tränen konnten seine Schuld nicht tilgen. Sie waren aber ein Beweis der durch die Gnade bewirkten Herzensaufrichtigkeit. Aber sie bezeugten auch die Ohnmacht der Sünde, die durch die Aufrichtigkeit des Herzens nicht behoben werden kann. Was muss Petrus für schreckliche Stunden erlebt haben, als sein Meister starb, er selbst aber noch keinen inneren Frieden durch Vergebung erlangt hatte. Petrus musste hier lernen, dass die Betrübnis Gottes gemäß eine nie zu bereuende Buße zum Heil bewirkt (2. Kor 7,10).

Was für einen Kontrast sehen wir zudem zwischen unserem Retter und Petrus. Der Herr wurde durch einen Schwur aufgefordert, zur Wahrheit zu stehen. Auch wenn diese sein Leben kosten würde, war Er dazu bereit. Petrus wurde nicht unter Eid gestellt. Er selbst leugnete mit einem Eid und fluchte und schwor selbst. Aber damit verleugnete er seinen Meister. Was für eine Schande!

Wenn wir an dieser Stelle noch einmal zurückblicken, können wir sagen, dass Jesus dreimal dem Teufel in der Wüste in Treue widerstanden hat. Dreimal hatte Er durch Wachsamkeit im Garten Gethsemane im Gebet wahre Hingabe offenbart. Dreimal hat Ihn nun sein Jünger verleugnet – und in welcher schändlichen Weise. Petrus empfand die Distanz, die ihn von dem vollkommenen Menschen trennte. Aber der Herr ließ ihn nicht und sorgte für seine Wiederherstellung, und zwar sofort. Aber das ist nicht das Thema von Matthäus, sondern von Johannes und Lukas ...

Verse 1–26: Reue ohne Buße von Judas und das treue Bekenntnis Jesu vor Pilatus (K. 27)

„Als es aber Morgen geworden war, hielten alle Hohenpriester und Ältesten des Volkes Rat gegen Jesus, um ihn zu Tode zu bringen. Und nachdem sie ihn gebunden hatten, führten sie ihn weg und überlieferten ihn Pontius Pilatus, dem Statthalter“ (Verse 1.2).

Die ersten 26 Verse von Kapitel 27 gehören noch zu dem Thema, das uns schon in Kapitel 26 beschäftigt hat. Hier finden wir den siebten und letzten Kontrast, den der Geist Gottes in diesen Abschnitten zeichnet, nämlich zwischen Judas und Christus. Beide „stellen“ sich den Obersten des Volkes. Der eine gibt seine böse Tat zu, wird aber nicht dafür verurteilt. Unbußfertig und voller Verzweiflung nimmt er sich daraufhin selbst das Leben, um dann ins ewige Verderben zu gehen. Der andere – Christus – hat nie eine böse Tat begangen, wird aber trotzdem verurteilt und gibt dann voller Liebe selbst sein Leben hin, um andere vor dem ewigen Verderben zu erretten.

Zugleich stellen diese Verse den römischen Statthalter und Prokurator Pilatus unserem Retter gegenüber. Auge in Auge standen sie dort. Auf der einen Seite der skrupellose Römer und Statthalter, auf der anderen Seite der reine, schweigende Jude und Messias. Vor dem großen weißen Thron (Off 20) werden sie sich noch einmal gegenüberstehen – dann mit umgekehrten Vorzeichen. Was für ein Erwachen wird dies sein – für Pilatus, für Judas, aber auch für die Hohenpriester, Schriftgelehrten und Ältesten.

Es war Morgen geworden. Ein neuer Tag begann. Es war der letzte im Leben unseres Meisters vor dem Tod am Kreuz. Es muss wohl kurz vor sechs Uhr morgens gewesen sein. Soeben dämmerte es an einem Tag, wie ihn diese Erde noch nie gesehen hatte und auch nie wieder sehen wird.

In der vorausgehenden Nacht hat es für viele Beteiligte sicher keinen Schlaf, „keine Nacht“ gegeben. Der Herr sah sicher keinen Schlaf. Das Wort schweigt darüber, was man noch alles mit dem Herrn in der Nacht angestellt hat, bevor dann am Morgen diese Ratssitzung stattfand. Petrus hatte diese Nacht sicher auch ohne Schlaf zugebracht. Innerlich aufgewühlt und voller Selbstvorwürfe muss er immer wieder an die Verleugnung seines Meisters gedacht haben. Ebenso die anderen Jünger, die alle ihren Herrn verlassen hatten. Auch sie werden wohl kaum geschlafen haben, nachdem sie aus Furcht weggelaufen waren. Was würde jetzt aus Dem, in den sie so große Hoffnungen gesetzt hatten?

Wohl auch die Hohenpriester blieben wach und besprachen, wie sie den Heiligen in die Hände der Römer bringen konnten, um Ihn zu Tode zu bringen. Ob sie vielleicht sogar in dieser Nacht Kontakt zum Palast des Pilatus aufgenommen haben, um ihn für ihre Sache zu gewinnen? Die Geschwindigkeit, mit der das gesamte Verfahren am Morgen ablief, lässt einen anderen Schluss fast nicht zu. Denn um 9 Uhr morgens waren alle Verfahren nicht nur abgeschlossen. Der Retter war schon durch die Stadt mitsamt seinem Kreuz gegangen und hing um diese Zeit bereits am Kreuz auf Golgatha (Mk 15,25). Markus verwendet wie Matthäus die Zeitrechnung der Juden, bei der man von 18 Uhr bzw. 6 Uhr die Stunden zählt. Die dritte Stunde, anfangend von 6 Uhr morgens, war somit 9 Uhr. Man weiß aus der Geschichte, dass es manche Verfahren gab, die sich sehr lang hinzogen. In diesem Fall aber fackelte man nicht lange. Innerhalb kürzester Zeit war alles abgeschlossen.

Matthäus berichtet von dieser zweiten Sitzung vor Kajaphas nur sehr kurz. Lukas behandelt diesen „offiziellen“ Verfahrensteil vor dem Synedrium, der obersten jüdischen religiösen und politischen Instanz sowie dem obersten Gericht in Israel, immerhin mit sechs Versen. Von Matthäus lernen wir, dass es sich hier um ein abgekartetes Spiel handelte. Der Abend hatte bereits alles festgelegt. Jetzt sollte offenbar nur noch ein formaler, offizieller Beschluss gefasst werden, um äußerlich korrekt gehandelt zu haben. Denn das Synedrium konnte erst nach Aufgang der Sonne einen solchen Beschluss vornehmen (vgl. Mk 15,1). Das war so festgelegt worden, und dieses „Recht“ war den Führern in Israel jetzt wichtiger als die Wahrheit und ein gerechtes Urteil. Eine moralische Gerechtigkeit interessierte die jüdischen Führer nicht.

Die letzten Begebenheiten im Leben des Herrn werden besonders von Matthäus in einer Weise berichtet, welche die übermäßige Schuld der Führer Israels herausstellt. Besonders in Kapitel 23 sehen wir das. Die einleitenden Verse dieses Kapitels zeigen uns nun, dass die Verurteilung Jesu zum Tod durch Pilatus erfolgen musste. Dennoch ging die Feindseligkeit, die dem Herrn bis zu seinem Tod entgegenschlug, von den jüdischen Führern aus. Sie waren nicht daran interessiert, Recht zu sprechen. Ihr einziges Ziel war, Ihn zu Tode zu bringen. Alle Führer in Israel waren hierzu versammelt. So wurden gerade diejenigen, die Führer des Volkes hätten sein sollen, zu den größten Schuldigen und Irreführern.

Nun lesen wir in unserem Evangelium das erste Mal davon, dass unser Retter buchstäblich „gebunden“ wurde. Zweifellos war das schon vorher der Fall gewesen. Aber Matthäus berichtet diesen Umstand erst jetzt. Die Freiheit Jesu war nun endgültig vorbei. In dieser demütigenden Weise führte man Ihn zu Pontius Pilatus, dem Statthalter. Kein anderer Evangelist spricht so häufig vom Statthalter wie Matthäus: 27,2.11.14.15.21.23; 28,14. Soll damit nicht deutlich gemacht werden, dass die Juden, die hier scheinbar so souverän gegenüber ihrem König auftraten, in Wirklichkeit selbst Gefangene der Römer waren? Sie waren nicht frei, weil sie als Volk so oft versagt und gesündigt hatten. Daher musste Gott sie in die Gefangenschaft der Babylonier bringen, dann der Perser und Griechen, schließlich in die der Römer. Sie hätten sich deshalb unter die mächtige Hand Gottes beugen sollen. Stattdessen aber werfen sie ihren Gott und König aus dem Weinberg hinaus, um Ihn umzubringen.

Das römische Gesetz erlaubte es den Juden nicht mehr, ein Todesurteil auszuführen (vgl. Joh 18,31; 19,7). So waren selbst die Hohenpriester und Ältesten auf die „ungläubigen“ Römer angewiesen, um die eigene Rechtsprechung umsetzen zu können. Daher überlieferten die Führer der Juden den Herrn nun an ihren Statthalter. Schon einmal war der Herr öffentlich nach Jerusalem gekommen. Aber was für ein Unterschied bestand jetzt zu dem vorherigen Einzug in Jerusalem, von dem Matthäus in Kapitel 21 berichtet. Damals wurde der Herr als König angerufen und gepriesen. Jetzt wurde Er als König angeklagt und verspottet.

Das Ende von Judas (Verse 3–10).

Als nun Judas, der ihn überliefert hatte, sah, dass er verurteilt wurde, reute es ihn, und er brachte die dreißig Silberstücke den Hohenpriestern und Ältesten zurück und sagte: Ich habe gesündigt, indem ich schuldloses Blut überliefert habe. Sie aber sagten: Was geht das uns an? Sieh du zu. Und er warf die Silberstücke in den Tempel° und machte sich davon und ging hin und erhängte sich. Die Hohenpriester aber nahmen die Silberstücke und sprachen: Es ist nicht erlaubt, sie zu dem Korban zu geben, da es ja Blutgeld ist. Sie hielten aber Rat und kauften dafür den Acker des Töpfers als Begräbnisstätte für die Fremden. Deswegen ist jener Acker Blutacker genannt worden bis auf den heutigen Tag. Da wurde erfüllt, was durch den Propheten Jeremia geredet ist, der spricht: „Und sie nahmen die dreißig Silberstücke, den Preis des Geschätzten, den man geschätzt hatte seitens der Söhne Israels, und gaben sie für den Acker des Töpfers, wie mir der Herr befohlen hat“ (Verse 3–10).

Mitten in diese Behandlung des Herrn durch die Juden und durch Pilatus wird die Schlussepisode des Lebens von Judas Iskariot gestellt. Wir können nicht sicher sagen, wann diese Begebenheit zeitlich stattgefunden hat. Es ist bekannt, dass sich Matthäus unter der Leitung des Heiligen Geistes oftmals nicht nach der Chronologie richtet. Das tut er auch in diesen letzten Kapiteln nicht immer. Hinzu kommt, dass der abschließende Bericht über Judas keine direkte Zeitangabe enthält. Es ist anzunehmen, dass dieser Selbstmord nach dem Tod des Herrn stattfand. Denn Judas konnte bis zum Schluss davon ausgehen, dass sich der Herr doch noch befreien würde. Es heißt hier, dass Judas diese Dinge in Angriff nahm, als er sah, dass der Herr verurteilt wurde. Da der Tod des Herrn fast unmittelbar danach bewirkt wurde, dürften die hier genannten Ereignisse sicher in Verbindung mit dem Tod Jesu stattgefunden haben. Aber was für ein Unterschied!

Diese Verse sollen den Gegensatz zwischen Judas und seinem Meister offenbar machen. Die Würde und Hingabe Jesu strahlt umso mehr hervor, je deutlicher die Geldliebe und der Egoismus von Judas sichtbar werden. Grundsätzlich fällt auf, wie der Bericht in Matthäus den erbärmlichen Zustand des Menschen offenbart. Das ist unabhängig davon wahr, ob es sich um einen Gläubigen wie Petrus handelt oder um einen Ungläubigen wie Judas. Wir sehen, was der Mensch im Fleisch ist, selbst wenn er durch die Gnade für Christus gewonnen wurde. Judas, Petrus, die Jünger, die Hohenpriester, Pilatus, die Soldaten: Sie alle zeichnen das Bild von Menschen, die nicht in der Lage waren, Christus zu folgen. Diejenigen, die neues Leben besaßen, traten entweder die Flucht an (die meisten Jünger), als die Drangsale für den Herrn Jesus kamen, oder sie trugen dazu bei, diese noch zu erhöhen (Petrus). Oder sie hielten sich einfach heraus und bekannten sich nicht zu ihrem Meister (Johannes).

Keine Buße, kein Bekenntnis, nur ein Geständnis von Judas

Als Judas sah, dass sein Meister endgültig verurteilt worden war, öffneten sich seine Augen über die Schrecklichkeit seiner Handlung. Nicht, dass wir ein echtes Bekenntnis und wahre Buße bei ihm erkennen könnten. Aber von Gewissensbissen gequält, brachte er die 30 Silberstücke denen zurück, die sie ihm ausgehändigt hatten. Sein Gewissen schlug zwar. Aber „er fand keinen Raum zur Buße“ (Heb 12,17).

Judas gesellte sich zu den Führern der Juden. Sie kannten ihn inzwischen gut. Denn er war der Verräter, durch den sie ihr Ziel erreichen konnten. „Was will er?“, hört man die Hohenpriester und Schriftgelehrten gewissermaßen fragen. Judas bestätigt die Unschuld seines Meisters, bringt das Geld zurück und drückt seine Reue aus. Aber mehr als ein Geständnis war es nicht. Denn ein aufrichtiges Bekenntnis erfordert Glauben. Judas traf auf Herzen, die genauso verhärtet waren wie das seine. Er hatte wahrscheinlich gedacht, Jesus würde denen entweichen können, die Ihn töten wollten. Das war zuvor ja auch mehrfach der Fall gewesen (Lk 4,29.30; Joh 8,59; 10,39). Hatte er gehofft, der Herr würde sich durch übernatürliche Kräfte befreien können oder die Anklagen würden sich nicht aufrechterhalten lassen – Hauptsache, er bekam die 30 Silberstücke? Aber warum brachte er sie jetzt zurück? Hatte er Angst, Jesus wieder gegenüberstehen zu müssen? Als sein Verräter? Und wie wollte er Ihm dann begegnen und in die Augen sehen? Hier zeigt sich, dass Unglaube vollkommen irrational ist.

Judas reiht sich in die Menge der Zeugen ein, welche die Unschuld und Gerechtigkeit Jesu Christi unterstreichen. So musste letztlich sogar Satan, der in Judas gefahren war (Joh 13,27), durch ein von ihm betrogenes Gewissen Zeugnis ablegen von der Schuldlosigkeit des Herrn. Derselbe Mann, der in der Hand Satans das Mittel wurde, um Jesus an seine Feinde zu überliefern, musste nun dessen Unschuld bekennen. Judas war dem Herrn äußerlich sehr nahe. Aber moralisch lagen Welten zwischen ihm und Christus. Er war besonders schuldig (vgl. Joh 19,11). Denn er genoss äußere Vorrechte wie kaum ein anderer. Aber die Wahrheit, die er durch diese Vorrechte hören konnte, regierte nicht sein Herz.

Bei Judas finden wir keine wahre Buße, die zum Heil führte. Hätte er Glauben gehabt, würde er sich an seinen Meister gewandt haben. Dieser hätte ihm den Weg des Lebens und damit einen von Gott anerkannten Ausweg aus seiner Sünde gewiesen. Petrus hat im schmerzlichsten Augenblick seines Lebens diesen Weg gewählt und zu seinem Meister, Christus, gesehen. Das Geständnis von Judas war kein wahres Selbstgericht. Es war nur das mindeste, was er sagen konnte, das, was offensichtlich war. Jeder konnte erkennen, dass der Herr vollkommen zu Unrecht von den jüdischen Führern verurteilt worden war. Wo aber bleibt ein tiefergehendes Bekenntnis und Einsehen des eigenen, bösen Zustandes? Wo bleibt der Hinweis darauf, dass der Herr der Heilige, der Gerechte, der Sohn Gottes war?

Über Judas konnte man nicht sagen: „Jetzt freue ich mich nicht, dass ihr betrübt worden seid, sondern dass ihr zur Buße betrübt worden sei; denn ihr seid Gott gemäß betrübt worden ... Denn die Betrübnis Gott gemäß bewirkt eine nie zu bereuende Buße zum Heil; die Betrübnis der Welt aber bewirkt den Tod“ (2. Kor 7,9.10). In diesen Tod stürzte sich Judas nun. Er hatte unschuldiges Blut verraten. Das ließ ihn verzweifeln. Annas und Kajaphas dagegen verurteilten nicht nur wissentlich und bewusst unschuldiges Blut. Sie verharrten auch darin. Das ist furchtbar. Darüber lesen wir in den Psalmen: „Er sitzt im Hinterhalt der Gehöfte, in Verstecken ermordet er den Unschuldigen; seine Augen spähen dem Unglücklichen nach ... Warum verachtete der Gottlose Gott, spricht in seinem Herzen: Du wirst nicht nachforschen?“ (Ps 10,8.13). Das war die Haltung der Juden – aber sie waren zu selbstgerecht, als dass sie Gewissensbisse bekommen hätten. Jedenfalls lesen wir von derartigen Regungen bei ihnen nichts.

Die Gleichgültigkeit der Feinde des Herrn und Satans Erbarmungslosigkeit

Die Antwort auf das Geständnis von Judas war furchtbar. Die Hohenpriester und Ältesten sagten: „Was geht das uns an?“ Das erinnert uns an Kain, der auf die Frage Gottes, wo denn Abel sei, antwortete: „Ich weiß es nicht. Bin ich meines Bruders Hüter?“ (1. Mo 4,9). Die jüdischen Führer hatten ihr Ziel erreicht. Das Problem von Judas sahen sie nicht als das ihre an – damit musste dieser „arme“ Mann selbst zurechtkommen. Hätten sie diesen Verräter unschuldigen Blutes nicht eigentlich verurteilen müssen, wenn es um Gerechtigkeit gegangen wäre?

Nach seinem Verrat fand er weder bei Menschen noch bei Satan Mitleid. Wir sehen, wie Satan mit denen umgeht, die sich ihm verkaufen. Wenn sie nicht mehr gebraucht werden, lässt er sie ohne Hoffnung in völliger Verzweiflung zurück. Zuerst bringt er sie dazu, zu sündigen. Dann überlässt er sie ihrer Hoffnungslosigkeit. Jeder Hilfsquelle beraubt, blieb Judas, wie er dachte, nichts anderes übrig, als sich in den Abgrund zu stürzen. Dort muss er nun den Tag erwarten, an dem er vor dem Sohn des Menschen erscheinen muss, den er für 30 Silberstücke verkauft hat. Was nützten Judas noch die 30 Silberstücke? Verräter-Geld klebte an seinen Händen. Zwar konnte er das Geld loswerden, aber von der Schuld, die er auf sich geladen hatte, konnte er sich nie wieder befreien. Petrus war anderer Art, denn er besaß Leben aus Gott; er hatte sich bekehrt. Aber hätte der Herr nicht für ihn gebetet, wäre auch er verzweifelt.

Judas ging, um mit den Aposteln zu sprechen, „an seinen eigenen Ort“ (Apg 1,25) – seinen Bestimmungsort. Er befindet sich jetzt im Hades, um sein ewiges Gericht zu erwarten. Hier auf der Erde hat er sich selbst das Leben genommen. Das steht keinem Menschen zu, weil nur Gott die Autorität über Leben und Tod besitzt. Nur der Herr Jesus, der Gewalt hat, auch als Mensch Leben in sich selbst zu besitzen (vgl. Joh 5,26.27), hatte das Gebot vom Vater empfangen, sein Leben von sich selbst aus lassen zu dürfen. Aber kein anderer Mensch besitzt dieses Recht. Suizid ist Sünde.

Zunächst warf Judas die Silberstücke in den Tempel. Erstaunlicherweise lesen wir hier nicht von den Tempelgebäuden, sondern vom Tempel selbst. Offenbar war dieser zum Vorhof hin geöffnet (vgl. Lk 21,1). Wir müssen also nicht annehmen, dass sich Judas widerrechtlich Zugang zu diesem Tempel verschafft hätte, in den nur die Priester und Leviten eintreten durften. Wahrscheinlich hat Judas das Geld von außen in den Tempel geworfen und sich dann erhängt. Nach der Beschreibung von Petrus in der Apostelgeschichte können wir annehmen, dass Judas möglicherweise etwas übergewichtig war. Jedenfalls hat es den Anschein, dass der Baum oder Balken, an dem er sich erhängen wollte, unter seinem Gewicht zerbrochen ist. Vielleicht ist auch das Seil gerissen, so dass nach Apostelgeschichte 1,18 der Körper von Judas aufgeschlitzt wurde und die Eingeweide aus dem Körper hervorkamen. Was für ein auch äußerlich schreckliches Ende einer Person, die gewählt hatte, aus Geldliebe Verräter des Gesalbten Gottes zu sein.

Das erinnert uns an Ahitophel, der – genau wie Judas beim Herrn Jesus – zum engen Vertrautenkreis von David gehörte. Als aber Absalom an die Macht kam, wechselte Ahitophel die Seiten und wollte seinen eigenen König verraten. Um des eigenen Vorteils willen gab er Ratschläge, die Absalom, dem falschen, bösen König, helfen und David zu Tode bringen sollten. Nachdem er jedoch feststellen musste, dass Gott durch Husai diese Pläne verhinderte, so dass Absalom ihnen nicht folgte, ging er hin und erdrosselte sich (2. Sam 17,23).

Die formale Reinheit der jüdischen Führer

Was für ein Schauspiel bietet sich unseren Augen in Vers 6! Die Priester hatten sich kein Gewissen daraus gemacht, das Blut Jesu, das heißt sein Leben, von Judas zu kaufen. Jetzt zeigten sie Bedenken, das Geld in den Opferkasten des Tempels zu werfen. Es war ja Blutgeld ... Sie meinten, recht zu handeln. Zugleich aber gaben sie zu, dass sie Blut vergossen hatten. Der Mensch zeigte seinen wahren Charakter unter der Macht Satans und versuchte doch, fromm zu erscheinen.

Mit anderen Worten: Die Hohenpriester und Ältesten hatten keine Skrupel, das Blut und damit ein Menschenleben zu kaufen. Aber das Geld dafür in den Tempelschatz zu tun, das verunreinigte aus ihrer zeremoniellen Sicht. Die Priester achteten peinlich genau darauf, ob alle äußeren Vorschriften eingehalten würden. Andererseits aber waren sie vollkommen gewissenlos, wenn es um einen Mord ging. Das Innere sah niemand, dachten sie. So konnten sie ihre Bosheit vor Menschen verbergen. Sie vergaßen aber, dass es Gott gibt. Er sieht in unsere Herzen. Mit Heuchelei kann man Menschen etwas vorspielen, Gott nicht!

Mit dem Kauf des Ackers des Töpfers meinten die Hohenpriester, einen guten und weisen Ausweg gefunden zu haben. Das, was aufgrund der Arbeitsergebnisse des Töpfers nicht für eine Grabstätte der Juden angemessen erschien, war für die Fremden gut genug. Zudem hofften sie, auf diese Weise ihre Gräueltat vertuschen zu können. Aber sie hatten anscheinend nicht einmal ein Gewissen im Blick auf ihre boshafte Handlung.

Vor allem übersehen sie, dass eine Trennung von Juden und Nichtjuden von nun an keine Berechtigung mehr besaß. Denn Gott war gerade dabei, diese Trennung aufzulösen. Die Juden hatten sich gegen den Gott aufgelehnt, der sie aus allen Familien der Erde herausgerufen hatte. Sie waren jetzt dabei, sich mit den eigentlich von ihnen gehassten Nationen einszumachen, um ihren Konkurrenten, den wahren Messias, zu beseitigen. Dieses Werk würden sie jetzt vollenden. Das wiederum nahm Gott zum Anlass, sein eigenes Volk zur Seite zu stellen und unter die Nationen zu zerstreuen.

Was den Töpferacker betrifft, ist es auch möglich, dass die Juden speziell an heidnische Proselyten gedacht haben. Wir haben in Kapitel 23 davon gelesen, dass die Führer des Volkes versuchten, sich auf diese Weise Jünger zu machen. Die Hohenpriester sahen solche „ausländischen“ Immigranten als Menschen auf niedrigerem Niveau an. Dabei hatten sie große Energie aufgewandt, um solche als Jünger zu gewinnen. Zum Teil waren sie nämlich sogar über das Meer und das trockene Land gezogen, um Nachfolger zu werben (vgl. Mt 23,15).

Der Blutacker für die Juden

Diese Verse haben jedoch noch eine weitergehende, für das Volk Israel unheilvolle prophetische Bedeutung. Daran konnten diese Menschen damals gar nicht denken. Einerseits ist Israel im eigenen Land zu einem Fremdling geworden. Sie standen ja schon zur Zeit Jesu unter Fremdherrschaft. Diese Autorität des Römischen Reiches erhöhte sich nach der Zerstörung des Tempels um 70 n. Chr. Das aber ist nicht das Einzige. Denn die Juden wurden danach auch über die ganze Erde zerstreut, und das gilt bis heute. So ist Israel zur vorübergehenden Heimat für Fremdlinge geworden:

  1. Von dieser Zeit an wurde nämlich die heidnische Welt selbst zu einem Acker des Töpfers. In diesem wurden die zerstreuten Juden als Fremdlinge bis zu den Enden der Erde vertrieben. Juden selbst haben mit dem Blut Christi ihre eigenen Seelen verkauft.
  2. Gott ist der große Töpfer, der sein eigenes Werk in seinem Volk durch dieses Mittel ausführt. Israel ist während des gegenwärtigen Zeitalters bildlich gesprochen tot und begraben. Aber auf das Volk wartet noch eine nationale Auferstehung, wie Hesekiel 36.37 deutlich macht.
  3. Aus Israel wurde bis zum heutigen Tag ein Blutacker. Dieses Land ist ein Feld, wo Fremdlinge begraben werden. Israel wurde aus seinem eigenen Land hinausgeworfen. Dort haben sich Heiden, Araber, angesiedelt. Auch wenn diese dort keine wahre Heimat gefunden haben und auch in Zukunft keine haben werden, werden sie doch dort begraben.

Durch diese Bluttat Israels brach jetzt also die Zeit der Gnade Gottes gegenüber den Fremdlingen an. Diese Zeit ist verbunden mit Gericht über Israel. Darüber hinaus aber stifteten diese Hohenpriester mit diesem Blutacker, wie er „bis auf den heutigen Tag“ genannt wird, ein fortdauerndes Gedächtnis ihrer eigenen Sünde. Das vergossene Blut Jesu bleibt auf diese Weise im Bewusstsein. Der Blutacker ist alles, was von den äußeren Umständen des großen Opfers unseres Herrn in der Welt übriggeblieben ist. Ihn selbst haben nur noch Gläubige nach seiner Auferstehung gesehen, den Blutacker Israel können wir bis heute sehen. Sogar die ganze Welt ist ein solcher Blutacker. Aber wie gut, dass das Blut Jesu besser redet als das Blut Abels (vgl. Heb 12,24). So gibt es Erlösung für jeden, der an Gott und das Werk Jesu am Kreuz glaubt.

Dieser Gedankengang führt uns zurück nach 1. Mose 4. Kain ist ein Vorbild des Volkes Israel. Er hatte soeben seinen Bruder Abel – ein Vorbild des Herrn Jesus – erschlagen. So hat das Volk Israel seinen eigenen „Bruder“ aus dem Stamm Juda, ihren Messias Jesus Christus, vor 2000 Jahren umgebracht (vgl. Apg 2,23). Gott sagte zu Kain nach seinem Mord: „Horch! Das Blut deines Bruders schreit zu mir von dem Erdboden her. Und nun, verflucht seiest du vom Erdboden weg, der seinen Mund aufgetan hat, um das Blut deines Bruder von deiner Hand zu empfangen! Wenn du den Erdboden bebaust, soll er dir fortan seine Kraft nicht geben; unstet und flüchtig sollst du sein auf der Erde“ (1. Mo 4,10-12).

Bei Abel schrie das Blut vom Erdboden her (hier wird das allgemeinere Wort für Erde benutzt). In viel höherem Maß schreit das Blut des einzigartigen Herrn und Königs Jesus Christus zu Gott vom Land Israel aus. So, wie Kain vom Erdboden weg verflucht war, so würde Israel von nun an unter dem Fluch ihrer Verwerfung des Messias stehen. Und wenn Kain den Erdboden bebauen würde, würde ihm dieser keine Kraft geben. So war das Handeln der Juden von der damaligen Zeit an nicht mehr zu ihrem Segen. Unstet und flüchtig wären sie auf der Erde. Sie sind es – bis auf einen ganz kleinen Teil, der in Israel lebt – auch heute noch.

Die Geschichte des Blutackers ist aber noch nicht vorbei. Denn in noch weit größerem Maß wird Blut in der kommenden Drangsalszeit in diesem Land fließen. Davon haben wir in Matthäus 24 gelesen. Erst dann, wenn die gläubigen Übriggebliebenen im Volk sich zusammenfinden werden, um ihren Messias zu erwarten, hat das Blutvergießen ein Ende. Denn Er wird als ihr Erlöser nach Zion kommen.

Es fällt auf, dass weder diese Verse (ab Vers 6) noch die prophetischen Vorhersagen im Blick auf diesen Acker von Judas Iskariot sprechen. Es ist jeweils ganz allgemein von Israel die Rede. Es geht um die Frage: Was war der eigene Messias seinem Volk wert? Die Antwort ist: 30 Silberstücke. Im Austausch dafür haben sie das Feld des Töpfers erhalten, den Blutacker, obwohl es eigentlich das Feld von Judas war und blieb (vgl. Apg 1,18). Das war, wie Matthäus jetzt zeigt, sogar vom Herrn befohlen worden (Vers 10) in seiner souveränen und gerechten Regierung.

Das Zitat Sacharjas

Matthäus zeigt, dass durch den Kauf des Blutacker eine Weissagung Jeremias erfüllt wurde. Wir haben bereits früher gesehen (siehe Matthäus 1,23), dass Matthäus durch seine Wortwahl „da wurde erfüllt“ eine Erfüllung in einem weiteren, allgemeinen Sinn meint. Es geht an dieser Stelle nicht darum, dass eine ganz konkret auf diese spezielle Situation bezogene Weissagung erfüllt wird. Das mag ein erster Grund dafür sein, dass sich Matthäus auf Jeremia bezieht und nicht auf Sacharja. Wer einen entsprechenden Hinweis im Alten Testament sucht, wird zunächst nicht bei Jeremia fündig, wohl aber bei Sacharja. Das stellt natürlich ein Problem dar.

Bevor wir uns dieser Schwierigkeit nähern, sehen wir uns zunächst das Zitat Sacharjas an, das uns schon näher beschäftigt hat (s. die Ausführungen zu Matthäus 26,14-16). Wir erkennen in Sacharja 11,4, dass es zunächst einmal um den Propheten selbst geht. Er bekam damals den Auftrag, eine Herde zu weiden. „So sprach der HERR, mein Gott: Weide die Herde des Würgens, deren Käufer sie erwürgen und es nicht büßen, und deren Verkäufer sprechen: Gepriesen sei der HERR, denn ich werde reich!, und deren Hirten sie nicht verschonen ...“

Ist das aber die ganze Bedeutung der Verse, die er aufgeschrieben hat? Sicherlich nicht! Er sprach letztlich nicht in erster Linie von sich selbst, vor allem nicht im weiteren Verlauf. Der Geist Gottes benutzte Sacharja, um auf einen Größeren hinzuweisen, der genau das erleben musste, was er prophezeite. Der Herr hatte mit solchen selbstsüchtigen Käufern und Verkäufern zu tun, die sich nicht um die Herde kümmerten bzw. diese unter großen Druck setzten. Das waren die Hohenpriester, die Schriftgelehrten und Ältesten.

In Vers 12 heißt es dann: „Ich sprach zu ihnen“, dass sie einen Preis für seinen Lohn festlegen sollten. Aus Matthäus 27 wissen wir, dass in Wirklichkeit Judas zu den Hohenpriestern ging, um den Preis für den Herrn Jesus festzulegen. Daraus erkennen wir: Wenn auch Judas der äußerlich Handelnde war, so stand dieses Handeln aber doch längst im Ratschluss Gottes fest. Das nimmt von Judas nicht die Verantwortung für sein Tun, zeigt aber, dass Gott nichts aus den Händen gleitet. Im Gegenteil, sein Ratschluss wird ausgeführt.

Im Propheten Sacharja liest man dann weiter, dass ihm als Preis der eines Sklaven genannt wird: 30 Sekel Silber (vgl. 2. Mo 21,32). In göttlichem Sarkasmus wird er „herrlich“ genannt. Dieser Preis war eine Unverfrorenheit angesichts der Größe des Hirten (Jesus) und seines Tuns. So wirft Jahwe (oder symbolisch Sacharja) dieses Geld mit Entrüstung und Empörung in das Haus des Herrn, dem Töpfer hin. Hier ist es also der Herr selbst und nicht Judas, der mit dem Geld den Blutacker kauft. Das allein zeigt, dass die Prophetie sich weiter erstreckt als nur auf das Handeln von Judas.

So genau ist die Vorhersage, dass sogar geweissagt wurde, was Judas tun würde, nämlich das Geld in den Tempel werfen. Dort wurde es jedoch aus formalen Gründen, wie wir gesehen haben, nicht akzeptiert. In abscheulicher Heuchelei benutzten es die Hohenpriester zum Kauf eines Feldes. Es war durch die vielen unbrauchbaren Tonscherben des Töpfers nicht für den Ackerbau geeignet. Es konnte aber für Gräber verwendet werden. Da es mehr oder weniger wertloses Land aus Sicht der Juden war, kamen für diese Gräber nur Fremde in Frage.

Matthäus zitiert nicht das Hinwerfen in das Haus des Herrn. Auch das beweist, dass es ihm im Blick auf die Weissagung nicht so sehr um das konkrete Handeln Judas geht. Vor seinen Augen steht die daraus hervorkommende Verwerfung des Messias durch alle beteiligten Personengruppen. Matthäus nennt dann den Auftrag Gottes, dieses Geld für den Acker des Töpfers zu geben. Das taten hier die Hohenpriester und Ältesten. Letztlich jedoch hatte Gott selbst den Ort bestimmt. Er deutet durch dieses Handeln an, was mit dem Volk Israel passieren würde. Aus ihnen würden Fremdlinge werden, denn Er konnte „sein“ Volk nicht mehr als das seine anerkennen. Wer den Sohn Gottes, den eigenen Messias, ermordet, muss mit dem Gericht Gottes rechnen.

Die Weissagung Jeremias

Es bleibt aber noch die Frage offen: Warum wird jetzt der Name Jeremia genannt, nicht Sacharja? Eines sollte klar sein: Matthäus hat sich nicht vertan, obwohl jeder Leser der damaligen Zeit – und das Evangelium richtet sich besonders an jüdische Menschen – ihm damals sofort vorgeworfen hätte: „Das kommt doch gar nicht aus dem Propheten Jeremia!“ Ein solcher Irrtum kann nicht in Betracht kommen. Denn Matthäus war nicht töricht, schon gar nicht unter der Inspiration des Geistes Gottes.

Manche denken, dass sich der Name Jeremia später in den Text eingeschlichen habe, da ursprünglich vielleicht nichts anderes hier stand als „durch den Propheten“. Aber diese These scheint nicht stichhaltig zu sein. Denn auch spätere Redakteure werden Jeremia und Sacharja wohl kaum miteinander verwechselt haben.

Ein anderer Gedanke ist, dass Matthäus sich auf die Buchrolle bezieht, in der an erster Stelle Jeremia und danach erst Sacharja stand. Das ist die Ordnung, die von den „Talmudisten“ vorgeschrieben worden ist. Dann wäre der Gedanke: Jeremia „und“ einer der Propheten, der sich in „seiner“ Buchrolle befindet (vgl. Mt 16,14). Diese These ist nicht abwegig.

Wir brauchen und sollten jedenfalls auf keinen Fall von einem Fehler ausgehen. Gottes Wort ist vollkommen, auch wenn wir „nur“ eine Übersetzung in Händen halten. Manche haben auf Markus 1,2.3 verwiesen, wo Markus aus Maleachi und Jesaja zitiert, aber nur von Jesaja spricht. Vielleicht tat er es, weil Jesaja für seine Empfänger bekannter war und zugleich am Anfang der gesamten Prophetenbücher stand. Immerhin aber stammt wenigstens eines der beiden Zitate tatsächlich von Jesaja, während das Zitat in Matthäus 27 – zumindest auf den ersten Blick – überhaupt nicht auf Jeremia zurückgeht.

Wir haben im Verlauf der Betrachtung gesehen, dass gerade Matthäus immer wieder zeigt, dass der Herr Jesus der im Alten Testament verheißende Messias war. Das tut der Geist Gottes mal direkt und mal indirekt. In jedem Fall aber ist es für einen Juden sehr deutlich und nachvollziehbar. Daher finden wir bei ihm viele Zitate aus dem Alten Testament.

An dieser Stelle nun will der Geist Gottes zeigen, dass nicht nur Sacharja, auf den Er ja offensichtlich Bezug nimmt, von dieser Sache gezeugt hat. Nein, auch Jeremia hat das getan. Somit wird die Prophetie des Alten Testaments insgesamt in diese Frage einbezogen. Denn es geht dem Geist Gottes nicht allein um Judas und seinen Verrat sowie dessen Folgen mit dem Acker des Töpfers. Er bezeugt auch die viel weitergehenden (prophetischen) Schlussfolgerungen, die wir soeben in diesen Versen gesehen haben.

Die symbolische Bedeutung des Blutackers

Es scheint mir, dass durch diesen Hinweis deutlich gemacht werden soll, dass es nicht nur um dieses Feld des Töpfers geht. Es geht dem Geist Gottes um einen tieferen Sinn, der darin verborgen liegt.

Interessanterweise verbindet Sacharja das Haus des Herrn mit dem Töpfer (Sach 11,13) und Jeremia zeigt, dass Gott der Töpfer in Bezug auf das Haus Israel ist (Jer 18,6). Er wollte sein Volk bauen und pflanzen. Dieses jedoch war böse und hörte nicht auf seine Stimme, so dass Er es ausreißen, abbrechen und zerstören musste (vgl. Jer 18,7-10). Matthäus zeigt, dass genau das für Gott der Anlass war, sich von seinem Volk abzuwenden, um es aus dem eigenen Land zu vertreiben. Dadurch stand das Land des Töpfers für Fremde offen.

Jeremia musste in das Tal des Sohnes Hinnoms gehen, das vor dem Eingang des Tores Charsut liegt. Charsut heißt: Scherbentor – das ist somit nichts anderes als das Feld des Töpfers. Jeremia bekam dann den Auftrag, vom Unglück über diesen Ort zu sprechen. Warum? „Weil sie diesen Ort mit dem Blut Unschuldiger gefüllt“ haben (Jer 19,2.4). In gleicher Weise wurde das Feld des Töpfers zum Blutacker, weil das unschuldige Blut Christi vergossen wurde. Das Tal des Sohnes Hinnoms sollte dann „Würgetal“ genannt werden (Jer 19,6), was ebenfalls an Sacharja erinnert, der, wie wir gesehen haben, von der „Herde des Würgens“ spricht (Sach 11,5.7). Im Folgenden spricht Jeremia von dem Gericht, das Israel nur 40 Jahre nach der Kreuzigung Jesu noch einmal erreichen würde: Schwert, Leichname, die Stadt [Jerusalem] würde zum Entsetzen und zum Gezisch werden, zur Belagerung und zur Bedrängnis. „So werde ich dieses Volk und diese Stadt zerschmettern, wie man ein Töpfergefäß zerschmettert, das nicht wiederhergestellt werden kann. Und man wird im Tophet begraben, weil es sonst keinen Platz zum Begraben gibt“ (Jer 19,11).

Ich fasse zusammen: Sacharja hat in direkter Weise die Handlungen von Judas und seinen „Freunden“ vorhersagt. Jeremia dagegen wies stärker auf die symbolische Bedeutung hin, die mit diesen Handlungen um den Acker des Töpfers zu tun haben. Beide Bilder müssen wir zusammenfügen, um die Sprache des Geistes Gottes zu verstehen. Ihm ging es nicht nur um eine Vorhersage der konkreten Umstände am Ende des Lebens des Herrn. Seine Aufgabe war es vielmehr, symbolisch vorherzusagen, was das Verhältnis des Volkes Israel zu Gott betraf, nämlich, dass sie selbst verworfen würden (vgl. Röm 11,15). Genau diese Verbindung zieht Matthäus unter der Leitung des Geistes Gottes, wenn er auf die Weissagung Jeremias hinweist. Zunächst denkt man an Sacharja. Von Sacharja 11 wird man aber nach Jeremia 18.19 gelenkt und erkennt, wie Gott auch hier von diesen Ereignissen gesprochen hat.

Das zweite gute Bekenntnis Jesu – vor Pilatus (Verse 11–26)

Jesus aber stand vor dem Statthalter. Und der Statthalter fragte ihn und sprach: Bist du der König der Juden? Jesus aber sprach: Du sagst es. Und als er von den Hohenpriestern und Ältesten angeklagt wurde, antwortete er nichts. Da spricht Pilatus zu ihm: Hörst du nicht, wie vieles sie gegen dich vorbringen? Und er antwortete ihm auch nicht auf ein einziges Wort, so dass der Statthalter sich sehr verwunderte. Zum Fest aber war der Statthalter gewohnt, der Volksmenge einen Gefangenen freizulassen, den sie wollten. Sie hatten aber damals einen berüchtigten Gefangenen, genannt Barabbas. Als sie nun versammelt waren, sprach Pilatus zu ihnen: Wen wollt ihr, dass ich euch freilassen soll, Barabbas oder Jesus, der Christus genannt wird? Denn er wusste, dass sie ihn aus Neid überliefert hatten. Während er aber auf dem Richterstuhl saß, sandte seine Frau zu ihm und ließ ihm sagen: Habe du nichts zu schaffen mit jenem Gerechten; denn viel habe ich heute im Traum gelitten um seinetwillen. Die Hohenpriester aber und die Ältesten überredeten die Volksmengen dazu, Barabbas zu erbitten, Jesus aber umzubringen. Der Statthalter aber antwortete und sprach zu ihnen: Welchen von den zweien wollt ihr, dass ich euch freilasse? Sie aber sprachen: Barabbas. Pilatus spricht zu ihnen: Was soll ich denn mit Jesus tun, der Christus genannt wird? Sie sagen alle: Er werde gekreuzigt! Er aber sagte: Was hat er denn Böses getan? Sie aber schrien übermäßig und sagten: Er werde gekreuzigt! Als aber Pilatus sah, dass er nichts ausrichtete, sondern vielmehr ein Tumult entstand, nahm er Wasser, wusch sich die Hände vor der Volksmenge und sprach: Ich bin schuldlos an dem Blut dieses Gerechten, seht ihr zu. Und das ganze Volk antwortete und sprach: Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder! Dann ließ er ihnen Barabbas frei; Jesus aber ließ er geißeln und überlieferte ihn, damit er gekreuzigt würde (Verse 11–26).

Die nächsten 16 Verse zeigen uns das gute Bekenntnis, das der Herr Jesus vor Pilatus abgelegt hat (vgl. 1. Tim 6,13). Pilatus war in den Jahren 26 bis 36 nach Christus Präfekt des Römischen Kaisers Tiberius in der Provinz Judäa. Seine Absetzung im Jahr 36 hing wahrscheinlich mit einem brutalen Mord an Samaritern zusammen, die auf den Berg Gerisim gehen wollten. Dort sollen sie in furchtbarer Weise von Pilatus umgebracht worden sein.

Was für ein Gegensatz zwischen diesem Pilatus und Christus! Pilatus muss ein skrupelloser Mann gewesen sein. Lukas berichtet von ihm, dass er einige Galiläer einfach umgebracht hat und ihr Blut mit ihren Schlachtopfern vermischt hatte (Lk 13,1). So wenig galt bei ihm das Leben von Menschen. Solch ein Mann wurde nun zum weltlichen Richter dessen, der kurz davor stand, Retter der Welt (vgl. 1. Mo 41,45) zu werden und in Zukunft der Richter der Welt sein wird. Pilatus sollte – menschlich gesprochen – über den Tod Jesu bestimmen.

Wir müssen uns die Situation vorstellen: Die Hohenpriester und die Ältesten kommen frühmorgens zu Pilatus. In ihrem Schlepptau bringen sie so viele Menschen wie möglich mit, um ihrem Anliegen Nachdruck verleihen zu können. Daher lesen wir in Vers 20 von Volksmengen. Sie alle stehen wie ein Mann hinter den Hohenpriestern. Auf der anderen Seite steht einer, ganz allein: Jesus Christus. Hinter der Volksmenge, die durch die niedrigsten Beweggründe geleitet und von den Führern der Juden nach vorne geschoben wird, steht der Fürst. Es ist Satan, der sie aufstachelt und sein ganz persönliches Ziel des Hasses gegen den Christus Gottes anstrebt. Aber Gott verfolgt ebenfalls sein Werk, voller Gnade und Heil.

Soweit wir wissen, stehen sich Pilatus und der Herr zum ersten Mal Auge in Auge gegenüber. Wir dürfen davon ausgehen, dass Pilatus von Jesus gehört hatte. Er wusste, dass dieser manche Wunder getan hat. Wahrscheinlich hatte er beeindruckende Berichte über diesen Mann aus Nazareth gehört. Aber jetzt hat er Ihn zum ersten Mal direkt vor seinen Augen. Die vor uns stehenden Verse zeigen, dass er tatsächlich von diesem Anblick beeindruckt gewesen sein muss. Das Erscheinen des Herrn der Herrlichkeit hat sein skrupelloses Herz doch angerührt, auch wenn der Herr in schmachvollster Weise vorgeführt wurde. Anders können wir nicht erklären, dass es Pilatus tatsächlich nicht gleichgültig war, ob dieser „einfache Mann“ gekreuzigt wurde oder nicht. Er wollte Ihn sogar freilassen. Nur sein Egoismus und sein eigener Ruf hinderten ihn daran, das auch durchzusetzen. Ein Mann, der sonst über Leichen ging und sich nach nichts und niemandem richtete, wurde nachdenklich. Das aber erhöht seine Schuld. Zudem war es notwendig, um jedem deutlich zu machen, dass die Hinrichtung unseres Retters kein Zufall, keine Tat „aus Versehen“ war. Es musste offenbar werden, dass es sich um eine bewusste Hinrichtung handelte. Diese wurde durchaus nicht nur von Juden vorgenommen. Auch die Heiden waren schuldig an dem Tod Jesu.

Sohn Gottes und König Israels

Vor den Hohenpriestern wurde der Herr gefragt, ob Er Christus sei, der Sohn Gottes. Sie warfen Ihm vor, Er habe sich in gotteslästerlicher Weise selbst zu Gott gemacht. Das ist natürlich nicht die Frage, um die es bei Pilatus ging. Denn die Hohenpriester und Ältesten wussten, dass sich der Statthalter nicht um ein solches theologisches Problem kümmern würde, wenn es um die Todesstrafe ging. Was aber wäre, wenn dieser Jesus dem Präfekten sein Amt streitig machen würde, in dem Er sich selbst als König ausriefe? Daher warfen sie Jesus vor, Er würde sich König nennen und Anspruch auf das Königtum erheben. Das schien ihnen ein gutes Mittel, den Statthalter zu gewinnen und bei ihm die Verurteilung zu bewirken. Denn Pilatus musste die kaiserliche Autorität gegen jeden Machtanspruch verteidigen.

Jesus leugnete sein Anrecht auf den Thron nicht. Er bezeugte das gute Bekenntnis und blieb bei der Wahrheit. Die Anklage der Juden schildert Matthäus nicht, wohl aber die Konsequenz. Denn wir lesen, dass Pilatus den Herrn genau danach befragte: „Bist du der König der Juden?“ Fast hat man den Eindruck, dass diese Frage des Statthalters ironisch ist. Sollte etwa gerade dieser so einfache Mensch, der vor ihm stand, ein wahrer König sein? Wie konnte jemand einen solchen Anspruch erheben, der ohne Prunk und Allüren auftrat? Der keine große Anhängerschaft mitbrachte und daher anspruchslos auf ihn wirken musste?

Nun folgt die einzige Antwort des Herrn, von der Matthäus im Blick auf das Verfahren vor Pilatus berichtet. „Jesus aber sprach: Du sagst es.“ Das war die damalige Art, „ja, genauso ist es“ zu sagen. Somit sind die beiden einzigen Aussagen, die wir bei allen Verhören von Christus hören, wie Matthäus sie uns schildert, die ausdrückliche Bestätigung und Bejahung seiner Königswürde: Er war der von Gott im Alten Testament verheißene Messias, der König der Juden. Wie schon gesagt spricht der Herr Jesus in den drei Gerichtssitzungen, die Er hier erlebt, jeweils ein Wort. Das war vor den Hohenpriestern so und auch vor Pilatus der Fall. Schließlich hören wir Ihn am Kreuz im Gericht Gottes auch genau einen Ausspruch tätigen. Immer war und blieb Er der Treue. In den menschlichen Gerichten sagte Er:

  • Ja, ich bin Christus, der Sohn Gottes (sogar der Sohn des Menschen, der in großer Macht aus dem Himmel zum Ausführen von Gericht kommen wird)
  • Ja, ich bin der Messias, der König der Juden.

Als es um Vorwürfe über sein Tun und Leben ging, ertrug der Herr alle Anschuldigungen schweigsam und in Stille sowie Hingabe. Als es aber um ein Bekenntnis seiner Person ging, schwieg Er nicht, sondern bekannte sich zur Wahrheit.

Wie oft ist es bei uns genau umgekehrt. Wir verteidigen uns, wenn es um unser Leben und Handeln geht, selbst wenn wir oftmals auch dabei Fehler und Sünden begangen haben. Wenn es dagegen um unseren Herrn und unser Bekenntnis zu Ihm geht, schweigen wir aus Angst und Scheu. Denn wir schämen uns so leicht und stehen nicht zu Ihm, der alles für uns gegeben hat. Wie strahlt da die Treue unseres Retters hervor!

Die Juden lehnten ihren Messias ab, weil Er nicht bereit war, sie jetzt von dem Joch der Römer zu befreien. Sie verwarfen Ihn, weil Er dazu stand, dass Er der Sohn Gottes ist. Das war die entscheidende Frage für die Juden. Doch auch die Heiden machen sich in der Person von Pilatus, ihres Hauptes in Palästina, schuldig. Für die Nationen und ihren Regenten bestand die Frage darin, ob sie sich dem wahren König unterordnen würden. Ihnen war die Regierung des Landes anvertraut. Und hätte ihr Oberhaupt in Gerechtigkeit regiert, hätte er Christus freilassen und zum König ernennen müssen.

Das Schweigen des Opfers

Offensichtlich diente das treue Bekenntnis des Herrn noch nicht dazu, dass Pilatus Ihn verurteilte. Daher fuhren die Priester und Ältesten fort, Ihn zu beschuldigen. Warum konnten sie den Statthalter mit ihrer Anklage nicht überzeugen, obwohl sie vermutlich – wegen der Zeitnot vor dem Fest – schon im Vorhinein mit ihm verhandelt hatten? Auge in Auge vor dem Herrn der Herrlichkeit zu stehen ist eben etwas ganz anderes, als mit Sündern gewissenlos zu handeln. Das merkte Pilatus, aber das erhöhte seine Verantwortung. Nach dem Ratschluss Gottes war es nötig, dass hier jemand bewusst und willentlich umgebracht wurde.

Wir haben schon gesehen, dass der Herr nach dem Bericht von Matthäus bis auf die eine Antwort im gesamten zweiten Verfahren schwieg. Er verteidigte sich an keiner Stelle. Die Juden mochten Ihn noch so sehr vor Pilatus anklagen: Er schwieg und erfüllte hier noch einmal das prophetische Wort aus Jesaja 53,7.

Wir können gut verstehen, dass Pilatus das Schweigen nicht verstehen konnte. Denn normalerweise war jeder Angeklagte darauf bedacht, sich zu verteidigen. Er selbst hätte ja auch nicht anders gehandelt. So war er offenbar tief beeindruckt von der ruhigen Würde des Einen, der auf so teuflische Weise angeklagt worden war. Pilatus verwunderte sich sehr (Vers 14).

Man könnte auch sagen: Was hätte es genutzt, wenn der Herr sich in diesem Augenblick verteidigt hätte? Sein ganzes Leben hatte bewiesen, dass Er als der Gesandte Gottes unter dem Volk war, und nichts hatte die Juden davon zu überzeugen vermocht. Die Bosheit des Menschen musste sich auf Golgatha durch den Kreuzestod Jesu bis zum Äußersten kundtun.

Die Wahl: Barabbas oder Jesus

Pilatus war derart fasziniert von seinem Angeklagten, dass er alle Register zog, um diesen freizulassen. Das stand zwar, wie wir gesehen haben, im Gegensatz zu seinem eigenen Charakter. Aber es zeigte, was für eine Wirkung unser Herr bei diesem Mann ausgelöst haben muss.

Um den Juden zu gefallen, hatte Pilatus in seiner Amtszeit einmal im Jahr zum Passahfest den Brauch eingeführt, seinen Untertanen einen Gefangen freizulassen.6 Sie selbst durften diesen sogar auswählen. Dieses Geschenk brachte Pilatus nun ins Spiel. Er war in Verlegenheit, über Christus, den er für unschuldig hielt, ein Gerichtsurteil zu fällen, das weder die Juden noch ihre Führer gegen ihn aufbrachte. Das zeigt schon, wie „politisch“ er dachte und handelte, und dass es ihm nicht um Gerechtigkeit ging. Nun befand sich mit Barabbas jemand im Gefängnis, der ein Mörder und Aufrührer war (Lk 23,19.25). Daher machte er ihnen den Vorschlag, entweder Jesus gehen zu lassen, oder aber Barabbas. Für ihn war die Wahl klar, sonst hätte er dieses Angebot nicht unterbreitet. Er konnte sich angesichts der von ihm angebotenen Alternative nicht vorstellen, dass die Juden sich für einen Mörder und Aufrührer entschieden. Wer anders als Jesus konnte von ihnen gewählt werden, so seine Mutmaßung. Denn er wollte Jesus wirklich freilassen (vgl. Apg 3,13).

Was für eine Wahl wurde den Juden hier ermöglicht: Auf der einen Seite stand der vollkommene Mensch und zugleich der Messias des Volkes, der so viel Segen für sein Volk gebracht hatte. Auf der anderen Seite stand Barabbas, der berüchtigte Gefangene. Matthäus erklärt nicht viel über diesen Mann. Vermutlich war den Juden seine Geschichte wohlbekannt. Die anderen Evangelien sprechen ausführlicher von ihm (vgl. auch seine Beschreibung in Markus 15,7). War das vielleicht jemand, der als falscher Messias das Volk hinter sich zu bringen suchte?

Mit diesem bösen, sündigen Mann steht noch eine Besonderheit in Verbindung. Bar-Abbas heißt nichts anderes als Sohn des Vaters. Pilatus sorgte also dafür, dass die Volksmengen nun die Wahl hatte zwischen zwei Männern, die beide „Sohn des Vaters“ waren. Der eine aber war „der Sohn des Vaters“, der Sohn Gottes (2. Joh 3). Der andere dagegen war Sohn des Teufels, seines Vaters (vgl. Joh 8,44). Wenn dann noch wahr wäre, dass dieser Mann „Jesus Barabbas“ hieß, hätte er denselben „Vornamen“ getragen wie unser Herr.7 Unter diesem Vorzeichen war das Angebot von Pilatus besonders brisant. Welchen „Jesus“, welchen „Sohn des Vaters“ würde die Menge wählen?

Man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass Satan die Volksmengen und die Hohenpriester sowie die Schriftgelehrten mit diesem Namen geradezu verhöhnen wollte. Barabbas war der Ausdruck der Gesinnung Satans. Damit war er der Prototyp der Empörung und Auflehnung gegen jede Autorität. Denn Satan hatte sich gegen Gott aufgelehnt, Barabbas lehnte sich gegen Pilatus auf. Somit wurde er zum Repräsentanten des Menschen überhaupt. Anfangend von Adam war der Mensch durch Ungehorsam geprägt. Das ist nichts anderes als eine Auflehnung gegen die dem Menschen überstellte Autorität. Genauso ging es weiter. Der Mensch eilte von Ungehorsam zu Ungehorsam.

Pilatus hatte schnell erkannt, dass ihm Jesus aus Neid überliefert worden war. Er war ein erfahrener Mann, der Menschenkenntnis besaß und mit den spitzfindigen Gewohnheiten der Juden vertraut war. Auch sein juristischer Sachverstand entdeckte schnell, was die wahre Ursache der Anklage war. Vor allem offenbarte das Verhalten seines Gefangenen, dass dieser zu Unrecht in Fesseln vor ihm stand. Aber nicht dieser, sondern derjenige, der durch brutale Gewalt aufgefallen war, wurde von den Juden geliebt. Dieser Aufstand der Juden erfolgte in solch massiver Weise, dass Pilatus bereit war, nicht zuletzt aus Ohnmacht gegen diesen Aufstand ungerecht zu entscheiden. Er befriedigt den Willen des Volkes aus purer Menschenfurcht, obwohl er Herrscher über diese Menschen war. Er fürchtete das Volk und wollte es sich mit diesem nicht verderben. Das war ihm wichtiger, als in Gerechtigkeit zu urteilen.

Gott sorgt dafür, dass die Unschuld seines Sohnes unverkennbar ist

Plötzlich wird die Sitzung des Statthalters unterbrochen. Völlig überraschend trifft ein Verteidiger des Angeklagten auf, mit dem Pilatus selbst vermutlich am wenigsten gerechnet hatte: seine eigene Frau. Sie berichtet ihm von ihrem Traum aus der Nacht. Die Tatsache, dass Pilatus davon bislang nichts wusste, unterstützt die These, dass auch er in der vorherigen Nacht nicht viel Ruhe gefunden hat. War er schon im Laufe der Nacht von den Hohenpriestern kontaktiert worden? So erfährt er erst an dieser Stelle, was seine Frau geträumt hat.

Sie ist nicht die erste Zeugin der Unschuld Jesu, für Pilatus jedoch eine besonders eindrucksvolle. Sie hat Pilatus und seine Machenschaften bislang nicht behindert. Auch seine brutalen Eingriffe hat sie offenbar nicht verhindert. Jetzt aber kann sie nicht stillhalten. Gott selbst greift hier ein. Denn Er möchte deutlich herausstellen, dass der Herr im vollen Bewusstsein seiner Unschuld verurteilt wird. Dazu hat Er dafür gesorgt, dass es eine Reihe von Zeugen der Unschuld des Herrn gab. Matthäus berichtet von den Folgenden:

  1. Die falschen Zeugen im Verfahren gegen den Herrn, die kein Zeugnis fanden, dass gegen Jesus hätte verwendet werden können, bezeugten letztlich dadurch seine Unschuld (vgl. Kapitel 26,59.60).
  2. Judas musste bekennen, dass er „schuldloses Blut“ überliefert hatte (27,4).
  3. Die Frau von Pilatus bezeugte, dass Jesus ein „Gerechter“ ist (27,19).
  4. Auch Pilatus bestätigt das, indem er deutlich macht, dass Jesus ein „Gerechter“ ist (27,24).
  5. Der Hauptmann und seine Mitwächter am Kreuz müssen sogar bezeugen, dass Jesus „Gottes Sohn“ ist (27,54).

Wie konnte bei so vielen überwältigenden Unschuldszeugnissen jemand auf die Idee kommen, den Herrn der Herrlichkeit zum Tod zu verurteilen? Pilatus selbst hatte zwei direkte Zeugen, die ihn ansprachen: seine Frau und sein Gewissen! Dennoch blieb er den Juden willfährig.

Gott wollte, dass in dem damaligen Augenblick durch eine Heidin ein Zeugnis über die Gerechtigkeit seines Sohnes abgelegt würde. Das sollte in Gegenwart derer geschehen, die zwar die „Seinen“ genannt werden, die Ihn aber nicht aufnehmen wollten (Joh 1,11). Weil der Statthalter jedoch die Folgen eines Widerstandes gegen die Meinung der Volksmengen für seine eigene Position fürchtete (vgl. Joh 19,12-16), hörte er nicht auf die plötzlich und unerwartet aufkommende Zeugin der Unschuld Jesu. Hätte es eine ernstere Warnung für das Gewissen dieses abergläubigen Römers geben können? Er wusste, dass das Opfer ohne Schuld war. Es war nichts anderes als göttliche Barmherzigkeit, die dem Heiden eine Warnung überbrachte. Er aber beachtete sie nicht.

Zuweilen ist Gott bei den Regenten dieser Erde im Traum eingeschritten. Er hatte das einmal bei Ahasveros getan (Xerxes I., vgl. Est 6,1). Er hat dies auch beim Pharao zur Zeit Josephs getan, oder bei Nebukadnezar. Heute spricht Gott normalerweise nicht durch Träume, sondern durch sein vollendetes Wort. Dennoch ist Er souverän, gerade bei unbekehrten Menschen auch einmal durch einen schrecklichen Traum auf das Gewissen einzuwirken. Bei der Frau von Pilatus hat Er so gehandelt.

Die Frau von Pilatus konnte den Traum sofort zuordnen. Das spricht dafür, dass Pilatus mit ihr schon einmal über diesen Mann Jesus gesprochen hatte, vermutlich am Vorabend. Menschenfurcht aber war bei ihm größer als Gottesfurcht. Wie tragisch, wenn Menschen den größten Souverän ignorieren, um nicht den eigenen Interessen zu schaden.

Die Verurteilung Jesu nimmt ihren Lauf

Pilatus ist durch diese Intervention mit seiner Frau beschäftigt. Diese Zeit nutzen die Hohenpriester und Ältesten, um die Volksmenge zu überreden, Barabbas zu fordern. Damit aber nicht genug. Die Hohenpriester fordern auch, dass die Volksmengen das Umbringen Jesu erzwingen. Ihnen reicht nicht, dass Christus gefangen weggesperrt wird. Sie wollen Ihn gekreuzigt und beseitigt sehen.

Pilatus versucht es weiter. Er wirft die Frage auf, wen die Volksmenge von diesen beiden Menschen, Barabbas und Jesus, freigelassen haben möchte. Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten, sondern kommt wie aus einem Mund: „Barabbas!“ Keine Stimme erhebt sich für Jesus, nicht eine einzige. Man möchte fragen: Wo waren die Volksmengen, die Ihm immer wieder gefolgt waren? Wo waren diejenigen, die Hosianna gerufen hatten, als Er nach Jerusalem einzog? Wenn einer von ihnen hier gegenwärtig war, blieb er stumm aus Furcht vor den boshaften Führern des Volkes Israel. Was für eine Tragik: Er hatte sie gesegnet, sie verfluchen Ihn nun als Antwort auf seine Liebe (vgl. Ps 109,4).

Zweifellos war Pilatus überrascht, dass einer, der zur Gefahr für das allgemeine soziale Leben geworden war, von ihnen freigelassen werden wollte. Das hatte er nicht erwartet. Daher fragte er noch einmal nach, was mit Jesus geschehen solle. Er nennt Ihn ausdrücklich Christus, um ihnen noch einmal deutlich zu machen, dass es ihr eigener König war, den sie zum Tod am Kreuz verurteilten. Aber sie bestätigen nur ihre vorherige Aussage: „Er werde gekreuzigt!“

Nebenbei bemerkt stellt sich die von Pilatus aufgeworfene Frage früher oder später jedem Menschen. Was für eine Meinung hast du von Jesus? Was willst du mit Ihm anfangen in deinem Leben? Willst du Ihn auch (noch einmal) für dich ans Kreuz bringen (vgl. Heb 6,6) – oder willst du Ihn als Retter annehmen?

Von Mal zu Mal werden die Juden lauter und unbeherrschter. Ihre niedrigen Beweggründe führen sie dahin, durch Satan und gruppendynamische Prozesse angetrieben, den Herrn ans Kreuz bringen zu lassen. Zunächst sprachen sie, dann sagten sie alle, beim dritten Mal schrien sie übermäßig: „Er werde gekreuzigt!“ Was für ein Pöbel vor einem Herrn voller Würde!

Unschuldiges Blut – Blutschuld für die Nachfahren der Juden

Pilatus ist überrascht und überrollt durch diese Entwicklung der Ereignisse. Er erkannte, dass Widerstand gegen diesen Pöbel zwecklos war. Die einzig ruhige und würdevolle Gestalt in dieser entsetzlichen Szene ist die des Gefangenen. Im Grunde genommen versuchte Pilatus jetzt, sich vom Auftrag als Richter zurückzuziehen, um die Verantwortung dem Volk zuzuschieben. Aber das war unmöglich. Pilatus war vollständig überzeugt von der Unschuld des stummen Opfers, aber er war ein Feigling und handelte entsprechend. Seine Verantwortung aber konnte er damit nicht abschieben.

Als nun der Tumult entstanden war, wusste sich Pilatus nicht anders zu helfen, als durch eine bewusst eingesetzte äußere Geste das Volk zu beruhigen. Zugleich wollte er damit sein eigenes Gewissen beruhigen und darüber hinaus wieder Herr der Situation werden: Er wusch sich seine Hände, um damit deutlich zu machen, dass er schuldlos an dem Blut Jesu wäre. Damit glich er den heuchlerischen Führern der Juden. Sie hatten, als Judas zu ihnen kam, äußerlich Reinheitsgebote erfüllt, obwohl sie innerlich voller Bosheit waren. Er nun wäscht sich äußerlich die Hände, obwohl er in seinem Herzen wusste, dass er ungerecht handelte. Er nennt Christus ein letztes Mal unschuldig, indem er von Ihm als von dem Gerechten spricht. Er wäscht seine Hände, aber sein Gewissen kann er nicht reinwaschen.

Die Zeremonie des Händewaschens war keine römische Sitte, sondern von den Juden geborgt. Sie lehnte sich vielleicht an die Belehrung von 5. Mose 21,6 an. Die Ältesten einer Stadt, die einem in unbekannter Weise Erschlagenen am nächsten lag, sollten ihre Hände über einer geschlachteten Kuh waschen. David sprach einmal öffentlich von seiner Unschuld (2. Sam 3,28), und in Psalm 26,6 geht es direkt um das Waschen der Hände in Unschuld.

Pilatus ergänzte diese Symbolik durch ein Wort an die Juden: „Seht ihr zu.“ In Vers 4 hatten die Hohenpriester eine sehr ähnliche Formulierung zu Judas gebraucht. Auch jetzt unterstreichen diese Worte von Pilatus, dass er die Schuld an dem ungerechten Mord an Jesus auf andere abwälzen wollte. Wie konnte Pilatus glauben, so von seiner Verantwortung befreit zu sein? Kann ein Mensch Böses tun und sich selbst von der Verantwortung freisprechen für das, was er tut? Nein, das ist unmöglich.

Die Antwort der Juden ist furchtbar! Sie waren bereit, die Verantwortung für die Folgen der Ermordung Jesu auf sich zu nehmen. Aber nicht nur das. Sie lasten die Folgen dieser Tat allen nachfolgenden Generationen an. „Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder.“ Das ist das Blut, das über das Volk ausgegossen wurde und wird, bis die souveräne Gnade Gottes einen kleinen Überrest zur Buße bringen wird. Dieser wird die Sünde empfinden, die begangen worden ist. Erst dann wird das Blut des Fluchs zu einem Blut der Sühnung werden – das ist die Erfüllung des Sühnungstages in prophetischer Hinsicht (vgl. 3. Mo 23,26 ff.).

Bis dahin aber lastet das Blut Jesu wie ein Fluch auf den Juden. Das ist die Erklärung der Leiden, die seither auf dieses Volk der Juden gefallen sind. Bis auf diesen Tag sind sie ihren Kindern durch Drangsale und Verfolgungen und Totschlag gefolgt. Das Furchtbare für dieses Volk wird sein – und in Deutschland gab es schlimme Zeiten unter einem Nazi-Regime! –: Es wird in der großen Drangsal noch viel schlimmer für sie kommen als das, was sie zum Beispiel im 3. Reich oder zu anderen Zeiten erdulden mussten (vgl. Mt 24,21).

Nur Matthäus spricht von dieser Verantwortungsübernahme der Juden. Er betont die Verantwortung der Juden für alle Folgen des Todes des Herrn. All die Grausamkeiten, welche die Juden seit dieser Kreuzigung erlebt haben, sind das Ergebnis dieses furchtbaren Ausspruchs. Auch wenn das heute als Antisemitismus abgestempelt werden mag, bleibt es doch die Wahrheit. Für das Volk Israel wird es erst dann wieder Frieden geben, wenn ihre Schuld abgetragen ist. Gott spricht durch den Propheten Jesaja prophetisch davon, dass sie aus der Hand des Herrn Zweifaches empfangen werden für alle ihre Sünden (vgl. Jes 40,1.2). Sie haben es sich selbst zuzuschreiben.

Die Verurteilung Jesu

Der Abschnitt endet mit den furchtbaren Worten: „Dann ließ er [Pilatus] ihnen Barabbas frei; Jesus aber ließ er geißeln und überlieferte ihn, damit er gekreuzigt würde.“ Der ungerechte Richter spricht dieses ungerechte Urteil aus und verurteilt Christus zum Tod, zum Tod am Kreuz.

Es war Ungerechtigkeit vonseiten der Juden und Heiden, die Jesus ans Kreuz brachte. Aber der Herr wurde nicht so sehr wegen des Zeugnisses der Menschen, sondern letztlich aufgrund seines eigenen verurteilt. Das Zeugnis der Menschen war nicht glaubwürdig (die Juden) oder freisprechend (Pilatus). Warum wurde unser Herr dann verurteilt? Er wurde hingerichtet, weil Er die Wahrheit sprach. Die Verurteilung wegen der Wahrheit haben wir schon bei Kajaphas gesehen. Auch in unserem Abschnitt lesen wir erneut davon, dass der Herr deswegen zum Tode verurteilt wird.

Damit wurde aber auch offenbar: Alles, was der Mensch versuchte, um den Herrn zu Fall zu bringen und zu verurteilen, stand auf tönernen Füßen. Es gab überhaupt keinen nachvollziehbaren Grund dafür, Ihn ans Kreuz zu bringen. Wie viele Zeugen hatten sie angeworben, aber diese konnten nichts bewirken. Diese bösen Menschen wollten Christus umbringen. Dazu war ihnen jedes Mittel recht. Wenn es nicht durch eigene Zeugen möglich war, dann dadurch, dass sie die Wahrheit Jesu zum Anlass dafür nahmen. Nur so schafften sie es, den Herrn der Herrlichkeit zu verurteilen. Sogar um Ihn zu töten, bedurfte es seines eigenen Zeugnisses.

Erste Folge der Verurteilung: Brutale Behandlung

Kaum ist der Herr verurteilt worden, werden wieder die Grausamkeiten an Ihm vorgenommen, die man schon in der Nacht im Hof des Hohenpriesters begonnen hatte. So zeigen diese Verse ein erschreckendes Bild des natürlichen Menschenherzens.

Der letzte Vers unseres Abschnitts ist zugleich eine Einleitung zu dem folgenden Thema, der Kreuzigung. Aus Johannes 19,1 wissen wir, dass die grausame Geißelung letztlich nicht am Ende der Gerichtssitzung vor Pilatus stattfand. Er hatte sie zwischendurch als ein Mittel eingesetzt, um Jesus doch noch freizukaufen. Der Statthalter hoffte, die Volksmengen dadurch günstig zu stimmen, dass er ihrem Willen teilweise entsprach. Er ließ Ihn geißeln, um den Menschen ein Schauspiel zu „schenken“. So hoffte er, ihren niederen Instinkten zu entsprechen, um Jesus danach nicht auch noch kreuzigen zu müssen. Aber dieser Plan ging schief. Matthäus geht es nicht um den genauen Ablauf des Verfahrens. Er spricht von der Geißelung am Ende des Verfahrens, weil sie geradezu den Höhepunkt der Ungerechtigkeit von Pilatus darstellt. Auf diese Weise wird das Herz des Menschen deutlich, wie er sich an dem wehrlosen Opfer auslässt. Im moralischen Sinn ist das passend für den Übergang zur Kreuzigung, einer noch brutaleren Folter.

Geißelung, Überlieferung, Kreuzigung

Für die Geißelung wurde der Verurteilte öffentlich entkleidet und in gebückter Haltung mit den Händen an einen Pfahl gebunden. Die Schläge erfolgten mit Lederpeitschen, die an den Enden mit scharfkantigen Knochen-, Bleistücken oder eisenhaltigen Haken beschwert waren. Diese wurden auf den straff gespannten, bloßen Rücken des zu Geißelnden geschlagen. Manchmal trafen die Schläge unabsichtlich – oder in erschreckender Rohheit bewusst so gelenkt – sogar Gesicht und Augen. Diese Strafe war so grässlich, dass das Opfer infolge der rasenden Schmerzen im Allgemeinen ohnmächtig wurde. Oft starben sie sogar schon an der Geißelung. Noch häufiger schickte man die so Gegeißelten anschließend fort, ohne ihnen die Möglichkeit einer ärztlichen Versorgung zu geben. Denn dann gingen sie an der sich einstellenden Wundinfektion oder nervlichen Erschöpfung zugrunde.

Das alles lässt uns ein wenig erahnen, was unser Retter hier erleben musste. Und doch kann keine Feder aufschreiben und keine Zunge aussprechen, was Er hier aus Liebe zu uns erduldete. Bedenken wir: Hier geht es nicht um die sühnenden Leiden. Durch diese Leiden der Geißelung wurde keine einzige Sünde hinweggetan. Die sühnenden Leiden waren noch viel schlimmer. Aber wie groß waren schon diese körperlichen Schmerzen Christi. Schlimm waren auch der Spott und der Hohn! Unser Herr hat die Verwerfung seiner Person als Messias und Herr tief empfunden. Jetzt waren seine Hände gebunden, der Rücken verbogen und gegeißelt, und Er darin ganz allein, verlassen von den Seinen.

Der satanische Hass gegen den Heiligen gab diesen Menschen die Kraft, diese furchtbaren Handlungen an Ihm auszuüben. Römische Schreiber sprechen von dem „Zwischentod“, weil das alles so furchtbar war. Es war der „Tod“, der dem Tod der Kreuzigung vorausging. Hier wurde sein heiliger Leib zu zerrissenem und blutendem Fleisch. Wer wollte darüber weiter sprechen, wo die Schrift alles in größter Zurückhaltung schildert? Ich zitiere daher an dieser Stelle nur noch zwei Schriftstellen, die uns einen gewissen Einblick in die Empfindungen unseres Retters geben: „Oftmals haben sie mich bedrängt von meiner Jugend an; dennoch haben sie mich nicht überwältigt. Pflüger haben auf meinem Rücken gepflügt, haben lang gezogen ihre Furchen“ (Ps 129,2.3). „Ich bot meinen Rücken den Schlagenden und meine Wangen den Raufenden, mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel“ (Jes 50,6).

Die Kreuzigung war in Rom nur für Sklaven vorgesehen. Wenn Freie dazu verurteilt wurden, so wurden sie vorher durch die Geißelung zu Sklaven erniedrigt. Das wurde dem Herrn der Herren, dem Schöpfer des Universums, der Mensch geworden ist, auferlegt. Was für ein Wunder der Gnade, dass Er das alles mit sich machen ließ.

Die Erfüllung des Passahfestes: Das Kreuz von Golgatha (Mt 27,27-66)

Der Vortag des Passahfestes war durch die beiden ungerechten Verhandlungen vor den Hohenpriestern und vor Pilatus schon furchtbar. Aber diese Qualen kommen im Blick auf die Leiden und die Verwerfung des Herrn doch nicht an die letzten Stunden im Leben unseres Retters heran. Selbst die ersten Stunden am Kreuz waren nicht der Höhepunkt, so gewaltig die Martern auch waren, die dort auf unseren Herrn warteten. Der Höhepunkt waren die drei Stunden der Finsternis, in denen unser Herr Sühnung tat für unsere Sünden. Gerade diese Zeit wird von Matthäus und Markus, die von ihnen berichten, nur in wenigen Worten geschildert. Denn der Mensch hat in diese Zeit und in das, was hier geschah, nur einen sehr geringen Einblick. Es ist hochheiliger Boden, der damit verbunden ist.

Auf diese drei Stunden steuert nun alles hin. Mit anbetenden Herzen betrachten wir diese letzten Augenblicke im Leben unseres Erlösers, bis zu seinem Tod. Diese Abschnitte gliedern sich in folgende Teile:

  1. Vor dem Kreuz (Verse 27–31)
  2. Der König wird gekreuzigt (Verse 32–38)
  3. Der König am Kreuz wird geschmäht (Verse 39–44)
  4. Jesus Christus, das Schuldopfer, am Kreuz von Gott verlassen (Verse 45.46)
  5. Der Tod des Königs am Kreuz und seine herrlichen Folgen (Verse 47–56)
  6. Das Begräbnis Jesu (Verse 57–61)
  7. Die Wache am Grab Jesu – seine Feinde (Verse 62–66)

Verse 27–31: Vor dem Kreuz

„Dann nahmen die Soldaten des Statthalters Jesus mit in das Prätorium und versammelten um ihn die ganze Schar. Und sie zogen ihn aus und legten ihm einen scharlachroten Mantel um. Und sie flochten eine Krone aus Dornen und setzten sie ihm auf das Haupt und gaben ihm einen Rohrstab in die Rechte; und sie fielen vor ihm auf die Knie und verspotteten ihn und sagten: Sei gegrüßt, König der Juden! Und sie spien ihn an, nahmen den Rohrstab und schlugen ihm auf das Haupt. Und als sie ihn verspottet hatten, zogen sie ihm den Mantel aus und zogen ihm seine Kleider an; und sie führten ihn weg, um ihn zu kreuzigen“ (Verse 27–31).

Wenn man die Berichte der vier Evangelien miteinander vergleicht, sieht man, dass Lukas vor allem die moralischen Umstände in Verbindung mit dem Kreuz zeigt. Matthäus spricht besonders von der Entwürdigung des Messias. Johannes konzentriert sich nicht so sehr auf die Einzelheiten, sondern zeigt die Würde dessen, der in Gnade gekommen war. So scheint seine Herrlichkeit hervor, wie groß auch die Erniedrigung sein mochte.

Matthäus zeigt uns zudem, wie sich die Römer und das ungläubige Israel miteinander gegen den Messias Gottes verbunden haben. Das wird sich in anderer Hinsicht noch einmal nach der Entrückung (1. Thes 4,15 ff.) wiederholen. Dann werden der römische Herrscher zusammen mit dem Antichristen unter anderem gegen die gläubigen Übriggebliebenen Judas Krieg führen (vgl. Off 19,20; Dan 9,27). Manche Psalmen wie Psalm 88 zeigen uns die Empfindungen und Qualen des künftigen gläubigen Überrestes der Juden. Der Herr Jesus wird sich mit diesen Leiden identifizieren. Das kann Er tun, weil Er Drangsale derselben Art vor nunmehr 2000 Jahren selbst erduldet hat.

Die Soldaten verspotten den Messias

Die Tatsache, dass der Herr Jesus noch einmal in das Prätorium gebracht wurde, macht klar, dass Matthäus nicht in chronologischer Reihenfolge geschrieben hat. Denn das alles fand statt, bevor Er endgültig zum Tode verurteilt worden war. Johannes zeigt, wie wir gesehen haben, dass Pilatus den Herrn geißeln ließ und erst danach das Urteil festgelegt wurde. So lesen wir hier bei Matthäus, dass die Soldaten des Statthalters Jesus in das Prätorium mitnahmen, um über Ihn die ganze Schar zu versammeln. Das war eine römische Kohorte von rund 600 Soldaten, das ist der zehnte Teil einer Legion. Sie wurde angeführt von einem Obersten.

Was die Soldaten dann in ihrer kaltherzigen Bosheit taten, ist für uns in unserer heutigen Zeit und Kultur menschlich unbegreiflich. Sie ließen ihren Zorn an ihrem Schöpfer aus. Manche meinen, dass sie normalerweise so etwas nicht an einem schuldigen Kriminellen getan hätten. Wir dürfen diese Handlungen allerdings nicht aus unseren Erfahrungen in Deutschland beurteilen. Wir wissen inzwischen auch, dass es Länder gibt, in denen Ähnliches heute noch immer genau so geschehen würde. Dennoch hat man den Eindruck, dass Satan diese Menschen geradezu angestachelt hat, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, Hass und Grausamkeit auszuleben. Sie sahen jemanden, der offensichtlich unschuldig war. Diese Gelegenheit benutzen sie, um in der hassenswürdigsten Weise auf Ihn einzuschlagen. Sie offenbaren, was letztlich in jedem Herzen des Menschen gegen Gott und seinen Christus vorhanden ist.

Was den Herrn Jesus betrifft, handelte es sich um die Stunde seiner Unterwerfung unter die ganze Macht des Bösen. Es war die Stunde des Menschen „und die Gewalt der Finsternis“ (Lk 22,53). Der Herr offenbarte, dass bei Ihm das Ausharren ein wirklich vollkommenes Werk hatte (vgl. Jak 1,4). So wurde sein Gehorsam zu jeder Seite hin völlig offenbar. Was für ein Unterschied zwischen diesem Betragen in den allerschwierigsten Umständen und dem Verhalten des ersten Adam! Dieser war rundherum von Segnungen umgeben und fiel doch in Sünde. Unser Herr dagegen war umgeben von der Macht der Finsternis und litt unsagbare Qualen. Aber Er blieb seinem Gott und Vater gehorsam und offenbarte nur die Vollkommenheit seiner Liebe und Hingabe.

Auch in den Folgeversen lesen wir nichts davon, dass der Herr sich gegen die Misshandlungen gewandt hätte. Er erduldete alles still und stumm, in Hingabe für seinen Gott und für uns. All sein Handeln offenbarte eine bewundernswerte Geduld. So hatten es die Propheten angekündigt: „Ich bot ... meine Wangen den Raufenden, mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel. Aber der Herr, Jahwe, hilft mir; darum bin ich nicht zuschanden geworden, darum machte ich mein Angesicht wie einen Kieselstein und wusste, dass ich nicht würde beschämt werden. Nahe ist, der mich rechtfertigt: Wer will mit mir rechten? ... Siehe, der Herr, Jahwe, wird mir helfen: Wer ist es, der mich für schuldig erklären könnte? Siehe, allesamt werden sie zerfallen wie ein Kleid, die Motte wird sie fressen“ (Jes 50,6-9). Er war der Mann der Schmerzen, der sich still und stumm zur Schlachtung und zum Scheren hat führen lassen (vgl. Jes 53,7).

Der scharlachrote Mantel

Zum Spott zog man Christus dann aus, wie Matthäus es schreibt. Man nahm Ihm nicht nur seine Kleider weg. Man nahm Ihm alles, um Ihn zu verspotten und zum Hohn zu machen. Daher legte man Ihm stattdessen einen scharlachroten Mantel um. Schon in der Einleitung haben wir gesehen, dass Karmesin bzw. Scharlach die königliche Farbe Israels ist. Nicht von ungefähr heißt es daher bei Matthäus, dass die Soldaten dem Herrn einen Mantel dieser Farbe zur Verhöhnung anzogen. Er sollte das Spottbild königlicher Würde tragen. Johannes spricht dagegen von einem Purpurgewand (vgl. Joh 19,2). Diese Farbe spricht mehr von dem Königtum des Herrn über alle Völker (siehe die Einleitung).

Das Nachdenken über den scharlachroten Spottmantel, den die Soldaten für den zum Kreuzestod verurteilten König der Juden übrig hatten, lenkt unseren Blick auf Psalm 22. Dort klagt der Herr Jesus prophetisch: „Ich aber bin ein Wurm“ (Ps 22,7). In den Versen 13 und 14 dieses Psalms werden die hasserfüllten Taten der Juden, der Hohenpriester und Ältesten, beschrieben. In den Versen 15 bis 19 wird die Kreuzigung angesprochen, ausgeführt von den heidnischen Soldaten. In Vers 7 jedoch lesen wir von den Empfindungen des Herrn im Blick auf seine Behandlung vonseiten der Menschen ganz allgemein. Er fühlte sich wie ein Wurm.

Das hier verwendete Wort bezieht sich auf eine Laus, die Coccus Cacti. Wenn man dieses Insekt zerdrückte, wurde die scharlachrote Farbe gewonnen. So musste der Herr – in diesem Bild gesprochen – am Kreuz „zerdrückt“ werden, sein Leben in den Tod hingeben. Das Ergebnis davon ist, dass Er sein irdisches Volk in Wahrheit und in königlicher Herrlichkeit zu Gott zurückführen wird. Dann wird Er nicht mehr Gegenstand des Spottes sein, sondern der Anbetung. Daran erinnert uns dieser Spottmantel, der die Anrechte unseres Herrn auf die Königswürde lächerlich machen sollte. Dabei war Er wirklich der wahre König, von Gott gesandt und gesalbt.

Krone und Zepter – Dornen und Rohrstab

In Vers 29 lesen wir dann, dass den Soldaten diese Schmähung nicht ausreichte. Dem Herrn wurde weiterer Hohn zuteil, der zugleich größte körperliche Schmerzen auslöste. Die Soldaten flochten eine Krone aus damals recht langen Dornen, die sie unserem Retter auf den Kopf setzten. Nicht genug damit. Man gab Ihm statt eines Zepters ein zerbrechliches Rohr in die Hand, um Ihn weiter zu verspotten. Dann fiel man vor Ihm auf die Knie wie vor einem König. In sarkastischer Weise beugte man sich vor dem wahren König der Juden, der hier in gegeißeltem und gefangenen Zustand vor ihnen stand. Man machte sich über Ihn lustig. Schließlich spuckte man Ihn an, um Ihm dann mit Hilfe des Rohrstabes noch oben auf die Dornenkrone zu schlagen. So zerbrechlich das Rohr gewesen sein mag: Diese Menschen wollten die Schmerzen und Blutungen Jesu mit aller Macht erhöhen.

Wenn sie gewusst hätten, dass der Sohn Gottes vor Ihnen stand, der wirklich der wahre König Israels war, hätten sie das wohl nicht getan (vgl. 1. Kor 2,8). Aber diese grausamen Menschen wollten es nicht wissen und hatten umso größeren Spaß daran, einen Unschuldigen so gut wie möglich zu erniedrigen. Wie muss das unseren Herrn innerlich und äußerlich geschmerzt haben. Er hatte vollkommene Empfindungen für das, was man Ihm hier antat. Seine Vollkommenheit führte nicht zu einer Reduktion, sondern zu einer Steigerung der Empfindungen über den Hass, die Bosheit und die Brutalität der Behandlung.

Wenn wir an die Dornenkrone denken, müssen wir zu dem Sündenfall des ersten Menschen zurückgehen. Das Lesen von 1. Mose 3,18 lässt darauf schließen, dass Dornen und Disteln nicht zur ursprünglichen Schöpfung Gottes (1. Mo 1) gehörten, sondern vermutlich ein Ergebnis des Sündenfalls sind. Sie gehörten wohl nicht zu der wunderbaren Schöpfung, von der wir in Kolosser 1,16 lesen, dass der Herr Jesus diese Pflanzen „für sich“, für seine eigene Freude, gemacht hat. Dornen sind der Fluch Gottes über die Sünde und die Erde, von uns Menschen bewirkt. Das führt uns zu Galater 3,13: „Christus hat uns losgekauft von dem Fluch des Gesetzes, indem er ein Fluch für uns geworden ist (denn es steht geschrieben: ‚Verflucht ist jeder, der am Holz hängt.‘“ Dieser Fluch musste noch über unseren Herrn kommen – die Dornen sind aber schon ein erstes Anzeichen davon.

Dieser Fluch kam auf den Kopf unseres Retters. Dann drangen diese Fluch-Dornen unter den Schlägen auf grausame Weise in die Stirn des vollkommenen Menschen. Nicht nur das, sein Herz wurde von diesen Schmerzen ebenso gemartert wie seine Stirn. Was für einen Widerspruch hat der Herr so gegen sich erduldet (vgl. Heb 12,3).

Die heidnischen Soldaten, die Ihm das antaten, werden sich einmal vor diesem Menschen niederbeugen, ja werden von Ihm sogar gerichtet werden. Wir können uns nicht vorstellen, was für eine furchtbare Bestürzung sie erleben werden! Sie werden denselben Herrn, der damals der Mann der Schmerzen war, auf dem Gerichtsthron in Herrlichkeit sitzen sehen. Aber dann wird Er nicht der von ihnen gedemütigte Mensch sein, sondern ihr Richter. Sie werden sich für ihre schrecklichen Taten verantworten müssen. Und doch werden sie auf 1000 Fragen nicht eine Antwort geben können. Das ewige Gericht erwartet sie dort.

Eine andere Krone – ein anderes Zepter

Dann wird Er anders bekleidet sein: „Den Wunsch seines Herzens hast du ihm gegeben und das Verlangen seiner Lippen nicht verweigert ... Leben erbat er von dir, du hast es ihm gegeben: Länge der Tage immer und ewig ... Denn auf den Herrn vertraut der König, und durch des Höchsten Güte wird er nicht wanken“ (Ps 21,3.5.8). Er wird viele Diademe tragen (vgl. Off 19,12), ein echtes Zepter wird Er in seiner Rechten halten (vgl. Ps 2,9). Und alle werden sich vor Ihm in den Staub legen, vor dem Herrn der Herren und König der Könige.

Damals jedoch wurde Er so verhöhnt, dass dadurch sein Herz gebrochen wurde (vgl. Ps 69,21). In die Hand, die auch in diesem Augenblick alle Dinge am Leben erhielt, gelangte ein Zepter des Spotts. Einer nach dem anderen kamen diese bösen Menschen und beugten ihre Knie vor Ihm in schmähender Weise. Mit dem Freudengruß „Sei gegrüßt, König der Juden“ verhöhnten sie Ihn. Ihr Gruß wurde begleitet von ihrem Speichel, den sie auf das Angesicht Jesus spritzen ließen, um Ihn dann noch brutal zu schlagen. Was musste unser Erlöser erdulden – es fehlen die Worte, um das in angemessener Weise auszudrücken. Wir können nur in Anbetung vor Dem niederfallen, der das alles für uns erduldet hat.

Am Schluss dieser Prozedur zog man dem Herrn wieder seine eigenen, blutbefleckten Kleider an. Die Folgen der Geißelung waren unzweifelhaft darauf zu sehen. Wenn man nur daran denkt, dass der Körper Jesu noch nicht getrocknet sein konnte von den vielen Blutungen der Geißelung: Wie schmerzhaft muss dann das mehrfache Abreißen seiner Kleider und das neue Anziehen gewesen sein. Auf Ihn nahm hier niemand Rücksicht. Lediglich rund zweieinhalb Stunden sind vergangen, seit der Herr das erste Mal vor Pilatus gestanden hat. Aber was für ein äußerlicher Unterschied ist nun festzustellen – ein Mann, der wohl kaum noch wiederzuerkennen war im Vergleich zum frühen Morgen!

Johannes 19,4-16 kommt, wie wir schon gesehen haben, in die Mitte von Vers 31 hinein. Aus Johannes 19,14 wissen wir, dass es jetzt nach römischer Zeitrechnung um die sechste Stunde war – also vermutlich zwischen 6 und 7 Uhr morgens. Das lässt uns erkennen, welche gewaltigen Anstrengungen der Herr in der damit gerade ablaufenden Nacht hinter sich hatte. Sie begann damit, dass Er das Passah mit seinen Jüngern feierte. Dann sprach Er mit seinen Jüngern über das, was Er ihnen noch mitgeben wollte (Joh 13-17). Danach kam Gethsemane, dann die Gefangennahme, daraufhin zwei Verhöre vor Annas und Kajaphas.

Nach Sonnenaufgang, vielleicht um 6 Uhr morgens fand sogleich die kurze „Pseudo“-Sitzung des Synedrium statt. Dort verurteilten sie Ihn zum Tod und überlieferten Ihn an die römische Besatzungsmacht in Person von Pilatus. Im Anschluss daran folgten mehrere Verhöre vor Pilatus und Herodes, dazwischen noch die Geißelung. Was für Leiden kommen vor uns, wenn wir diese Fülle an Drangsalen bedenken, die unser Herr in solch kurzer Zeit durchzumachen hatte. Und das ohne ein einziges Wort der Klage!

Verse 32–38: Der König wird gekreuzigt

„Als sie aber hinausgingen, fanden sie einen Menschen von Kyrene, mit Namen Simon; diesen zwangen sie, sein Kreuz zu tragen. Und als sie an einen Ort gekommen waren, genannt Golgatha, das heißt Schädelstätte, gaben sie ihm Wein, mit Galle vermischt, zu trinken; und als er es geschmeckt hatte, wollte er nicht trinken. Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider unter sich, indem sie das Los warfen. Und sie saßen und bewachten ihn dort. Und sie brachten oben über seinem Haupt seine Beschuldigungsschrift an: Dieser ist Jesus, der König der Juden. Dann werden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer auf der rechten und einer auf der linken Seite“ (Verse 32–38).

Nachdem die Heiden alles getan haben, um den Herrn Jesus zu misshandeln, kommen wir in den nächsten Versen zu der Kreuzigungsszene. Es war in Rom üblich, den zu Kreuzigenden vorher in einer Prozession durch die Stadt zu senden. Das tat man, damit sich jeder an dessen Angst und Verurteilung ergötzen könnte. So handelte man auch mit Christus. Mit seinem Kreuz musste Er „hinausgehen“, aus der Stadt Jerusalem hinaus. Interessanterweise wird der Name dieser Stadt im Matthäusevangelium das letzte Mal am Ende von Kapitel 23 erwähnt.

Aus Hebräer 13 wissen wir, dass das Hinausgehen aus der Stadt im Blick auf das Opfer des Herrn eine besondere Bedeutung hat. Beim Sündopfer musste das Tier hinausgebracht werden, außerhalb des Lagers, an einen reinen Ort (vgl. 3. Mo 4,12.21; Heb 13,11.12). Nach 4. Mose 15,35, 1. Könige 21,13 und Apostelgeschichte 7,58 fanden auch Hinrichtungen außerhalb der Stadt statt. Denn die Stadt sollte durch solche Todesurteile nicht verunreinigt werden.

Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass der vollkommene Herr der einzig wirklich Reine in dieser Stadt war. Die Führer der Juden meinten, sich dadurch rein zu erhalten, dass sie Ihn aus der Stadt warfen. In Wirklichkeit aber musste der Reine aus der durch die Sünde der Juden verunreinigten Stadt Jerusalem hinausgehen, um außerhalb der Stadt zu leiden. Dadurch erfüllte Er die Schriften und die Vorbilder der Opfer. Zugleich erfüllt es uns mit Anbetung, dass Er sich von den unheiligen Juden und Heiden aus der Stadt ans Kreuz hinausführen ließ. Sie warfen Ihn aus der Stadt hinaus und schlugen Ihn mit moralisch beschmutzten Händen an ein Kreuz.

Aus Johannes 19,17 wissen wir, dass der Herr sich selbst das Kreuz trug. Die anderen Evangelisten, auch Matthäus, berichten, dass man während dieses Gangs einen vorbeigehenden Mann zwang, das Kreuz anstelle von Jesus zu tragen. Offenbar hat Christus das Kreuz einen Teil des Weges selbst getragen. Dann übernahm Simon von Kyrene die Aufgabe, das Holz weiterzutragen.

Johannes 19,17 stellt also keinen Widerspruch zu Matthäus und den anderen Evangelisten dar. Offenbar beschreibt dieser Evangelist den Weg des Herrn von der Verurteilung bis zur Stadtgrenze. Die synoptischen Evangelien hingegen zeigen den Weg, den der Herr danach gegangen ist: von der Stadtmauer bis nach Golgatha.

Warum trägt ein zweiter Mann das Kreuz?

Viel ist spekuliert worden, warum das nötig war. Jesus sei unter der Last des Kreuzes zusammengebrochen, denken manche. Wir wollen bei andächtigem Nachsinnen bedenken, dass der Herr Jesus vollkommen Mensch war. Wir haben darüber nachgedacht, was für körperlichen Qualen Er schon bis zu diesem Zeitpunkt erleiden musste. Viele Menschen starben schon allein wegen der furchtbaren Geißelung. Wir dürfen nicht ausschließen, dass die Soldaten tatsächlich Angst hatten, dass Jesus durch die körperlichen Schwächungen keine Kraft mehr für den restlichen Weg haben könnte. Wir dürfen auch nicht den hohen Blutverlust durch die Geißelung übersehen. Diese ungläubigen Menschen kannten die Worte des Herrn über seinen Tod nicht (Joh 10,18). So konnten sie nur nach menschlichen Überlegungen handeln.

Wir müssen überhaupt bedenken, dass die Schrift zu diesem Thema nichts weiter sagt. Der Herr Jesus war wirklich vollkommen Mensch und hat diese Drangsale empfunden und erlebt. Aber Gottes Wort lässt überhaupt keinen Gedanken daran aufkommen, Er hätte unter der Last des Kreuzes zusammenbrechen können. Bei keinem der Evangelisten wird ein solcher Hinweis gegeben oder als Erklärung dafür benutzt, dass Simon das Kreuz tragen musste. Wir müssen uns vor falschen Urteilen hüten!

Gott hatte seine Absicht damit, dass Simon gerade in diesem Augenblick an jener Stelle stand, wo der Herr das Kreuz trug. Er hat dafür gesorgt, dass ein Fremder das Kreuz für den Herrn Jesus tragen musste. Die Soldaten zwangen Simon, das Kreuz zu übernehmen. Christus würde sein Werk freiwillig ausführen, ein Werk, das viel, viel schwerer war. Denn die Qualen, die am Kreuz auf Ihn warteten, waren viel, viel schlimmer als das, was hier mit dem Tragen des Kreuzes zusammenhing.

Man kann an dieser Stelle noch darüber nachdenken, dass Gott dem Herrn Jesus jetzt einen zweiten „Vorläufer“ schenkte. Bei seiner Geburt und vor seinem ersten öffentlichen Auftritt hatte unser Retter Johannes den Täufer als Herold und Vorläufer. Kurz vor seinem Kreuz wurde Ihm ein zweiter Vorläufer zuteil, der nicht seinen Thron, wohl aber sein Kreuz zu dessen Bestimmungsort brachte. Auch dafür hat Gott durch Simon von Kyrene gesorgt.

Simon von Kyrene (Vers 32)

Wer war dieser Simon? Simon von Kyrene muss ein Afrikaner aus dem heutigen Libyen (vgl. Apg 2,10) gewesen sein. Die Schande, die mit dem Tragen des Kreuzes verbunden war, konnte man vermutlich keinem Einheimischen, keinem Juden oder Römer, zumuten. Daher griff man sich den erstbesten Ausländer, der vorbeikam. Dieser hatte dann keine Wahl mehr, denn er stand einer Übermacht aus römischen Soldaten gegenüber.

Markus nennt seine beiden Söhne mit Namen: Alexander und Rufus (Mk 15,21). Letzterer kommt eigenartigerweise, dem Namen nach, auch in Römer 16,13 vor. Sollte uns das nicht eine Erklärung dafür geben, warum Gott gerade diesen Simon vorbeigehen ließ? Auch auf dem Weg zum Kreuz wollte Christus einer Seele dienen, die dadurch zum Glauben finden würde. So sehen wir mit Bewunderung, dass der Herr selbst in Verbindung mit den größten Leiden um das Seelenheil anderer besorgt war.

Am Zeitpunkt ihres Zusammentreffens war Simon wohl noch ein unbekehrter Mann. Denn wir lesen ausdrücklich, dass er gezwungen werden musste, das Kreuz zu tragen. Abgesehen davon wäre er an diesem ereignisreichen Tag sicher in Jerusalem geblieben, wenn er bereits ein bekehrter Mann gewesen wäre. Aber offensichtlich war er anschließend von der moralischen Würde Dessen, der neben ihm in stiller Hingabe trotz schlimmster Schmerzen nach Golgatha ging, überwältigt. So hat Simon sicher seinen Kindern und seiner Frau von diesem Mann erzählt. War das der Auslöser für ihre Bekehrung?

Wir können annehmen, dass nicht nur seine Söhne, sondern auch Simon unter den Jüngern als ein Christ bekannt geworden war. Ob schon ein gewisses Interesse an Glaubensfragen die Ursache dafür war, dass er jetzt in Jerusalem beim Passahfest war? Dann wäre er schon vorher ein zumindest gottesfürchtiger Mann gewesen. Wir können das nicht sicher sagen. Vielleicht war Simon auch einfach ein Fremdling, der in Jerusalem Arbeit gefunden hatte (er kam ja vom Feld).

Es ist sicher auch nicht von ungefähr, dass dieser Mann gerade Simon hieß. Soll uns das nicht an den anderen Simon, an Petrus, erinnern? Dieser hatte gesagt, dass er bereit wäre, sogar mit Christus zu sterben. Hier hätte er Gelegenheit gehabt, sich an der Seite seines Meisters zu bewähren. Aber durch seine dreifache Leugnung war er in diesem Augenblick für den Herrn unbrauchbar geworden. Wie hätte er es wagen können, jetzt neben seinem Herrn zu gehen? Er war nicht mehr an der Seite seines Retters. So musste gewissermaßen ein anderer Simon seinen Platz einnehmen. Dieser tat es in Treue. Dafür hatte Gott vorgesorgt.

Schließlich weist uns Simon noch auf ein anderes Thema hin, was der Geist Gottes schon in Kapitel 16,24 belehrend angesprochen hat. „Wenn jemand mir nachkommen will, so verleugne er sich selbst und nehme sein Kreuz auf und folge mir nach.“ Für uns als Gläubige gilt, dass wir unser Kreuz aufnehmen sollen (nicht das Kreuz Jesu, wie es Simon tat). Damit ist nicht gemeint, dass wir ertragen sollen, wenn wir krank sind. Sondern so, wie das Kreuz Jesu mit Verachtung und Spott verbunden war, sollen wir bereit sein, uns bewusst auf seine Seite zu stellen.

„Wer nicht sein Kreuz aufnimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht würdig“ (Mt 10,38). Nachfolge hinter dem Herrn her geht nur mit dem Kreuz. Unser Weg führt nicht zu einem Kreuz der Sühnung, sondern ist mit einem Kreuz der Hingabe für unseren Erlöser verbunden. Seinen beiden Jüngern Johannes und Jakobus hatte der Herr in Matthäus 20,23 gesagt, dass sie sogar seinen Kelch trinken würden. Und das gilt auch für uns in einem begrenzten Maß, wenn wir bereit sind, mit Christus zu leiden. Die Welt wird uns früher oder später verachten, hassen und hinauswerfen, wenn wir uns wirklich auf seine Seite stellen. Denn dann werden wir die Verwerfung der Welt erleben (vgl. Gal 2,19.20; 6,14).

Golgatha (Vers 33)

Zusammen mit Simon und der begleitenden Soldaten- und Volksmenge ging unser Herr nach Golgatha. Matthäus weist ausdrücklich darauf hin, dass dieser Name Schädelstätte bedeutet. Wahrscheinlich kommt dieser Name von der Gestalt des Hügels, der wie ein Schädel aussieht. Hinzu kommt aber, dass durch die vermutlich häufigen Hinrichtungen diese Stätte auch von Schädeln Toter wimmelte.

Es handelte sich bei Golgatha also um die Stätte der Toten. Aus 4. Mose 19,16 wissen wir, was das für einen reinen Juden bedeutete. Es war letztlich ein unreiner Ort, durch den Tod geprägt. Hier wurde Christus vonseiten der Menschen zu den Toten gezählt. Hier musste Er für uns, die geistlich Toten, sterben. Hier wurde Er für uns „zur Sünde gemacht“ (2. Kor 5,21). Dieser Ort sollte das Merkmal tragen, dass Derjenige, der in sich selbst das Leben ist, sterben würde. Dieser Platz macht uns dankbar.

Betäubungswein (Vers 34)

Unser Herr ist vollkommen Mensch geworden. Obwohl Er zugleich der ewige Sohn Gottes ist, musste Er als Mensch zuerst den Wein, mit Galle vermischt, erproben. Denn nur so konnte Er beurteilen, was das für eine Flüssigkeit war. Natürlich wusste Er dies als der ewige Sohn Gottes von Anfang an. Aber wir sehen Ihn hier als Mensch, der bereit war zu schmecken, um beurteilen zu können. Diese Doppelseitigkeit übrigens machte diese Stunden so schrecklich. Er wusste alles vorher, musste aber dann als Mensch alles ganz persönlich erleben und in diesem Sinn – in Ehrfurcht gesprochen – „entdecken“. Wir können nicht in dieses Geheimnis seiner Person eindringen. Er ist und bleibt Gott und Mensch in einer Person. Entweder leuchtet besonders die eine oder die andere Seite hervor – Er ist und war immer beides.

Der Herr Jesus wies den Wein zurück, nachdem Er ihn geschmeckt hatte. Denn dieses Getränk sollte die Verurteilten betäuben. Dadurch sollten die Schmerzen nicht von Anfang an in vollem Maß empfunden werden. Man kann davon ausgehen, dass die beiden Räuber, die auf der linken und rechten Seite des Herrn gekreuzigt wurden, diesen Betäubungstrank nahmen. Normalerweise wurde er von den Verurteilten dankbar angenommen.

Der Herr lehnte nicht das Trinken als solches ab, wohl aber jede Art von Schmerzbetäubung. Christus wollte nämlich weder den vollen Schmerzen noch dem Kelch des Zornes Gottes, den Er nach dem Ratschluss Gottes trinken musste, in irgendeiner Weise ausweichen. Das erinnert uns an das Passahlamm, bei dem die Hitze des Feuers nach 2. Mose 12 ebenfalls nicht geschmälert werden durfte. Das Lamm durfte nicht im Wasser gekocht und erst recht nicht roh gegessen werden. Es musste der ganzen Hitze des Feuers ausgesetzt werden. So wollte auch der Herr nicht zulassen, die Ihm von Gott auferlegten Leiden irgendwie zu dämpfen. Er war bereit, alles auf sich zu nehmen, was Gottes Ratschluss vorsah, sowohl vonseiten der Menschen als auch von Gottes Seite. Dabei vergessen wir nicht, dass wir nicht gelesen haben, dass Er seit der Passahfeier irgendetwas getrunken habe. Der Herr Jesus muss wirklich viel Durst gehabt haben. Johannes bezeugt daher auch die entsprechenden Worte des Herrn am Kreuz. Niemand stillte diesen äußerlichen Durst des Herrn. Und wenn ein Getränk mit schmerzhemmenden Zusätzen verbunden war, wollte Er selbst davon nicht trinken.

Wir dürfen nicht übersehen, dass diese Worte auch eine Erfüllung alttestamentlicher Weissagungen darstellen. Wie wir mehrfach gesehen haben, sind die von Matthäus geschilderten Leiden nahezu in jedem Vers eine Erfüllung der Vorhersagen des Alten Testaments. So auch hier: „Und sie gaben in meine Speise Galle“ (Ps 69,22). Alles musste erfüllt werden, was in Bezug auf seine Leiden vorhergesagt worden war.

Kreuzigung und Verteilung seiner Kleider (Verse 35.36)

Damit beginnen die sechs Stunden, die der Herr Jesus am Kreuz hing. „Als sie ihn gekreuzigt hatten“ – was für eine Aussage! Wir finden in den Evangelien keine Erklärungen und Ausschmückungen, wie der Herr an das Kreuz genagelt wurde. Es steht auch nirgends, was einzelne Menschen taten, damit Er dort festgenagelt werden konnte. Das alles verschweigt uns der Geist Gottes, weil Er das Augenmerk auf andere Punkte lenken möchte. Er wollte offensichtlich vor allem vermeiden, dass wir in sentimentaler Weise über das Kreuz von Golgatha nachdenken. In beeindruckend zurückhaltender Form spricht Gott von dem, was mit seinem Sohn geschah. Bringt uns diese Art der Schilderung nicht viel stärker zu wahrer Anbetung, als dies irgendeine bildreiche Schilderung tun könnte? Daran wollen wir uns auch orientieren, wenn wir unseren Herrn für sein Opfer am Kreuz preisen und anbeten. Das gilt auch jetzt, wenn wir etwas über die Passion Christi schreiben.

Das Nachdenken über diese Verse zeigt: Der Retter war hier vor den Augen seiner Feinde entblößt. Alles hatte man Ihm weggenommen, auch seine Kleider, wie es später heißt. Die gaffende Menge ergötzte sich an seinem Anblick. Wie die Dornenkrone von dem Fluch der Sünde spricht, so auch das Entblößen. Denn erst nach ihrer Sünde empfanden Adam und Eva, dass sie nackt waren (vgl. 1. Mo 3,7). Genau dieses Schamgefühl wurde hier bei unserem Retter aufs Äußerste verletzt. Er hat das tief empfunden, als Er dort am Kreuz vor den boshaften Augen der Menschen hing. Es gab keinen Tröster, keinen einzigen, der hier für Ihn eintrat und Ihn erfreute (vgl. Ps 69,21). Lukas zeigt, dass später einer der mit Ihm gehängten Räuber die Seite wechselte und sich zu Ihm bekannte. Davon spricht Matthäus nicht. Für den König Israels gab es nur Ablehnung und Hass. Wenn wir Psalm 88, der in erster Linie von den Leiden des künftigen Überrestes spricht, auf Ihn beziehen wollen: Sogar „Freund und Genossen hast du von mir entfernt; meine Bekannten sind Finsternis“ (Ps 88,19).

Wir lernen in diesen Versen etwas von dem Hass der Menschen gegen Christus. Diese Abscheu hat sich bis heute nicht geändert und trifft alle, die sich im Glauben zu Ihm bekennen. Aber die Ablehnung heißt nicht, dass man Ihn nicht für seine Zwecke instrumentalisieren würde. Damals hat man mit seinen Kleidern Handel getrieben. Kleider sind das, was man von einem Menschen äußerlich sieht. So nimmt man heute „Jesus“ als guten, sozialen Menschen. So sei Er das Vorbild für die Menschheit. Selbst verschiedene Religionen sprechen so. Dabei aber vergisst man, dass Christus Richter und nicht Vorbild wäre, wenn Er nicht am Kreuz das Erlösungswerk vollbracht hätte. Und man übersieht, dass man Ihm nur dann nachfolgen kann, wenn man Ihn zuvor als Erlöser und Sündenträger angenommen hat. Damit aber wollen die meisten Menschen – heute wie damals – nichts zu tun haben.

Es heißt, dass das Verteilen der Kleider eine römische Gewohnheit war. Für sie war derjenige, der jetzt am Kreuz hing, keine lebende Person mehr. Er wurde wie ein Toter behandelt, der keine Anrechte mehr auf seine Kleider besaß. So konnte man diese unter sich verteilen, ohne auf irgendwelche Rechtsansprüche Rücksicht nehmen zu müssen. Für diese rauen Menschen war unser Erlöser nicht nur ein Todgeweihter, sondern bereits ein Toter. In Wirklichkeit aber war Er der Retter der Welt.

Psalm 22,17-19

Wir denken auch an die Weissagungen Davids in Psalm 22,17-19: „Denn Hunde haben mich umgeben, eine Rotte von Übeltätern hat mich umzingelt. Sie haben meine Hände und meine Füße durchgraben. Alle meine Gebeine könnte ich zählen. Sie schauen und sehen mich an; sie teilen meine Kleider unter sich, und über mein Gewand werfen sie das Los.“ Wir sehen uns die einzelnen Aussagen dieser Verse kurz an:

  1. Die erste Aussage zeigt, dass der Herr Jesus empfunden hat, dass Er von Heiden, von unreinen Menschen, gekreuzigt wurde. Unheilige, von Sünde besudelte Menschen haben sich über Ihn hergemacht.
  2. Er fügt hinzu, dass Er inmitten von Übeltätern war. Das bezieht sich sicherlich zuerst auf die gottlosen Menschen, die Ihn ans Kreuz gebracht haben. Aber dann denken wir auch an die Räuber, die zusammen mit Ihm gekreuzigt wurden, Er in ihrer Mitte. Man tat so, als ob Er gemeinsame Sache mit bösen Menschen gemacht hätte. Als der Mittelpunkt der drei Gekreuzigten sollte Er gewissermaßen als der Schlimmste von ihnen dargestellt werden.
  3. Dann spricht der Geist Gottes durch David von der Kreuzigung. Das ist außerordentlich bemerkenswert, denn diese Art der Hinrichtung gab es zu diesem Zeitpunkt, als David schrieb, noch gar nicht. Das zeigt, dass der „Mann nach dem Herzen Gottes“ hier etwas weissagte, ohne wissen zu können, wovon er sprach. Am Kreuz wurden die Hände und die Füße des Herrn durchbohrt. Er fühlte das wie ein Durchgraben seiner Glieder.8.
  4. Dann lesen wir, wie tief unser Herr die körperlichen Qualen empfunden hat. Sie waren so furchtbar, dass Er am Kreuz jeden einzelnen Knochen gespürt hat.
  5. Damit nicht genug. Er litt in seiner Seele darunter, dass diese gottlosen Menschen Ihn mit ihren lüsternen Augen angestarrt haben.
  6. Daraufhin spricht David davon, dass man auch die Kleider des Herrn verteilen würde. Für jeden Bestandteil seiner Kleidung fand sich jemand, der es genoss, kostenlos seinen Kleiderschrank auffüllen zu können. Nach Johannes 19,23 handelte es sich um vier Teile, so dass die vier wachhabenden Soldaten jeweils ein Stück bekamen.
  7. Schließlich ist noch vom Gewand Jesu die Rede. Davon spricht Johannes in Johannes 19,23b. Es geht um das Untergewand unseres Herrn. Um dieses losten sie (Vers 24), so dass Psalm 22,19 erfüllt wurde.
Die Kleider Jesu

Aber es gibt eine weitere, tiefe Bedeutung über die reine Erfüllung der Weissagung in Psalm 22,18.19 hinaus. Seine Feinde, die Ihn ans Kreuz brachten, erhielten seine Kleider. Noch wussten sie nichts damit anzufangen als nur damit ihr Spiel zu treiben. Von nun an gehörten diese Sachen nicht mehr dem Todgeweihten, sondern ihnen.

Wenn man jedoch noch Vers 54 hinzuzieht, kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass hier eine symbolische Bedeutung in dem Verteilen seiner Kleider liegt. „Hoch erfreue ich mich in dem Herrn; meine Seele soll frohlocken in meinem Gott! Denn er hat mich bekleidet mit Kleidern des Heils, den Mantel der Gerechtigkeit mir umgetan“ (Jes 61,10). Die Soldaten, die hier als Feinde Jesu erscheinen, stehen für alle natürlichen Menschen. Keiner von uns hatte vor seiner Bekehrung letztlich etwas anderes im Sinn, als Christus zu verhöhnen und zu verwerfen. Aber solche Sünder hat Er durch sein Werk auf Golgatha in einer Weise bekleidet, dass Gott uns in Ihm jetzt annehmen kann. Wer Ihn als Retter annimmt, hat Kleider des Heils erhalten. So hat Er durch seinen Tod am Kreuz für Menschen, die als Folge des Sündenfluchs moralisch nackt waren, Kleider der Gerechtigkeit hervorgebracht. Damit wir bekleidet werden konnten, musste Er entkleidet werden.

Sicher saßen die gaffenden Soldaten auch dort, um sich in krankhaftem Genuss an den Leiden der Gekreuzigten zu ergötzen. In diesem Fall hofften sie vergeblich, an Ihm ein Zeichen moralischer Schwachheit zu finden. Stattdessen erlebten sie einen Menschen, der in ungewöhnlicher, ja einzigartiger Weise voller Geduld die unsagbaren Schmerzen und den Spott ertrug. So etwas hatten sie noch nie erlebt. Möglicherweise glaubten sie sogar, dass Er vor ihren Augen ein Wunder tun würde, wenn sie etwas von seinem Leben und Dienst gehört hatten. Sie bewachten Ihn auch, um zu verhindern, dass Er durch ein selbst bewirktes Wunder vom Kreuz herabstieg, wie es manche Vorübergehenden andeuteten. Und das taten sie im Blick auf ein nach außen hin wehrloses Opfer, das einer Wache nie bedurft hätte.

Die Bewachung unseres Herrn hatte noch einen weiteren Hintergrund. Es gibt Zeugnisse, dass sich solche Kreuzigungen bis zu neun Tage hinziehen konnten, je nachdem, wie kräftig der Gekreuzigte war. Daher war auch das Betäubungsgetränk so wichtig. Daher konnten Angehörige oder Freunde des Gekreuzigten in den Nächten kommen, um den so Gefolterten zu befreien. Es bestand zudem die Gefahr, dass sich wilde Tiere über die wehrlosen Opfer hermachten. Daher eine Wache. Was für ein Schauspiel: Da hängt der Sohn Gottes in Menschengestalt am Kreuz und wird bewacht. Er, der diesen Wächtern gerade in diesem Moment den Lebensodem gab und sie überhaupt am Leben erhielt, wurde von diesen bewacht.

Unser Retter blieb weiter stumm. Wir finden zwar insgesamt sieben Aussprüche von Ihm am Kreuz. Aber keiner war zu seiner Verteidigung. Keiner hatte zum Thema, die eigene Würde zu behaupten. Die ersten drei, die Er vor den drei Stunden der Finsternis aussprach, hatten ausschließlich das Wohl anderer Menschen zum Inhalt. So litt Er letztlich still und stumm, leidend und doch nicht drohend, obwohl Er so viel Anlass dazu hatte.

Die Überschrift und die Genossen des Königs am Kreuz (Verse 37.38)

Die Beschreibung bei Matthäus ist sehr gedrängt. Er nennt alles wie im Stakkato-Takt. Ohne weitere Ausschmückungen wird alles aufgeführt, was von Bedeutung ist. Dahinter steht, dass unserem geliebten Retter kein Leiden erspart blieb. Physische Leiden, aber vor allem unsagbare moralische Verletzungen wurden Ihm ununterbrochen zugefügt.

Nun wird am Kreuz eine Aufschrift angebracht: „Dieser ist Jesus, der König der Juden.“ Es heißt, dass ein Krimineller früher ein Brett vor sich oder auf der Stirn befestigt tragen musste. Darauf stand die Tat, derentwegen er verurteilt worden war. So sah jeder, der ihn durch die vollen Straßen zum Hinrichtungsplatz laufen sah, welcher Art sein Verbrechen war. Diese Gewohnheit wurde offenbar, in etwas abgewandelter Form, auch bei dem Herrn angewendet.

Lukas und Johannes berichten, dass die Aufschrift in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache angefertigt wurde. Jeder der Evangelisten nennt sie in etwas anderer Form, entsprechend dem Thema des jeweiligen Evangelisten. Daher ist es möglich, dass sie nicht in jeder Sprache alle Worte umfasste. Bei Johannes finden wir die ausführlichste Darstellung der Überschrift: die größte Form der Erniedrigung als auch seiner Herrlichkeit. Dort ist der Herr Jesus der Erhabene, der Sohn Gottes, und zugleich der niedrige Mensch.

Matthäus berichtet vermutlich – dem Charakter seines Evangeliums entsprechend – von der hebräisch-aramäischen Schrift. Markus nennt vielleicht die lateinische und Lukas die griechische Aufschrift. Natürlich müssen wir annehmen, dass Pilatus diese Überschrift in sarkastischer Weise verstanden wissen wollte. Und doch erhielt der Herr so trotz der Ihn hassenden Juden seinen wahren Titel, und das von einem Heiden: Pilatus.

Die Juden hatten sich im höchsten Maß über Christus lustig gemacht. Ihr König war an ein Kreuz genagelt! Sie erkannten Ihn ja gerade in dieser Herrlichkeit nicht an. Und dennoch war Er wirklich ihr Messias. Gegen ihren Willen mussten sie diese Schmach nun akzeptieren. Allerdings ist auffallend, dass Matthäus deutlich macht, dass es eine Beschuldigungsschrift war. Auch wenn Pilatus derjenige war, der die Überschrift anbringen ließ, schrieb er doch letztlich nur das darauf, worin aus Sicht der Juden die Anklage bestand. So wurden die Führer der Juden durch diese Überschrift, die eigentlich den Verurteilten anklagen sollte, letztlich selbst angeklagt.

Um den Hass und die Gemeinheit voll zu machen, rückten diese Menschen die Kreuze von Räubern an die Seite Jesu. Sie kannten weder Gerechtigkeit noch Erbarmen oder Mitleid. Wieder einmal finden wir, dass Matthäus sehr viel Wert darauf legt, zu zeigen, dass sich die alttestamentlichen Weissagungen in Christus am Kreuz erfüllt haben. „Er ist den Übertretern beigezählt worden“ (Jes 53,12).

Die Kreuzigung selbst wird in keinem der Evangelien beschrieben. Sie war die scheußlichste Qual, um Kriminelle zu Tode zu bringen. Sie kam wohl von den Phöniziern und wurde von der brutalen römischen Regierung gerne aufgenommen. Die Juden waren eigentlich nicht gewohnt, Übertreter durch das Kreuz zu Tode zu bringen. Bei einer Kreuzigung wird jeder Muskel gestreckt, das Lebensblut entströmt so dem Körper. So hing unser Retter am Kreuz und litt unaussprechliche Qualen des Todes. Nun sollten sich auch noch verschiedene andere Weissagungen über seinen Tod erfüllen.

Wenn wir an das Alte Testament denken, stellen dort gerade die Opfer vorbildlich das Werk am Kreuz von Golgatha dar. Aber es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen diesen Tieropfern und unserem Herrn. Die Tiere starben zuerst bzw. wurden geschlachtet, bevor sie auf das Feuer des Altars kamen. Unser hochgelobter Herr dagegen musste das Feuer des Gerichts Gottes über unsere Sünden lebendig und leibhaftig erfahren. Er starb erst, nachdem Er auf das Feuer des Altars gekommen war. Der himmlische, wahre Isaak lag nun auf dem Altar, die Hand Gottes wurde erhoben, um Ihn zu zerschlagen. Es gab keine Rettung vor diesem Kelch, den Er bis zum letzten Tropfen trinken musste. Hier wurde die Hand Gottes nicht angehalten, wie das bei Abraham im Blick auf Isaak der Fall war (vgl. 1. Mo 22,10.11).

Verse 39–44: Der König am Kreuz wird geschmäht

„Die Vorübergehenden aber lästerten ihn, indem sie ihre Köpfe schüttelten und sagten: Der du den Tempel° abbrichst und in drei Tagen aufbaust, rette dich selbst. Wenn du Gottes Sohn bist, so steige herab vom Kreuz! Ebenso spotteten auch die Hohenpriester samt den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen: Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten. Er ist Israels König; so steige er jetzt vom Kreuz herab, und wir wollen an ihn glauben. Er vertraute auf Gott, der rette ihn jetzt, wenn er ihn begehrt; denn er sagte: Ich bin Gottes Sohn. – Auf dieselbe Weise aber schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren“ (Verse 39–44).

In den Kapiteln 21 und 22 haben wir gesehen, dass alle feindlichen Gruppen hochgestellter Juden kamen, um den Herrn Jesus zu versuchen. Es war ihr erklärtes Ziel, Ihn wenn möglich zu Fall zu bringen. Inzwischen war der Herr gefangen genommen und sogar ans Kreuz genagelt worden. Aber erneut versammelten sich verschiedene Feinde Jesu vor Ihm, um Ihn jetzt in seiner äußersten Schwachheit zu verspotten und zu einer verkehrten Handlung zu bringen. Hinter allem stand – neben dem Hass und der Bosheit des Menschen selbst – Satan, der große Widersacher Christi. Nun kamen

  1. die Vorübergehenden: vor allem Juden, die zum Fest gekommen waren, das allgemeine Volk.
  2. die Hohenpriester, Schriftgelehrten und Ältesten: Die Führer des Volkes hatten noch nicht genug von ihrem Spott.
  3. die Räuber am Kreuz: Sie waren vielleicht Fremde, aber selbst sie stimmten ein in den verächtlichen Spott gegen Christus.

Die Lästerung der Vorübergehenden: Wenn du Gottes Sohn bist (Verse 39.40)

Zwischen der Schilderung der Kreuzigung und dem Höhepunkt, dem Verlassensein von Gott, lesen wir von diesem Spottgesang über Christus. Er zeigt uns, auf welche Weise das Volk der Juden sogar am Kreuz mit seinem Messias umging. Für sie spielte es keine Rolle, dass Er die schlimmsten Leiden zu erdulden hatte. Ihren Hohn ließen sie durch nichts bremsen. Gerade bei Matthäus finden wir in besonderer Weise, wie der Geist Gottes die dem Herrn zugefügte Schmach und die Ihm widerfahrenen Beleidigungen zusammengestellt hat. Markus dagegen betont besonders das Verlassensein von Gott.

Nicht zufrieden mit allem, was schon getan worden ist, fügte das Volk noch das Gift beleidigender Worte hinzu. Dieser Pöbel weiß im Vorübergehen nichts Besseres zu tun, als dem Herrn noch einen letzten Spott-Stich zu verpassen. Voller Hohn greifen sie die Anklage der Juden vor Kajaphas auf (Mt 26,61). Sie behaupten, der Herr habe gesagt, Er könne den Tempel abbrechen und dann innerhalb von drei Tagen wieder aufbauen. Wir haben in Verbindung mit Kapitel 26,61 gesehen, dass der Herr gesagt hatte, dass sie den Tempel abbrechen würden, nämlich den Tempel seines Leibes (vgl. Joh 2,19). Jetzt waren sie im Begriff, genau das zu tun. Der Herr hatte also vorhergesagt, dass Er selbst nach drei Tagen wieder auferstehen würde. Das hatten sie Ihm, ohne seine Worte überhaupt verstanden zu haben, zur Last gelegt und Ihn deswegen verurteilt. Nun wurde Er hier deswegen verspottet. Wenn Er von dem Kreuz herabgestiegen wäre, was sie als Zeichen fordern, hätte Er seine eigene Weissagung nicht erfüllt. Kein Mensch wäre von seiner Sündenschuld befreit worden. Und die Juden hätten dennoch nicht an Gott und seinen Christus geglaubt (vgl. Lk 16,31).

Ist es nicht ein stückweit göttliche Ironie, dass Ihr eigenes Tun – die Ermordung Jesu – dazu führte, dass nach Vers 51 der Tempel wirklich zerstört wurde? Natürlich war das Zerreißen des Vorhangs des Tempels das Ergebnis des Werkes Christi. Aber sie hatten die Verantwortung für seinen Tod. Und nun konnte der Tempel nicht mehr in der ursprünglichen Weise genutzt werden. Er war in diesem Sinn buchstäblich abgebrochen worden.

Die Vorübergehenden, also das gewöhnliche Volk, liebten anscheinend den Zeitvertreib. Sie verbanden sich, wie man hier lesen kann, mit dem Hass der Führer und der Räuber, also mit der oberen und mit der niedrigsten Klasse. Gibt es etwas Scheußlicheres, etwas Verkommeneres, als das, was man hier sieht? Alle Feinde Jesu vereinten sich, um den Herrn mit Füßen zu treten. Er war der Sohn Gottes und der König Israels. Er hätte seine Macht ebenso mühelos erweisen können, wie Er sie im Gericht in naher Zukunft zeigen wird. Damals aber schwieg Er zu diesen bodenlosen Frechheiten und Grausamkeiten. Stattdessen enthüllte Er die göttliche Liebe, indem Er da, wohin Ihn die Menschen mit sündigen Händen gebracht hatten, ausharrte. Sogar das Gericht über die Sünde ertrug Er voller Hingabe.

Wir begegnen hier auch in direkter Weise Satan, obwohl dieser nicht genannt wird. Aber die Herausforderung, „wenn du Gottes Sohn bist, so ...“ kennen wir aus Matthäus 4,3.6. Dort waren es die Worte des Teufels. Jetzt sollte Christus noch einmal gerade im Blick auf seine große Herrlichkeit als Sohn Gottes versucht werden. War Er nicht in der Lage, vom Kreuz zu steigen? Ja und nein. Natürlich besaß Er die Macht, die Nägel in sich selbst zusammenfallen zu lassen. Er hätte allen Richtern sofort das Leben nehmen können. Aber seine Liebe war es, die nicht vom Kreuz herabsteigen konnte. Denn dann wäre kein einziger Mensch zum Glauben gekommen. Wenn der Herr in diesem Augenblick vom Kreuz gestiegen wäre, hätte die Schuld von uns Menschen ihren Höhepunkt erreicht – und es hätte nie wieder Hoffnung auf Errettung bestanden.

Noch einmal erinnern wir uns, dass Matthäus nahezu in jedem Vers dieser Leidensgeschichte alttestamentliche Weissagungen anführt. In Psalm 22 lesen wir: „Alle, die mich sehen, spotten über mich; sie reißen die Lippen auf, schütteln den Kopf“ (Ps 22,8). Nach Psalm 69 musste unser Herr klagen: „Die im Tor sitzen, reden über mich, und ich bin das Saitenspiel der Zecher ... Der Hohn hat mein Herz gebrochen, und ich bin ganz elend; und ich habe auf Mitleid gewartet, und da war keins, und auf Tröster, und ich habe keine gefunden“ (Ps 69,13.21).

Der Spott der Hohenpriester: Andere hat Er gerettet ... (Verse 41–43)

Der Höhepunkt des Spotts kam von den Führern seines Volkes, wie nicht anders zu erwarten war. Für sie gab es nichts Schöneres, als den Herrn der Herrlichkeit mit Hohn zu überziehen. Ihre Stiche waren von besonderer Qualität, denn sie stellten die Kraft des Herrn und die Liebe Gottes zu seinem Christus in Frage. Ihr Sarkasmus richtete sich genau gegen die beiden wesentlichen Wahrheiten seiner Person, dass Er der König Israels und zugleich der Sohn Gottes war. Nur aufgrund dieser beiden Tatsachen war Er und Er allein in der Lage, das Werk Gottes auszuführen. Deshalb konnte Er durch seinen Tod die Erlösung vollbringen, die Israel und alle Menschen nötig hatten. Hätten nicht alle anbetend vor Ihm niederfallen müssen angesichts einer solchen Hingabe für andere? Die einen wollten nicht, weil sie Ihn hassten. Die anderen konnten nicht, weil sie aus Furcht geflohen war.

  • „Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten.“ Sie erkannten immerhin an, dass Christus viele Menschen aus ihrem Elend gerettet hatte. Blinde hatte Er sehend gemacht, Taube hörend, Lahme gehend, Besessene von Dämonen befreit. Warum konnte Er sich dann nicht selbst retten? Es gab nur einen einzigen Grund: Weil Er andere retten wollte, nämlich sein Volk (Mt 1,21) und das Verlorene (Mt 18,11). Sich selbst brauchte Christus nicht zu retten! Bis zum Schluss stellte Er sich ganz in den Dienst für andere.
    In diesen Worten liegt noch eine weitere zu Herzen gehende Wahrheit. Als es um andere ging, wurde die gewaltige Kraft des Herrn immer wieder sichtbar. Für sich selbst hat Er diese nicht eingesetzt. Im Gegenteil. Paulus schreibt einmal, dass unser Herr „in Schwachheit gekreuzigt“ worden ist (vgl. 2. Kor 13,4). Gibt es ein Zeichen größerer Schwachheit, als am Kreuz zu hängen? Dieser Schwachheit hat sich unser Retter freiwillig ausgesetzt. Anbetungswürdiger Herr!
  • „Er ist Israels König; so steige er jetzt vom Kreuz herab, und wir wollen an ihn glauben.“ Soeben hatten diese boshaften Menschen den Herrn Jesus ans Kreuz gebracht, weil sie Ihm vorwarfen, Er würde zu Unrecht von sich behaupten, König zu sein. Jetzt forderten sie Ihn heraus, gerade das zu beweisen. Was für ein Schrecken hätte sie getroffen, wenn der Herr das wahrgemacht hätte. Und vergessen wir nie: Er hatte die Macht, dies zu tun. Was aber wäre das für ein Glaube gewesen? So oft hatte der Herr während seines Dienstes derartige Wunder getan. Hatten sie an Ihn geglaubt? Im Gegenteil, ihr Hass war dadurch nur noch größer geworden.
  • „Er vertraute auf Gott, der rette ihn jetzt, wenn er ihn begehrt.“ Gerade sein Vertrauen, sein höchstes Gut als Mensch, wurde nun ebenfalls verspottet. Das ist die schlimmste Form bösartiger Herausforderung vonseiten der Menschen. Was für ein Hohn, sein Vertrauen zu Gott mit Füßen zu treten und zugleich Gott herauszufordern, der doch dieses Vertrauen scheinbar nicht beantwortete. Merkten diese bösen Menschen nicht, dass sie direkt Weissagungen des Alten Testaments zitierten: „Alle, die mich sehen, spotten über mich; sie reißen die Lippen auf, schütteln den Kopf: „Vertraue auf den Herrn! – Der errette ihn, befreie ihn, weil er Gefallen an ihm hat“ (Ps 22,8.9). Eigentlich hätten die Hohenpriester diese Verse kennen müssen. Der Psalmist macht deutlich, dass das Vertrauen des Herrn zu seinem Gott auch durch diese bösen Worte nicht erschüttert werden konnte. Er blieb der abhängige Mensch, der alles von seinem Vater erwartete. „Bewahre mich Gott, denn ich suche Zuflucht bei dir“ (Ps 16,1). Am Fuße des Kreuzes zitierten die Führer Israels Psalm 22. Kurze Zeit später würde Jesus selbst diesen Psalm in erschütternder Weise zitieren.
  • „Denn er sagte: Ich bin Gottes Sohn.“ Wir lesen wohl nur ein Mal, dass der Herr so von sich gesprochen hat (Joh 10,36). Er hatte sich immer wieder „Sohn des Menschen“ genannt und anscheinend nicht oft von sich als dem Sohn Gottes gesprochen. Petrus hatte das einmal getan, und auch der Vater hat das deutlich ausgerufen. Christus hat das bestätigt und wenigstens dieses eine Mal auch ganz konkret ausgesprochen. Immer wieder hatte Er zudem deutlich gemacht, dass Er vom Vater ausgegangen war. Denn Er war der Sohn Gottes, wie Er Kajaphas bestätigt hatte. Zugleich jedoch war Er der Demütige, der alles besaß und auf alles freiwillig verzichtete, um andere zu erlösen. Der alles verkaufte, um den Schatz und die Perle zu besitzen.

Alles das, was das Herz des Herrn am meisten berührte, wurde hier also mit Füßen getreten. Die furchtbaren Prüfungen konnten allerdings letztlich nur seine Vollkommenheiten offenbaren. Und noch immer tat Er seinen Mund nicht auf. Hier war Er nach Psalm 22,13.14.17 von einem reißenden und brüllenden Löwen, von Stieren von Basan, von einer Rotte von Übeltätern umgeben. Sogar die Räuber, die mit Ihm gekreuzigt waren, schmähten Ihn. Alle verbanden sich gegen den Christus Gottes (vgl. Apg 4,27).

Noch einmal müssen wir allerdings klar erkennen: All diese Leiden, die Christus vonseiten der Menschen erduldet hat, und die furchtbaren Qualen für unseren Retter sühnten keine einzige Sünde. Sie zogen nicht das Heil der Sünder nach sich. Nein, sie werden das Gericht Gottes herbeiführen, wenn Christus wieder auf die Erde kommen wird bzw. wenn diese Menschen vor Ihm erscheinen müssen. Dann wird Er auf dem großen weißen Thron sitzen und ihr endgültiges Gericht aussprechen. Das wird furchtbar für sie sein.

Verse 45.46: Jesus Christus, das Schuldopfer, am Kreuz von Gott verlassen

„Aber von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. Um die neunte Stunde aber schrie Jesus auf mit lauter Stimme und sagte: Eli, Eli, lama sabachthani?, das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Verse 45.46).

Der vierte und damit mittlere Abschnitt der Kreuzigungsszenen ist zweifellos der Höhepunkt von allem. Hier kommen wir zum Mittelpunkt der „Ewigkeiten“, zum Dreh- und Angelpunkt der Zeit, zum Herzen des Ratschlusses Gottes. Dieser Mittelpunkt wird in einer Kürze behandelt, die erstaunlich ist. Gerade einmal „zwei Verse“ hat der Geist Gottes für das reserviert, was die Sühnung unserer Sünden bedeutet.

Man mag sich fragen, warum das wichtigste Thema des Evangeliums so kurz behandelt wird. Die Antwort liegt darin, dass nur Gott in der Lage ist, in vollständigem Maß zu beurteilen und wertzuschätzen, was in diesen drei Stunden der Finsternis geschah. Diese Szene dauerte von 12 Uhr mittags bis um 15 Uhr. Wir Menschen haben letztlich keinen Einblick in diesen Vorgang. Selbst die Erlösten können nur erahnen, was hier geschah. „Wer könnte je ergründen ..., und wer Verständnis finden von dem, was dort geschehn?“

Die Finsternis

Nur der Ruf am Ende dieser drei Stunden ist uns überliefert worden. Dieser Ruf gibt uns eine gewisse Vorstellung von dem, was hier passierte – mehr nicht. Es war eine Zeit, in der vermutlich über das ganze Land Israel, manche meinen über das ganze Römische Reich hinweg, diese Finsternis kam. Es handelte sich um keine Sonnenfinsternis, sondern um ein übernatürliches Einschreiten Gottes. Er ließ nicht zu, dass Menschen, die seinen Sohn verhöhnt hatten, sich weiter an ihrem Opfer weideten, während Er mit Ihm unserer Sünden wegen abrechnete. Der Herr Jesus hatte keine Sünde – Er musste nicht um seiner selbst willen leiden. Es waren unsere Sünden, die dort auf Ihn geladen wurden.

Die Finsternis war allerdings nicht nur ein Verhüllen vor den Augen der Menschen. Sie war auch das äußere Zeichen davon, was über Christus kam. In diesen drei Stunden war Er der Stellvertreter der Sünder vor dem heiligen und gerechten Gott. Gott musste sein Angesicht vor Ihm verbergen. Jesus wurde von Gott verlassen – was für ein Inhalt liegt in dieser Aussage! Der Schrei am Ende der drei Stunden erklärt die Bedeutung der Finsternis. Die Finsternis wiederum gibt uns zugleich einen Hinweis auf die Not, die zu diesem Ruf führte.

Es heißt, die Juden hätten selbstgefällig davon gesprochen, dass Gott durch die Finsternis sein Missfallen gegenüber Christus persönlich ausgedrückt habe. So wollen unheilige und böse Menschen ihr Verwerfen seiner Person rechtfertigen. Wie weit sind sie jedoch von der Wahrheit entfernt. Denn was dort geschah, beschreibt Paulus in dem einen Satz: „Den, der Sünde nicht kannte, hat er für uns zur Sünde gemacht, damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm“ (2. Kor 5,21). Eines können wir uns sicher sein: Als die Finsternis kam, kam zugleich Furcht und Schrecken auf die Menschen. Das wird nicht weiter erörtert, weil es um den Herrn ging. Aber die plötzliche, unangekündigte Finsternis haben diese Menschen nicht teilnahmslos erlebt.

Die Sünde des Menschen – die Liebe Jesu

Wohin die Sünde den Menschen gebracht hatte, dahin brachte die Liebe den Herrn. Er jedoch besaß eine vollkommene Natur und ein tiefes Empfindungsvermögen. So fühlte Er die ganze Schwere dessen, was in diesen Stunden auf Ihm lag. Weil bei uns alles durch Sünde und Oberflächlichkeit getrübt ist, fällt es uns schwer, angemessene Empfindungen für das zu bekommen, was Christus am Kreuz erduldete. Letztlich werden wir das auch im Himmel nicht ergründen und vollständig mitfühlen können.

Wir dürfen bis zu einem gewissen Grad Zeugen der Leiden seiner Seele in Gethsemane sein. Dort hatte unser Retter die kommenden Schrecken des Todes am Kreuz vor sich. Wir können in schwachem Maß auch etwas von seinen seelischen und körperlichen Qualen mitempfinden, welche Ihm die hasserfüllten Menschen zugefügt haben. Das alles aber war nur der Weg, auf dem sich Jesus als freiwilliges Opfer Gott zur Verfügung stellte. In den drei Stunden der Finsternis aber erduldete Er als das reine Opfer von Gottes Seite das Gericht. Hier wird dem Menschen nicht mehr gestattet hineinzusehen.

Am Kreuz litt Jesus für alle Sünden, die wir begangen haben, auch für die scheinbar kleinste Verfehlung. Wir werden einmal für jedes unnütze Wort Rechenschaft ablegen müssen (vgl. Mt 12,36). Dort am Kreuz musste Christus auch für unsere unnützen Worte leiden. Er musste ein vollständiges Gericht erdulden, wie es beim Sündopfer durch das Feuer dargestellt wurde, welches das ganze Opfer verzehrte (3. Mo 16,27). Vor dem Richterstuhl werden wir einmal die Berge unserer Sünden sehen, die sein Werk am Kreuz notwendig machten. Sollte uns dieses Bewusstsein nicht davon abhalten, immer wieder zu sündigen?

Am Kreuz wurde der Herr Jesus die Erfüllung aller Opfer des Alten Testaments. Wie wir bereits früher gesehen haben, zeigt uns Matthäus den Herrn Jesus besonders als das Schuldopfer. „Er wird sein Volk erretten von ihren Sünden“ (1,21). Es ist Matthäus, der im „Vaterunser“ den Herrn mit den Worten zitiert: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir unseren Schuldigern vergeben“ (6,12). Nur Matthäus spricht von diesem Mann mit der ungeheuren Schuld vor seinem Herrn (18,24). Nur er schreibt in Verbindung mit dem Abendmahl davon, dass das Blut des Herrn vergossen wird zur Vergebung der Sünden (26,28). Hier erfüllte sich die Weissagung aus Psalm 69,5: „Was ich nicht geraubt habe, muss ich dann erstatten.“

Der Ruf des Herrn am Kreuz

Damit kommen wir zu dem Höhepunkt dessen, was uns Gottes Wort über diese drei Stunden der Finsternis mitteilt. Es ist dieser einmalige Ausruf unseres Retters dort am Kreuz. Von sieben Aussprüchen Jesu am Kreuz berichten die Evangelisten.

  1. Lukas 23,34: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“
  2. Lukas 23,43: „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“
  3. Johannes 19,26 f.: „Frau, siehe, dein Sohn!... Siehe, deine Mutter!“
  4. Matthäus 27,46 / Markus 15,34: „El(o)i, El(o)i, lama sabachthani! ... Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
  5. Johannes 19,28: „Mich dürstet!“
  6. Johannes 19,30: „Es ist vollbracht!“
  7. Lukas 23,46: „Vater, in deine Hände übergebe ich meinen Geist!“

Die drei ersten Worte hat der Herr Jesus vor den drei Stunden der Finsternis gesprochen, die drei letzten danach. Der mittlere Ausspruch wird sowohl von Matthäus als auch von Markus wiedergegeben. Wir finden ihn schon in Psalm 22. Was für eine Tatsache, dass Gott schon im Alten Testament hatte aufschreiben lassen, was der Herr Jesus am Kreuz würde erdulden müssen.

Der Herr Jesus dürfte diesen Ruf in aramäischer Sprache ausgesprochen haben. In der griechischen Übersetzung umfasst dieser Ausruf genau sieben Wörter: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Andächtig lesen wir, was der Herr ausgerufen hat. Uns wird erlaubt, diesen Schrei zu hören, damit wir eine Ahnung haben von dem, was hier vor sich gegangen war. Der Herr Jesus war in diesen Stunden ganz alleine mit Gott. Dort wurde Er zur Sünde gemacht. Das heißt nicht nur, dass Er mit der Sünde identifiziert wurde. Er wurde dort sogar zur personifizierten Sünde, Er, von dem drei verschiedene Schreiber des Neuen Testaments ausdrücklich sagen, dass Er keinen Bezug zur Sünde hatte. Petrus schreibt, dass Er keine Sünde getan hat (1. Pet 2,22). Paulus sagt, dass Er Sünde nicht kannte (2. Kor 5,21). Johannes wiederum teilt uns mit, dass Sünde nicht in Ihm ist (1. Joh 3,5). Das zeigt, dass das Gericht nicht darin bestand, dass Christus für eigene Schuld gestraft werden musste. Im Gegenteil! Er hat Gott in jeder Hinsicht und in jedem Augenblick seines Leben vollkommen verherrlicht. Aber in dieser Zeit der Finsternis konnte nichts den Kelch der Gerechtigkeit und des Zorns Gottes beseitigen oder dämpfen. Ein Ausleger schreibt dazu: „Die Macht, die in Christus war, beschützte Ihn nicht. Denn Er wollte das Werk der Erlösung vollbringen. Diese Macht aber machte Ihn fähig, das zu tragen, was auf seiner Seele lag: die Gefühle des Schreckens, die der Fluch für Ihn bedeutete. Er trug sie in dem Bewusstsein der Liebe des Vaters. Das Gefühl lag auf Ihm, zur Sünde gemacht zu werden. Er trug es in dem Bewusstsein der in Ihm wohnenden göttlichen Heiligkeit. Weder das eine noch das andere wird je von uns Menschen abgewogen werden können. Er und Er allein trank den Kelch des Gerichts Gottes gegen die Sünde in diesen drei Stunden.“ (John Nelson Darby) Der Heilige Geist wollte uns offenbar Anteil geben an dem, was der Herr Jesus in seiner größten Not gesagt hat, und wie Er es getan hat.

Wir finden hier übrigens eine ganz andere Sprache als bei Hiob. In seiner schweren Not, die nicht zu vergleichen ist mit diesen drei Stunden, sprach er von Gott und leider auch gegen Gott. Nein, Christus spricht nicht von und schon gar nicht gegen Gott. Er sagt: „Mein Gott“. Wir wollen zudem bedenken, dass der Herr Jesus am Ende der drei Stunden rief. Das zeigt, dass die sühnenden Leiden jetzt ihren Abschluss fanden. Es war kein Ausruf der Verzweiflung, aber es war ein Ruf größter Not. Wir können einfach nicht eindringen in diese drei Stunden. Erst als das Werk der Erlösung zum Abschluss kam, zieht Gott den Schleier ein ganz klein wenig zur Seite. Genug, um uns zu zeigen, dass dieses Gericht der drei Stunden übermenschlich war. Wir können es nicht erfassen. Wir müssen immer wieder erkennen: Hier tun sich Unendlichkeiten auf, die weit über unser Verstehen und Empfinden hinausgehen.

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Wir sind nicht in der Lage, diese drei Stunden und den Ruf des Herrn Jesus in der Tiefe zu verstehen. Dennoch hat uns Gott den Ruf unseres Retters weitergeben. Deshalb wollen wir die Worte kurz in anbetender Haltung überdenken:

  1. Gott“: Es ist überhaupt das erste Mal, dass der Herr Jesus zu Gott nicht „Vater“ sagt, sondern „Gott“. Dies zeigt schon, dass es sich hier um eine ganze besondere Situation handeln muss. Noch ein zweites Mal spricht der Herr von seinem Gott. Das ist nach seiner Auferstehung, als Er Maria Magdalene den Auftrag gibt, zu seinen Brüdern zu gehen. Sie soll diesen die großartige Botschaft übermitteln, dass Er zu seinem Vater und zu ihrem Vater, zu seinem Gott und zu ihrem Gott auffahren wird (vgl. Joh 20,17). Da spricht der Name Gottes für die Fülle alles Segens, die das Werk auf Golgatha für den Menschen bewirkt hat.
    Hier jedoch spricht die Anrede „mein Gott“ davon, dass etwas Gravierendes, etwas Furchtbares in diesen Stunden passiert ist. Der Herr konnte die Ihm eigene, ewige Gemeinschaft mit Gott nicht genießen, als Er von Gott verlassen wurde. Sowohl am Anfang als auch am Ende der Kreuzesleiden spricht der Herr zum Vater (Lk 23). In diesen drei Stunden jedoch, als Er am Ende zu Gott ruft, zeugt diese Anrede „mein Gott“ von tiefsten Leiden. Er wurde von dem heiligen Gott zerschlagen, wie es der Prophet Jesaja wiedergibt (Jes 53,10). Gott ist zu rein von Augen, um auf Sünde zu sehen (Hab 1,13). Was für ein erschütternder Ausruf Dessen, der stets im Gebet mit seinem Vater war: Mein „Gott“. Diese Anrede zeugt davon, dass Christus von Gott getrennt war, dass es keine Verbindung zwischen dem Menschen Jesus und Gott gab. Unser Retter war in dieser Situation allein, ganz allein.
  2. Mein Gott“: Und dennoch, wenn Christus auch die Gemeinschaft mit Gott in diesen Stunden nicht genießen konnte, so blieb es doch „mein“ Gott! Die Beziehung und das Vertrauen zu Gott blieben auch in diesen schrecklichen Stunden in vollem Maß vorhanden. Die Beziehung Dessen, der den ganzen Ratschluss Gottes erfüllte. Das Vertrauen des leidenden Lammes Gottes zu Dem, der Ihn in diesen drei Stunden verlassen musste, weil fremde Schuld auf Ihn gelegt wurde. Aber gerade das Vertrauen, das die Menschen kurz zuvor höhnend verlacht haben, war und ist immer vorhanden gewesen bei unserem Retter. Auch in den tiefsten Nöten vertraute Er in vollkommener Weise auf seinen Gott.
  3. Mein Gott, mein Gott“: Was für ein Hinweis auf die Schwere der Leiden, dass unser Herr seinen Gott gleich zweimal ansprach. Wir finden sieben Personen, die Gott zweimal mit ihrem Vornamen anrief (Abraham, Abraham). Jetzt aber hören wir, dass Gott selbst zweimal angesprochen wird. Nur dieses eine Mal im Leben unseres Herrn sprach Er zu seinem Gott in dieser doppelten Weise. Hier war die Not in seinem Leben unendlich groß, weil das menschlich Undenkbare, das Einmalige, hier von Ihm erduldet werden musste: Gott wandte sich von seinem eigenen Sohn, dem Menschen Jesus Christus, ab. Diese ungekannte Not kommt in dieser Ansprache an seinen Gott deutlich hervor.
  4. „warum“ (nach Markus: „wozu“): Bis zu diesem Zeitpunkt gab es noch keinen einzigen Menschen auf der Erde, der von Gott verlassen wurde. Jesus, der vollkommene, sündlose Mensch, war der erste. Kein Mensch wird sich in der Hölle beklagen können, in Ewigkeit von Gott verlassen zu sein. Denn seine Sünden und seine Unbußfertigkeit haben ihn an diese Stelle gebracht. Auch wir hätten uns nicht beklagen können, wenn Gott uns in Ewigkeit verworfen hätte. Keiner von uns hätte eine Berechtigung für solch eine Warum-Frage. Aber Christus? Er hat nichts Ungeziemendes getan. Im Gegenteil! Er hat Gott in allem verherrlicht. Es gab keinen Augenblick in seinem Leben, wo Er nicht Gott gedient und Ihn verherrlicht hätte. Aber warum musste Er dann verlassen werden von Gott? Wir wissen die Antwort: unserer Sünden wegen. Ein Dichter (Henri Rossier) hat das so formuliert: Die Ewigkeit unserer Strafe lag dort auf Christus.
    Der Herr Jesus gibt prophetisch selbst eine Antwort, wenn Er nach Psalm 22 klagt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bist fern von meiner Rettung, den Worten meines Gestöhns? Mein Gott! Ich rufe am Tag, und du antwortest nicht; und bei Nacht, und mir wird keine Ruhe. Doch du bist heilig“ (Ps 22,1-3). Für den Herrn waren diese drei Stunden wie eine Ewigkeit voller Tage und Nächte. Er rief – Gott aber blieb stumm. Nacht und Tag war sein Rufen – aber es kam keine Antwort. Denn der heilige Gott konnte nicht antworten, da Er dem Menschen Jesus Christus als Richter gegenübertrat. Das unterstreicht noch einmal: Das Rufen des Herrn, das uns mitgeteilt wird, steht am Ende der drei Stunden. Es fasst aber zusammen, was der Herr inmitten dieser drei Stunden erleben musste. Und es ist im Gegensatz zu Warum-Fragen von uns sündhaften Menschen keine Spur von Auflehnung gegen Gottes Weg in diesen Worten enthalten. Wenn das bei Menschen gelegentlich der Fall ist, benutzt der Geist Gottes ein anderes Wort (madua). Nein, hier ist es ein hingebungsvolles „Warum“ oder „Wozu“, das unser Erlöster ausruft.
    Ist das, was wir bislang gesehen haben, der ganze Grund für diese Leiden Jesu? Letztlich müssen wir auch hier anbetend zurückbleiben, wenn es um das Erfassen der ganzen Ursache geht. Aber es geht offenbar nicht nur oder vielleicht nicht einmal in erster Linie um die „Ursache“. Denn Markus verwendet ja ein Wort, dass man mit „wozu“ übersetzen kann. Was war der Zweck, das Ziel dieser drei Stunden der Finsternis? Wir dürfen sagen: unsere Erlösung! Wir wissen auch, dass Er selbst diese drei Stunden der Finsternis auf sich nahm, um Gott zu verherrlichen. Diese Augenblicke werden in alle Ewigkeit in einzigartiger Weise dastehen. Sie sind der Mittelpunkt des Ratschlusses Gottes, der Mittelpunkt der Zeit und der Ewigkeit. Denn hiervon hing die göttliche Herrlichkeit ab, von den unveränderlichen Resultaten dieses Werkes. Dass der Mensch hier keinen wirklichen Einblick hat, zeigt auch der Vers 47 unseres Kapitels und die Worte der Dastehenden.
  5. hast du“: Es war nicht irgendwer, der den Herrn Jesus verlassen hat. Es war Gott, sein Gott, derjenige, mit dem Er immer, schon vor seiner Menschwerdung und auch vor Grundlegung der Welt, in Gemeinschaft gewesen ist. Es war Derjenige, der in vollkommener Weise wertschätzen konnte, wie der Herr sich Ihm hingegeben hat. Es war Der, der den Herrn seinen Genossen nannte, wie Sacharja das prophetisch ausdrückt. Gerade dieser – Du – hatte Ihn jetzt in drei Stunden furchtbarer Finsternis verlassen. Kannte der Herr nicht – um die andere Seite zu zeigen – seinen Gott ganz anders? War Er nicht der Gott der Liebe, der Ihn immer begleitet hat? Der an seiner Seite stand, wenn die Feinde Ihm drohten, ja wenn selbst die Jünger Ihn verließen (vgl. Joh 16,32)? Doch, dieser Gott blieb Er auch in diesen Stunden. Aber seine Liebe zu den verlorenen Menschen machte es nötig, dass Christus den ganzen Kelch leeren musste. Es war der Kelch des Ratschlusses, aber auch der des Zorns Gottes über die Sünde. So erschien Er Demjenigen gegenüber, der selbst das Licht der Menschen ist, als das Licht. Gott musste die Sünde – auch wenn es fremde Sünde war, die auf Ihn gelegt wurde – bestrafen. Da durfte der Richter-Gott keinen Unterschied machen, keine Abmilderung vornehmen, selbst wenn es der eigene Sohn war, an dem diese Strafe vollzogen wurde.
  6. mich“: Gott hatte nicht irgendwen im Gericht geschlagen. Es war derjenige, der seine Freude war. Die Demut Jesu war so vollkommen, dass der Vater gleich dreimal (Taufe, Berg der Verklärung, als seine Seele bestürzt war) sein Wohlgefallen am Sohn offenbaren musste. Mehrfach hat der Vater gesagt, dass Er den Herrn Jesus verherrlichen würde. Gerade den Mann, der sein Genosse war, hat Gott geschlagen. Es gab nur den Einen, der sein Herz erfüllte und Ihn in allem verherrlicht hatte. Gerade Der musste für fremde Schuld die göttliche Strafe erdulden.
  7. „verlassen“: In den Evangelien wird dieser Ausdruck ausschließlich in dem Ausruf unseres Herrn am Kreuz benutzt (bei Matthäus und Markus). Niemals hatte ein Mensch das bisher erlebt. Erst recht nicht Derjenige, der die Wonne des Vaters war. Er kannte nicht nur die Gemeinschaft mit seinem Gott und Vater, Er genoss sie, sie war ununterbrochen Realität in seinem Leben auf der Erde: von der Geburt, wenn wir das so in Ehrfurcht sagen können, bis zum Kreuz. Aber auf einmal stand etwas zwischen Gott und seinem Christus: unsere Sünden. Da konnte Gott keine Gemeinschaft haben. Er musste sich von Ihm abwenden. Er musste Ihn verlassen. Er musste Dem, der sein Geliebter war, wirklich den Rücken zuwenden, um Ihn an unserer statt zu bestrafen. Was für ein Leiden muss das für unseren Retter gewesen sein, zwischen Himmel und Erde erhöht und selbst von seinem Gott verlassen zu sein. Einmaliger, einzigartiger Augenblick in dem Leben Dessen, der Gott in allem gedient und gehorcht und sich Ihm vollständig geweiht hat.

Wenn man über diese Worte nachdenkt, muss uns das zur Anbetung bringen. Es führt uns auf die Knie vor unseren Retter. Wir danken Ihm nicht nur von ganzem Herzen, sondern bewundern anbetend seine Hingabe, nicht nur in den Tod, sondern auch in dieses Verlassensein von Gott. Das war Trennung von Gott, der Inbegriff dessen, was Tod bedeutet. Wer könnte das mit Worten ausdrücken, was unser Retter hier erduldete? Ihm sei Lob, Preis, Ehre und Herrlichkeit in alle Ewigkeit!

Anhang: Einige sprachliche Überlegungen

Nachdem wir uns mit dem Wesentlichen beschäftigt haben, nämlich was der Herr erduldet hat und mit diesem Ausruf aussagte, gebe ich noch ein paar ergänzende sprachliche Hinweise weiter. Wir haben bereits gesehen, dass wir im Matthäusevangelium eine andere Version der Worte des Herrn als im Markus-Evangelium finden. Es stellt sich die Frage: Was genau hat der Herr Jesus eigentlich gesagt?

Beide Evangelisten haben unter der Leitung des Heiligen Geistes inspiriert geschrieben. Damit sind beide „Versionen“, wenn wir das in Ehrfurcht sagen dürfen, richtig. Nun gilt es zu bedenken, dass der Ausruf des Herrn von Matthäus und Markus in griechischen Buchstaben wiedergegeben wird: sowohl der buchstäbliche Ausruf des Herrn, den Er in aramäischer Sprache getan hat, als auch die Übersetzung. Niemand sollte denken, dass der Herr am Kreuz griechisch gesprochen hätte. Das wird deutlich, wenn beide Evangelisten (sehr ähnlich) zitieren: „El(o)i, El(o)i, lama sabachthani!“ Nein, das war ein aramäischer Ausruf.9 Dieser wird von beiden Evangelisten ins Griechische übertragen und im Bibeltext griechisch wiedergegeben.

Wir haben also bei der Wiedergabe des „El(o)i, e(o)li, lama sabachthani“ eine Transkription (Schreibung, Umschreibung) des originalen Ausrufs des Herrn ins Griechische. Was hat der Herr Jesus nun aber genau gesagt? Im Aramäischen lauteten seine Worte wahrscheinlich, wie der Aramäisch-Forscher Gustav H. Dalman scheibt, in unserer Schrift ausgedrückt folgendermaßen: „elahi, elahi lema schebaktani“.

Nun ist die Frage berechtigt: Warum unterscheiden sich Matthäus und Markus im Blick auf die Anrede, die der Herr Jesus gewählt hat: eli (Matthäus), eloi (Markus)? Beides heißt übersetzt: mein Gott. Matthäus konnte das „elahi“ mit dem bekannten hebräischen Wort „eli“ ausdrücken. So machte er für seine jüdischen Leser den Bezug und die Erfüllung von Psalm 22,2 (in hebräischer Sprache verfasst) deutlich. Markus schrieb (lautlich etwas genauer) „eloi“. A und O -Laute verschwimmen im Hebräischen/Aramäischen bei offener Aussprache leicht. Daher muss man sich nicht wundern, dass aus dem „elahi“ ein „eloi“ wird. Beide lautlichen Beschreibungen dessen, was der Herr in aramäischer Sprache gesagt hat, kann man somit nicht nur als richtig, sondern im Blick auf die jeweiligen Empfänger als vom Geist Gottes genau so gewollt bezeichnen.

Nun kommt noch etwas Weiteres hinzu: Gott wollte, dass auch Nichtkenner der hebräischen bzw. aramäischen Sprache in der Lage sind, den Zusammenhang zu verstehen, der in beiden Berichten zwischen den Worten des Herrn und den Worten der Dabeistehenden nach den drei Stunden der Finsternis im Blick auf Elia hergestellt wird. Auch deshalb haben beide Evangelisten offensichtlich die Worte Jesu in einer Art „lautsprachlicher“ Weise wiedergegeben. So können auch wir, die wir von der aramäischen Sprache keine Ahnung haben, verstehen, warum die Umstehenden nach den drei Stunden spöttisch sagen konnten, Jesus habe „Elia“ gerufen. Dazu musste notwendig der Klang der ursprünglichen Aussprache angegeben werden, um seine Ähnlichkeit mit „Elia“ zu zeigen.

Es gibt noch einen weiteren Unterschied in der Wiedergabe der Worte Jesu am Kreuz, die in einer deutschen Übersetzung nicht deutlich werden. Denn das dem „warum“ (hast du mich verlassen) zugrundeliegende, griechische Wort ist bei Matthäus ein anderes als bei Markus. Heißt das, dass die Wiedergabe entweder von Matthäus oder von Markus falsch ist? Natürlich nicht! Sie sind inspiriert. Matthäus übersetzt das (hebräische, aramäische) Wort „lama“ (warum, wozu) mit „hinati“, und Markus übersetzt es mit „eis ti“ (was, wozu). Der Unterschied der beiden Wörter ist nicht groß und wird mit der jeweils wörtlichen Übersetzung deutlich. Bei Matthäus heißt es wörtlich: „damit (auf dass) was?“. Bei Markus könnte man übersetzen: „Zu was?“ oder „wozu?“ Beides ist eine gute Wiedergabe des „warum“, „wozu“ und zeigt den Bedeutungsumfang dessen, was der Herr gesagt hat.

Diese sprachlichen Überlegungen sind letztlich zweitrangig, wenn wir uns bewusst machen, was dieser Ruf für unseren Herrn bedeutete und was er für uns enthält. Dennoch ist es nützlich zu verstehen, dass Matthäus und Markus nicht verschiedene Vorlagen hatten oder der eine hebräisch schreibt, während der andere das Aramäische wählt. Nein, sie hören gewissermaßen dieselben Worte. Gemäß dem Ziel und der eigentlichen Zielgruppe der Evangelien haben sie unter der Inspiration des Heiligen Geistes eine Version gewählt, die ihre Zielgruppe am besten verstehen konnte.

Die drei Stunden der Finsternis in den vier Evangelien

Bevor wir uns den weiteren Versen zuwenden, wollen wir noch kurz über einen Vergleich der Evangelien im Blick auf die sühnenden Leiden des Herrn nachdenken. Es würde den Rahmen sprengen, jeden einzelnen Punkt miteinander zu vergleichen. Dazu sei verwiesen auf das sehr nützliche Buch von Samuel Ridout über die Evangelien. Aber diese drei Stunden sind von solcher Tragweite, dass der Unterschied zwischen den Berichten sehr auffallend ist.

Markus stellt uns den Herrn Jesus als das Sündopfer vor. Daher können wir gut verstehen, dass auch er diese sühnenden Leiden nennt. Bei ihm finden wir auch tatsächlich sehr ähnliche Worte wie bei Matthäus. Über die Unterschiede in den Formulierungen haben wir bereits nachgedacht.

Lukas spricht nicht von dem Ausruf des Herrn am Ende dieser drei Stunden. Aber bei ihm lesen wir: „Und es war schon um die sechste Stunde; und es kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. Und die Sonne verfinsterte sich, der Vorhang des Tempels aber riss missen entzwei“ (Lk 23,44.45). Lukas zeigt den Herrn Jesus als das wahre Friedensopfer. Er hat die Kluft zwischen dem sündigen Menschen und Gott überbrückt und den Menschen zu Gott geführt. Bei ihm ist daher im Unterschied zur Chronologie das Zerreißen des Vorhangs direkt nach der Zeit der Finsternis, nicht erst nach dem Tod des Herrn. Denn der Zugang zu Gott ist das Ergebnis, das besonders im Friedensopfer ausgedrückt wird: Er ist offen auf der Grundlage des Werkes Christi, weil die Frage der Sünde am Kreuz geklärt worden ist. Bei Lukas ist diese Finsternis aber nicht so sehr ein Ausdruck des Verlassenseins von Gott, als vielmehr der Beweis: „Dies ist eure Stunde und die Gewalt der Finsternis“ (Lk 22,53). Satan wollte nicht zulassen, dass der Mensch einen Weg zu Gott findet. Er wollte Gott in der Finsternis für den Menschen belassen. Er wollte verhindern, dass Licht auf den Weg zu Gott scheint. Wenn Satan nicht durch Christus überwunden worden wäre, hätte der Mensch in der Finsternis bleiben müssen.

Johannes wiederum spricht überhaupt nicht von diesen drei Stunden. Er stellt uns den Herrn als das wahre Brandopfer vor. Als solches war unser Retter in den drei Stunden der Sühnung ganz zur Verherrlichung Gottes, seines Vaters. Er hat sich ganz für Gott verzehrt. Da spielt die Frage des für den Menschen notwendigen Verlassenseins von Gott keine Rolle. Es bleibt wahr: „Siehe das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt“ (Joh 1,19). Das hat der Herr durch sein „Ganzopfer“ am Kreuz vollbracht, in seiner Hingabe in den Tod für seinen Gott und Vater.

Die neunte Stunde

Am Schluss dieses Abschnitts möchte ich noch etwas zur neunten Stunde sagen. Es war die Stunde, in der Christus starb, 15 Uhr nach unserer heutigen Zeit.

  • Es war die neunte Stunde, in der das Abend-Brandopfer gebracht wurde.10 Das hatte Gott schon im Alten Bund so vorgeschrieben (2. Mo 29,39; Esra 3,3).
  • Es war auch die neunte Stunde, als das Räucherwerk im Heiligtum geräuchert wurde (2. Mo 30,8).
  • Es war die neunte Stunde, als Gott in wunderbarer Weise auf das Gebet Elias antwortete. Er ließ Feuer auf das Brandopfer auf dem Berg Karmel kommen, so dass es ganz verzehrt wurde (1. Kön 18,36ff.).
  • Es war die neunte Stunde, als Daniel erhört wurde (Dan 9,21), nachdem er sich gedemütigt hatte. Dann wurde ihm die Zukunft der 70 Jahrwochen, die über das Volk Israel bestimmt waren, von Gott durch den Engel Gabriel mitgeteilt.
  • Es war die neunte Stunde, als Esra vor Gott betete. Gott antwortete in dieser Stunde auf dieses Gebet der Demütigung von Esra und dem Volk Israel (vgl. Esra 9,4.5; 10,1ff.).
  • Es war die neunte Stunde, als Petrus und Johannes zum Tempel gingen und den lahmen Mann dort antrafen. Im Namen Jesu Christi, des Nazaräers, konnten sie ihm gerade in dieser Stunde zurufen, dass Er ihn gesundgemacht hat (Apg 3,1-10).
  • Es war die neunte Stunde, als Kornelius, der fromme und gottesfürchtige Hauptmann, von Gott ein Gesicht geschenkt bekam. Dieses führte dazu, dass er und alle, die bei ihm versammelt waren, der Versammlung durch den Heiligen Geist hinzugefügt werden konnten (Apg 10,1-3).
  • Und es war die neunte Stunde, als das Passah gefeiert wurde – jetzt von den Juden (vgl. 2. Mo 12,6). Ihnen war es offenbar egal, dass ihr eigener König gerade um die neunte Stunde starb und damit das Vorbild des Passahfestes erfüllte.

Viele wurden um die neunte Stunde in ihren Gebeten erhört. Nur einer bekam keine Antwort: unser Retter. Und doch glaube ich, dass diese Aussage so nicht stehen bleiben kann. Unser Herr bekam während der drei Stunden der Finsternis keine Antwort. Gott blieb stumm. Aber Er rief diesen Ruf des intensivsten Gebets, das wir uns vorstellen können, am Ende der drei Stunden der Finsternis. Und dürfen wir da nicht doch die Worte des Herrn in Psalm 22,22 als eine Antwort verstehen: „Ja, du hast mich erhört von den Hörnern der Büffel“? Gott hat Ihm geantwortet und sein Werk angenommen. Sogleich war die Finsternis zu Ende und wir hören in einem anderen Evangelium, dass der Herr sich an den Vater wendet. Die Gemeinschaft Jesus mit Gott, seinem Vater, ist sie nicht eine wunderbare Antwort auf dieses Leiden, auf diesen Ruf? Zudem hat Gott den Herrn Jesus aus den Toten auferweckt und Ihm einen Platz höchster Ehre gegeben. Darüber freuen wir uns.

Verse 47–56: Der Tod des Königs am Kreuz und seine herrlichen Folgen

„Als aber einige der Dastehenden es hörten, sagten sie: Dieser ruft Elia. Und sogleich lief einer von ihnen und nahm einen Schwamm, füllte ihn mit Essig und legte ihn um einen Rohrstab und gab ihm zu trinken. Die Übrigen aber sagten: Halt, lasst uns sehen, ob Elia kommt, um ihn zu retten! Jesus aber schrie wieder mit lauter Stimme und gab den Geist auf. Und siehe, der Vorhang des Tempels° zerriss von oben bis unten in zwei Stücke; und die Erde erbebte, und die Felsen rissen, und die Grüfte taten sich auf, und viele Leiber der entschlafenen Heiligen wurden auferweckt; und sie kamen nach seiner Auferweckung aus den Grüften hervor und gingen in die heilige Stadt und erschienen vielen. Als aber der Hauptmann und die, die mit ihm Jesus bewachten, das Erdbeben sahen und das, was geschehen war, fürchteten sie sich sehr und sprachen: Wahrhaftig, dieser war Gottes Sohn! Es waren aber viele Frauen dort, die von weitem zusahen, solche, die Jesus von Galiläa nachgefolgt waren und ihm gedient hatten. Unter diesen waren Maria Magdalene und Maria, die Mutter des Jakobus und Joses, und die Mutter der Söhne des Zebedäus.“ (Verse 47- 56).

In diesem fünften Abschnitt der Kreuzesszenen kommen wir nun dazu, dass unser Retter wirklich sterben musste. Es war nach dem Getrenntsein von Gott in den drei Stunden der Finsternis auch noch nötig, dass Er sein Leben in den Tod übergab. Natürlich bedeutet „Tod“ Trennung. Das hat der Herr in geistlicher Hinsicht in diesen drei Stunden erlebt. Aber es heißt eben auch: „Ohne Blutvergießung gibt es keine Vergebung“ (Heb 9,22). Daher musste der Herr sein Leben lassen, wie es durch die zahlreichen Vorbilder der Opfer und von Jona usw. vorhergesagt worden war. Es war nötig, dass eine Trennung von Seele und Leib bei Ihm, unserem Retter, stattfand. Dieser Tod hatte gewaltige Auswirkungen auf die Menschen, die uns im Folgenden beschäftigen werden.

Spöttische Worte und Handlungen der Menschen nach der Finsternis

Zuerst jedoch lesen wir eine Reaktion von Menschen auf den einmaligen Ausruf des Herrn am Kreuz zu seinem Gott. Wir wissen nicht, ob die Finsternis mit diesem Ausruf beendet wurde. Es ist auch sehr gut möglich, dass der Herr diesen Ruf getan hat, nachdem es soeben wieder hell geworden ist. Denn Er benutzt eindeutig die Vergangenheitsform (Aorist Indikativ). Jedenfalls registrierten die Dabeistehenden diese Worte des Herrn.

Sie sind weit davon entfernt, auch nur im Geringsten seine Gedanken zu verstehen. Aber sie erfüllen die Weissagungen, die wir in Psalm 69,22 finden: „Und sie gaben in meine Speise Galle, und in meinem Durst gaben sie mir Essig zu trinken.“ Der erste Teil wurde am Anfang der Kreuzigung erfüllt, jetzt sollte auch der zweite Teil dieses Verses seine Erfüllung finden. Aus Johannes 19,28 wissen wir, dass der Herr in dieser Situation wirklich Durst gehabt hat.

Manche Ausleger haben gedacht, dass die Umstehenden die vom Herrn Jesus gesprochene Sprache nicht verstanden haben. Dadurch wären sie zum Eindruck gelangt, der Herr habe vielleicht Elia gerufen. Dann wären es die Heiden, die Soldaten gewesen, also Römer, die diesen Ausspruch getan hätten. Das aber ist sehr unwahrscheinlich. Denn was wussten solche Heiden von Elia? Wieso konnten sie gerade in dieser Situation auf diesen Mann kommen? Viel wahrscheinlicher ist es, dass wir es hier mit Juden zu tun haben. Sie reden ein weiteres Mal in spöttischer Weise und machen damit das Maß ihrer Bosheit voll. Hinzu kommt, dass wir in Vers 36 lesen, dass die heidnischen Soldaten saßen. Die Juden dagegen standen um das Kreuz.

Nur Matthäus und Markus berichten von dieser Szene. Die jüdischen Führer und ihre Gesellen lassen selbst nach dieser eindrücklichen Finsternis keine Gelegenheit aus, ihren Messias zu verspotten. Sie müssen große Angst empfunden haben, als es finster wurde. Jetzt aber machen sie weiter in ihrem Hass gegen Denjenigen, den sie nicht als ihren Messias anerkennen wollten. Wenn Er vorher nicht in der Lage war, selbst herabzusteigen, vielleicht könnte ja Elia Ihn retten? Den wird Er bestimmt gerufen haben ... Was für ein absurder Gedanke! Und was für einen Hohn musste der Herr, wenn wir diesem Gedanken folgen, sogar nach den sühnenden Leiden noch über sich ergehen lassen! Ihm blieb nichts, aber auch gar nichts erspart.

Der Durst Jesu am Kreuz

Ich komme noch einmal zurück auf den Durst des Herrn. Von Johannes wissen wir, dass Er am Kreuz nach den drei Stunden der Finsternis ausgerufen hat: „Mich dürstet“ (Joh 19,28). Bedenken wir, dass Jesus vermutlich von der Passahfeier an nichts mehr zu trinken bekommen hat. Während der vielen Verhöre hatte keiner der Juden oder Heiden irgendein Interesse an Ihm und seinen Bedürfnissen. So litt unser Retter am Kreuz unsagbaren Durst. Er hing als Gekreuzigter in der Mittagshitze. Allein diese Tatsache und auch, dass Er dort sechs Stunden hing, erklären diesen Durst.

Darüber hinaus ist auch wahr, dass Er einen geistlichen Durst hatte, den Ratschluss Gottes zu Ende zu führen und das Werk ganz zu vollbringen. Er wollte seinem Gott Kinder zuführen. Das war Ihm viel wichtiger als sein großer körperlicher Durst.

Schließlich sind dieser Ruf und das Ausdrücken dieses Bedürfnisses ein Zeichen, dass der Herr nicht am Ende seiner physischen Kräfte war. Das heißt nicht, dass Er nicht in vollkommener Weise die ganzen Qualen körperlich empfunden hätte. Er hat das viel stärker getan, als wir dazu in der Lage wären. Denn Er ist nicht nur vollkommen Mensch gewesen, sondern ein vollkommener Mensch. Aber bei alledem konnten Ihm die Kreuzesqualen nicht das Leben wegnehmen. Er hat es selbst freiwillig in den Tod gegeben.

Wenn der Herr Jesus am Ende seiner körperlichen Kräfte gewesen wäre, hätte Er nicht um ein Getränk bitten können. Wir haben gesehen, dass solche Getränke oft als lebensverlängernde Mittel gegeben wurden. Das kann aber nur jemand erbitten, der überhaupt noch reden kann. Das können Gekreuzigte nach dieser Zeit gar nicht mehr. Der Herr aber konnte es.

Auf seine Bitte hin wird Ihm ein Schwamm gereicht, der mit Essig gefüllt und um einen Rohrstab gelegt wurde. Das war wahrscheinlich der damals übliche Essigwein, den die Soldaten selbst zum Zeitvertreib tranken. Mit diesem bekannten und billigen Getränk hatten sich die Soldaten und die anderen Zuschauer das stundenlange Schauspiel versüßt.

Noch ein Wort zum Ablauf. Die gesprochenen Spottworte kamen, wie wir gesehen haben, vermutlich von Juden. Dann wurde der Essig von den „Übrigen“, vielleicht von Soldaten, geholt. Wollten sie seine Leiden dadurch noch verlängern, um sich weiter an seiner Qual zu weiden? Vielleicht wollten sie auch wirklich sehen, ob jemand kommen würde, um Jesus zu helfen. Dann aber überlegten sie es sich anders. Möglicherweise wollten sie Ihm jede Möglichkeit einer Erleichterung nehmen und riefen deshalb: „Halt, lasst uns sehen, ob Elia kommt, um ihn zu retten!“ Ihr Hass war unübertreffbar.

„Halt, lasst uns sehen, ob Elia kommt, um ihn zu retten!“ Markus scheint anzudeuten, dass derjenige, der diesen Schwamm hielt, zugleich derjenige war, der dann auch das „Halt“ rief. Das wäre somit wieder ein Jude gewesen. Sie wussten, dass Elia vor dem Tag des Herrn, vor der Errettung des Volkes, kommen würde. Ob sie das als Spottmittel in dieser Szene einsetzen wollten?

Von Johannes wissen wir, dass sie nicht verhindern konnten, dass der Herr tatsächlich von diesem Essig etwas nahm (vgl. Joh 19,29.30). Aber sie wollten in ihrem perversen Spott zunächst sehen, ob nicht tatsächlich mit Elia ein Retter für den Herrn kommen würde. Unser Herr brauchte keinen Retter, denn Er selbst war der Retter für diese Welt. Elia hingegen benötigte einen Retter. Christus vollbrachte das Werk, kraft dessen Elia damals zum Himmel fahren konnte, ohne durch den Tod gehen zu müssen. Wir sehen, dass der Herr den Spott dieser Menschen nicht weiter beachtete. Er selbst wird zum Handelnden und vollendet das Werk.

Der Tod des Herrn

Dafür aber war es nötig, dass Er noch starb: „Jesus aber schrie wieder mit lauter Stimme und gab den Geist auf.“ Durch die Stärke seiner Stimme bezeugte unser Herrn, dass nicht die Schwere des Todes und der körperlichen Qualen Ihn erdrückte. Nein, Er gab selbst seinen Geist auf. Hier erfüllten sich, wenn Matthäus das auch nicht betont, die Worte unseres Herrn, die wir in Johannes 10,17.18 lesen. Nur Er – kein anderer Mensch – hat das Recht und die Autorität, seinen Geist aufzugeben und damit sein Leben selbst hinzugeben. Bei jedem anderen ist das Selbstmord, eine schlimme Sünde, in der sich der Mensch zum Schöpfer aufspielt. Nicht so bei unserem Herrn. Denn Er hatte von seinem Vater das Gebot erhalten, sein Leben freiwillig zu geben (Joh 10,17.18).

Wir wollen noch einmal daran denken, dass unser Herr Mensch wurde, damit Er sterben konnte. Und doch wird in jeder Situation seines Lebens deutlich gezeigt, dass Er zugleich der Schöpfer ist, der Macht über das Leben in sich selbst besitzt. Er hätte diesen Menschen den Lebensodem wegnehmen können. Er hätte die Welt sofort richten können. Er hätte das Universum sofort zusammenfalten können. Er hat es nicht getan. Stattdessen hat Er sein Leben hingegeben. Das schildert Matthäus in sehr kurzen Worten. Er spricht nicht wie Johannes davon, dass Er das Haupt neigte und den Geist aktiv übergab (Joh 19,30). Markus (Mk 15,37) und Lukas (Lk 23,46) sagen, dass Er verschied.

Bei Matthäus geht es vor allem darum, dass Er in der vollen Kraft seines Lebens in den Tod ging. Er starb wirklich. Er gab sein Leben trotz der furchtbaren Qualen, die Er vollständig empfand, in der ganzen Majestät und Kraft, die Gott Ihm gegeben hat. Dennoch ist es auffällig, dass keiner der Evangelisten im Blick auf das Kreuz den Ausdruck „starb“ (sterben) verwendet. Denn unser Herr starb keines natürlichen Todes. Er ist nicht an den Drangsalen des Kreuzes zugrunde gegangen. Er hat sein Leben selbst, freiwillig, aktiv in den Tod gegeben.

Daher finden wir hier ein zweites Mal die laute Stimme Jesu. Zuerst am Ende der drei Stunden, jetzt noch einmal. Er ist nicht an Schwäche gestorben. Es gab kein Zeichen oder Beweis von tödlicher Erschöpfung, so ermüdend und furchtbar die Qualen auch waren. Sie sind nicht spurlos an Ihm vorübergegangen. Aber sein Leben wurde nicht von Ihm genommen, Er gab sein Leben, Er legte es selbst dar. Der König selbst gab seinen Geist auf, als der Moment dafür gekommen war. Wir bewundern Ihn auch in dieser Hingabe, bis in den Tod.

Was bedeutete es für Ihn, der das Leben ist, in den Tod zu gehen, seinen Geist aufzugeben, sein Leben aufzugeben? Wir haben in Matthäus 13 gesehen, dass der Kaufmann alles, was er besaß, verkaufte, um die Perle zu besitzen. So hat der Herr Jesus jedes Recht, das Er besaß, aufgegeben. Er tat es, um sein Volk Israel, um jeden einzelnen Gläubigen, um die Versammlung, um die Nationen zu erwerben. Aufgeben bedeutete für Ihn: seine Rechte als Messias, seine Anrechte als Sohn des Menschen, auf seine Rechte als König, als Sohn Gottes zu verzichten. Es bedeutete zu sterben.

Die Auswirkungen des Todes

Der Tod des Herrn war übernatürlich. Auch die dann folgenden Zeichen waren übernatürliche Zeichen. Sie offenbarten sowohl das, was der Tod bedeutete, also auch die Macht des Todes. Die Auswirkungen und Zeichen sind vielfältig, gewaltig und weitreichend. Immer dann, wenn der Herr Jesus sich in besonderer Weise gedemütigt hat, gab Gott öffentlich sichtbare Zeichen. Das finden wir bei seiner Taufe am Jordan, als Er sich mit dem bußfertigen Überrest einsmachte. Der Vater tat kund, dass nur der Herr sein geliebter Sohn ist, auch als Petrus den Herrn auf die Stufe von Mose und Elia stellte. Das Gleiche trat beim Ritt Jesu nach Jerusalem ein. Der Herr wählte kein majestätisches Streitross, sondern eine Eselin, um in die Stadt zu reiten. Gott wirkte daraufhin in den Menschen, Ihm ein Hosanna zuzurufen.

Dasselbe gilt auch hier: Christus hat sich so sehr erniedrigt, dass Er sogar an das Fluchholz gegangen und gestorben ist. Die Antwort Gottes lässt nicht lange auf sich warten. Und sie fällt gewaltig sowie vielfältig aus. Wir sehen uns diese gewaltigen Auswirkungen der Reihe nach an.

1. Zerreisen des Vorhangs des Tempels: freier Zugang in die Gegenwart Gottes ist frei

Als der Ruf Jesu – nicht der Ruf eines Todeskampfes – ertönte, zerriss der Vorhang des Tempels. Was für ein Beweis des Sieges des Herrn! Gott hat sein Werk angenommen. Der Vorhang, der zerriss, war der innere des Tempels, der das Heilige vom Allerheiligsten trennte (2. Mo 26,31 ff.; 2. Chr 3,14). Es war kein Erdbeben, das den Vorhang zerriss, sondern die Macht Gottes. Der Riss ging von oben nach unten. Lukas sagt: Er riss „mitten entzwei“. So hätte kein Mensch geschnitten. Er hätte von unten angefangen. Nein, Gott selbst bewies, dass Er am Werk war.

Es ist wichtig, gut zu verstehen, dass, während Christus lebte, der Vorhang noch da war. Das gilt auch für die Zeit, die Jesus am Kreuz hing. Erst sein Tod hat den Weg freigemacht zu Gott. Was war das für ein Zeichen an das ritualistische Judentum, denn was machten sie jetzt im Tempel? Sie konnten nicht mehr hineingehen in die Herrlichkeit Gottes! Wir müssen dabei bedenken, dass gerade zur neunten Stunde das Abendopfer und das Abendräucherwerk gebracht wurde. Es müssen also genau zu dieser Zeit Priester im Heiligtum gestanden haben. Was werden sie erschrocken gewesen und geflüchtet sein. Auf einmal sahen sie die Bundeslade (wenn denn eine dort gestanden hat). Jedenfalls sahen sie in das Allerheiligste, vermutlich in einen leeren Raum hinein. Menschen unter Gesetz direkt vor dem Thron Gottes – das musste größte Panik auslösen.

Es ist interessant, dass Josephus, der jüdische Geschichtsschreiber, später davon berichtet, dass zur Zeit des Passahfestes folgendes passierte: „Die Osttür des inneren Heiligtums, die, ganz von Erz und ungeheurem Gewicht, gegen Abend von 20 Männern nur mit Mühe geschlossen wurde und mit eisernen Querriegeln gesichert und mit tief in die aus einem Stück bestehende Schwelle eingelassenen Längsriegeln versehen war, sprang des Nachts, etwa um die sechste Stunde, von selber auf.“ Im Talmud kann man zudem lesen, das bereits 40 Jahre vor der Zerstörung des Tempels eines Nachts die Türen des Tempels von selbst aufsprangen. Im Talmud heißt es dann weiter: „Rabbi Johanan ben Zakkai sagte: Tempel, warum erschreckst du uns? Wir wissen, dass dein Ende Zerstörung ist.“ Anscheinend betrachteten die Juden diese bemerkenswerten Umstände als Zeichen der nahen Tempelzerstörung. Natürlich wissen wir, dass der Vorhang zerriss, so sagt es Gott. Inwiefern eine solche zusätzliche Sache passierte, müssen wir offenlassen.

Was das Zerreißen des Vorhangs betrifft, muss man Folgendes bedenken: Nur einmal im Jahr durfte der Hohepriester am Sühnungstag in das Allerheiligste. Ob dies zur Zeit Jesu, wo vermutlich keine Bundeslade im Allerheiligsten stand, noch so getan wurde, wissen wir aus der Schrift nicht.

Damit brach Gott ein altes System vollständig ab – das jüdische. Stattdessen errichtete Er einen ganz neuen Weg zu sich. Bislang konnte der Mensch nicht zu Gott kommen. Jetzt aber war dieser Weg frei, durch den zerrissenen Vorhang hin. Die erste Antwort Gottes auf den Tod seines Messias ist also, dass Er einen Weg öffnet, damit der Mensch zu Ihm kommen kann. Wir wissen aus anderen Stellen, dass es dafür nötig ist, von seinen Sünden gewaschen zu sein. Man benötigt die Vergebung der Sünden und ein neues Leben, das in Übereinstimmung mit Gott selbst ist. Johannes nennt es immer wieder „ewiges Leben“. So bekommt der Gläubige das Recht, in die glückselige Gegenwart Gottes treten zu können, von der er bis jetzt durch den Vorhang getrennt war. Die gewaltige Bedeutung dieses Schrittes erklärt der Heilige Geist in Hebräer 9,8 und Hebräer 10,19-22.

Gott, der stets hinter dem Vorhang verborgen gewesen war, enthüllte sich auf der Grundlage des Todes Jesu in wunderbarer Weise. Der Weg zum Allerheiligsten ist jetzt nicht nur offen, sondern auch offenbart. Das geschah in dem Herrn Jesus, der die Offenbarung Gottes ist (Joh 1,18). Gott wurde gerade am Kreuz von Golgatha in seinem Wesen der Liebe und des Lichts sichtbar.

Das ganze jüdische System, das Prinzip gesetzlicher Rechtfertigung, das Testen des verantwortlichen Menschen: All das wurde durch das Zerreißen des Vorhangs einem Ende zugeführt. Das zeremonielle Gesetz hatte seine Erfüllung in Christus und seinem Werk gefunden. Jeder, der jetzt in den Tempel ging, befand sich direkt vor dem Angesicht Gottes, ohne dass ihn ein Vorhang noch von Gott getrennt hätte. Für den Juden war das der Tod. Denn seine Sünden waren nicht vergeben. Das empfand der Jude auch, der von Anfang an die Gegenwart Gottes gefürchtet hat. Daher baten sie Mose, Mittler für sie zu sein (2. Mo 20,19). Für denjenigen aber, der sich auf die Gnade des Werkes Christi stützt, ist es christliche Freiheit, in die Gegenwart Gottes zu kommen. Er sieht in Christus die Offenbarung Gottes und hat in Ihm und durch Ihn Gemeinschaft mit Gott.

Das Zerreißen des Vorhangs symbolisiert zugleich das Hinwegtun der Sünde. Wegen unserer Sünden war es für uns unmöglich, in der Gegenwart Gottes zu stehen. Der heilige Gott und der von seinen Sünden gereinigte Gläubige sind durch den Tod Christi zusammengebracht worden.

Allerdings bedeutete das Zerreißen des Vorhangs auch, dass die Sünde des Menschen ihren Höhepunkt erreicht hatte in dem Umbringen des Königs, des Sohnes Gottes. Denn das Zerreißen ist eine Gerichtshandlung Gottes an seinem Volk, dass seinen Sohn ans Kreuz gebracht hat. Der Mensch auf der Erde hatte Gott für immer verloren, wenn er Jesus nicht als Retter annahm. Selbst unter den besten Voraussetzungen hatte der Mensch bewiesen, dass er sich gegen Gott stellte. Das einzige Volk, das Gott aus Liebe auserwählt hatte, hat seinen eigenen Gott in Person des Menschen Jesus Christus beseitigen wollen.

Zugleich aber war jetzt zum ersten Mal der Weg in das Allerheiligste sozusagen frei. Es gab kein Hindernis mehr, dort hineinzugehen. Zwar war das Neue, was Gott in seinem Herzen hatte, noch nicht eingeführt worden. Aber das Alte war endgültig vergangen. Damit zeigte der Herr einen neuen Weg, auch wenn Er ihn noch nicht eingeweiht und verkündigt hatte. Dazu musste Er als Mensch zunächst verherrlicht in den Himmel eingehen. Aber auch das würde nur wenige Tage später passieren. Dann würde nicht nur Christus im Himmel sein, sondern der Heilige Geist auf die Erde kommen und die Versammlung bilden. Das aber geht über die Botschaft von Matthäus hinaus...

Ausleger denken, dass dieses Wunder vielleicht mit dazu beigetragen hat, dass sich so viele Priester in Jerusalem bekehrt haben (vgl. Apg 6,7). Zudem möchte ich noch auf einen weiteren wichtigen Punkt hinweisen: Der Vorhang zerriss nicht erst, als Christus auferstanden war. Er zerriss mit seinem Tod. Für uns Christen ist es bedeutsam zu wissen, dass der Herr auferstanden ist. Dennoch bleibt wahr, dass sein Erlösungswerk als solches schon mit seinem Tod vollbracht und abgeschlossen war. Alle Segensergebnisse basieren auf seinem Tod, obwohl wir nur durch seine Auferweckung aus den Toten um unsere Rechtfertigung wissen. Denn diese gibt den unwiderlegbaren Beweis, dass Gott sein Werk angenommen hat und Ihn als Antwort auf dieses Werk auferweckt hat (Röm 4,25).

2. Erbeben der Erde und Reißen der  Felsen: freigemachte erste Schöpfung

Die erste und wichtigste Folge des Todes Christi ist der neue Zugang zu Gott, der dem Menschen jetzt offensteht. Als zweite Folge werden uns Auswirkungen auf die gesamte materielle Schöpfung gezeigt. Dieser Punkt ist nicht unwichtig. Aus Römer 8 wissen wir, dass die ganze Natur in Geburtswehen liegt (Röm 8,22). Sie leidet unter den Folgen der Sünde.

Aus Johannes 1,29 lernen wir, dass der Herr Jesus durch sein Werk die Sünde aus dem ganzen Universum vertreiben wird. Grundlage auch dafür ist sein Werk. Aus Kolosser 1,20 lernen wir, dass durch Christus und sein Werk „alle Dinge mit Gott versöhnt wurden – indem er Frieden gemacht hat durch das Blut seines Kreuzes –, durch ihn, es seien die Dinge auf der Erde oder die Dinge in den Himmeln.“ Was für eine gewaltige Auswirkung des Werkes des Herrn, dass die ganze Schöpfung freigemacht wird von den Folgen der Sünde (Röm 8,21). Die Grundlage dafür ist der Tod des Herrn. Das gibt uns ein breites Bild von der Größe seines Werkes.

Wir müssen bedenken, dass Satan sich das Recht an dieser Schöpfung widerrechtlich angeeignet hat. Eigentlich war Adam der Erbe der Erde. Ihm war in 1. Mose 2 die Aufsicht und Verwaltung der Erde anvertraut worden. Nach seinem Fall aber hat sich Satan diese Autorität angemaßt. Daher konnte er dem Herrn in der dritten Versuchung (vgl. Mt 4,9) auch alle Reiche der Erde anbieten. Der Tod des Herrn aber offenbart: Der Gott und Fürst dieser Welt hat diese Autorität nicht mehr. Auch die (erste) Schöpfung gehört wieder allein dem Herrn Jesus. Er musste sich dieses Recht zurückkaufen. Auch dafür musste Er am Kreuz sterben.

Noch ein letzter Punkt zu diesem Thema: Die Felsen zerrissen nicht, weil der Herr in den Hades, das Totenreich ging. Nein, unabhängig davon, dass der Herr in seinem Gespräch mit dem Räuber diesen Ort „Paradies“ nennt, war das nicht die Ursache für dieses Wunder. Sein Tod bewirkt die Heilung auch der ersten Schöpfung. Das Werk des Herrn hat enorme Auswirkungen: Darum geht es dem Geist Gottes in diesen Versen.

3. Geöffnete Grüfte und Auferweckung entschlafener Heiliger

Die erste Auswirkung des Todes Christi hatte mit der Gegenwart Gottes zu tun. Nur die Priester sahen das Zerreißen des Vorhangs. Bei der zweiten Folge seines Todes stand die Schöpfung Gottes im Mittelpunkt. Alle bekamen das mit. Die dritte Konsequenz dagegen war nur für die Augen wahrer Gläubiger bestimmt.

Auch dieser Punkt ist von großartiger Tragweite. Die Leiber entschlafener Heiliger wurden auferweckt. Das ist nichts anderes als das Zeichen, dass der Tod besiegt ist (vgl. Heb 2,14). Die Auferstehung der Toten zeigt die Wirkung des Todes Christi für Sünder, die Ihn als Retter annehmen. Satan, der König der Schrecken, hat seit dem Tod Jesu keine Anrechte mehr an dem Tod und an Sündern. Er ist von Christus überwunden worden und seine Macht des Todes gebrochen. Hierbei hat nicht nur der Tod Jesu seine Bedeutung, sondern auch seine Auferstehung. Denn es ist die einzigartige Kraft seiner Auferstehung (vgl. Eph 1,19.20), die in diesen Versen erwähnt wird. Die Kraft, die uns als Erlöste nach Epheser 1 geistlicherweise auferweckt hat, ist keine andere Kraft als diejenige, die Ihn aus den Toten auferweckte. Wir sehen somit, dass nicht nur das System der Juden aufgelöst wurde, sondern auch die Macht des Todes zerstört wurde. Diese Auferstehung der Heiligen ganz am Anfang ist im Übrigen ein direkter Hinweis auf die Auferstehung, die mit der Entrückung der Gläubigen vollzogen werden wird (vgl. 1. Kor 15,52).

Was für eine Offenbarung triumphierender Macht über den Tod finden wir in diesen Auferstehungen. Menschen kamen plötzlich und zum ersten Mal aus dem Machtbereich des Todes hervor und erlebten die Auferstehung. Sie waren jetzt fähig, vor Gott in Auferstehung zu erscheinen.

Wir kennen aus dem Leben des Herrn die Auferstehungen der Tochter des Jairus, des Sohns der Witwe in Nain oder von Lazarus. Diese Auferweckungen hatte der Herr vor seinem Tod bewirken können kraft seiner göttlichen Macht. Diese drei Menschen mussten wieder sterben und wurden daher auch wieder begraben. Wie ist das nun im Blick auf die Heiligen, die in unserem Vers erwähnt werden? Der Hinweis, dass sie erst nach der Auferstehung Jesu aus ihren Gräbern kamen und somit auferweckt wurden, könnte andeuten, dass es sich hier um eine andere Art von Auferweckung handelt. Warum musste der Herr in diesem Fall zuerst auferstehen, bevor diese aus den Grüften hervorkommen und in die Stadt gehen konnten? Es ist ein Hinweis darauf, dass die Auferstehung, die in Offenbarung 20,5.6 „erste Auferstehung“ genannt wird, eine segensreiche Folge der Auferstehung Christi ist. Er ist der Erstling der Entschlafenen (1. Kor 15,20), und es gibt andere, die Ihm nachfolgen.

Die Ausdrucksweise, dass sie „vielen erschienen“ könnte andeuten, dass sie wie der Herr Jesus später einen Auferstehungsleib bekamen, in dem sie anderen erschienen. Wenn dieses Wort „erscheinen“ bzw. „offenbaren“ vom Herrn Jesus benutzt wird, hat es immer mit dem Auferstandenen zu tun (vgl. Joh 14,21.22; Heb 9,24). Die Ausdrucksweise „entschlafene Heilige“ könnte ebenfalls darauf hindeuten, dass sie eine besondere Verherrlichung des Herrn als Heilige waren, die zu seiner Auferstehungswelt gehören. Es waren ausschließlich Gläubige, die auferweckt wurden und wie der auferstandene Christus anderen erschienen.

Diese Auferstandenen konnten dem Herrn Jesus nicht zuvorkommen, was ihre Auferstehung betrifft. Er ist der Erstling (1. Kor 15,20), der Erstgeborene aus den Toten (vgl. Kol 1,18). Daher war es unmöglich, dass diese Gläubigen vor dem dritten Tag auferstanden. Warum aber wird die Tatsache ihrer Auferweckung hier erwähnt und nicht erst in Kapitel 28, wo sie historisch hingehört? Die Antwort ist: Diese Auferweckungen sind nicht das Ergebnis seiner Auferweckung, sondern seines großen Werkes am Kreuz. Es geht um die Wirkung des Todes unseres Retters. Der Tod hat seinen Sieg und seinen Stachel verloren. Er ist in Sieg verschlungen worden (vgl. 1. Kor 15,54-57), und zwar nicht erst durch die Auferstehung, sondern bereits durch den Tod des Herrn. Aber für die Auferstehung der Gläubigen ist es nötig, dass diese Kraft sich zunächst bei dem Urheber ihrer Errettung zeigte. So musste der Herr als Erster auferweckt werden.

Durch seinen Tod wurde die Auferstehung möglich. So ist die Auferstehung dieser Leiber der entschlafenen Heiligen vielleicht eine feierliche und herrliche Einleitung der ersten Auferstehung. Diese nahm ihren Anfang mit dem Herrn und wird bald für viele andere Wirklichkeit werden.

Bevor ich weitergehe, möchte ich noch auf einen eigentümlichen Ausdruck hinweisen: Sie „gingen in die heilige Stadt“. In den Augen Gottes ist Jerusalem trotz der Verwerfung seines Messias immer noch die heilige Stadt. Auch wenn diese Stadt durch das Gericht Gottes zerstört werden sollte, hatte Gott eine besondere Beziehung zu ihr. Selbst in Römer 11,1 ist noch davon die Rede, dass Gott sein Volk heute sieht – Israel, obwohl sie verworfen sind (Röm 11,15). Diese Stadt mag für einen Augenblick vergessen und unter den Füßen der Heiden zertrampelt worden sein. Aber das Auge Gottes erkennt sie als heilige Stadt an. Für Ihn ist und bleibt sie immer die heilige Stadt. Er hat Jerusalem erwählt und bleibt dabei. Auch unser Glaube denkt und spricht immer so.

4. Bekenntnis des Sohnes Gottes durch den Hauptmann: Bekehrung der Heiden

Wir haben gesehen, dass der Tod als Feind besiegt worden ist und der Zugang zu Gott durch den Tod Christi offen wurde. Seine erste Schöpfung stellt Gott auf der Grundlage des Erlösungswerkes Christi wieder her. Aber der Tod Jesu ist zugleich die Grundlage für die neue, die zweite Schöpfung, deren Eingangstor die Auferstehung ist. Der Herr Jesus selbst ist der Anfang der neuen Schöpfung (Kol 1,18; Off 3,14). Wie im Blick auf die erste Schöpfung ist Er keineswegs „Geschöpf“. Aber durch seine Auferstehung hat die neue Schöpfung ihren Anfang genommen. Damit Er in dieser Neuschöpfung nicht allein bleibt, müssen sich Menschen bekehren. Und das ist die vierte Folge des Todes Christi: Menschen, hier sogar heidnische Menschen, können zu Gott finden.

Am Fuß des Kreuzes hatte der Hauptmann seine Soldaten befehligt. Er war für die Kreuzigungsprozedur verantwortlich, auch für die raue Behandlung Jesu. Aber anscheinend konnte er seine Augen nicht von dem Mann am Kreuz wegwenden. So bezeugt er zusammen mit denen, die Jesus ebenfalls bewachten, als weiterer Zeuge die Unschuld Christi. Ja noch mehr, er spricht ein wunderbares Zeugnis über Christus aus: „Wahrhaftig, dieser war Gottes Sohn!“

Die heidnischen Menschen hatten das hingebungsvolle Leiden Jesu gesehen. Lukas spricht davon, dass die Volksmengen diesem „Schauspiel“ beigewohnt haben. Als solches sahen sie das Ganze an. Aber sie zogen keine solche Konsequenz wie dieser Mann und seine Mitwachen. Denn auch von ihnen bezeugt der Heilige Geist, dass sie die Größe Jesu bezeugten. Sie hatten nach den Leiden den lauten Schrei gehört, was sie noch nie bei einer Kreuzigung erlebt hatten. Normal war es, dass die Gekreuzigten selbst zunächst viel lästerten, wie hier die Räuber am Kreuz. Wegen der Kreuzesqualen aber konnte – früher oder später – niemand viel mehr als ein Stöhnen hervorbringen.

Dieser Mann am Kreuz aber, den sie jetzt vor sich sahen, hatte vorher geschwiegen. Und dann war Er viel schneller gestorben, als man das gewohnt war. Zudem hatte Er zum Schluss einen Schrei ausgerufen. Das war seltsam, ja übernatürlich. Dann sahen sie noch das Erdbeben nach seinem Tod. Das rief zweifellos tiefe Furcht bei ihnen hervor, aber auch das Bekenntnis über seine Person.

Sie sprechen nicht von einem angelernten Wissen aus, dass Christus „der Sohn Gottes“ ist. Auf jeden Fall spüren sie, dass Er mehr ist als ein normaler Mensch. Er muss Gottes Sohn sein. Seine göttlichen Eigenschaften haben sie erlebt.

So haben wir hier einen vierten Akt: Menschen können umkehren und sich bekehren. Nicht, dass wir definitiv sagen könnten, dass der Hauptmann sich hier bekehrte. Dazu sind die Hinweise zu kurz. Aber er ist hier ein Bild dieser Gruppe aus den Nationen, die sich zu Jesus Christus bekehren würden.

Dieser Mann spricht die Wahrheit über den Herrn Jesus aus, die dessen eigenes Volk leugnete und noch immer leugnet. Aus Johannes 19,7 wissen wir, dass gerade die Tatsache, dass Er von sich als vom Sohn Gottes gesprochen hat, als Todesursache festgelegt worden war. In den Evangelien nach Markus und Lukas ist es nur der Hauptmann, der den Herrn in seiner Herrlichkeit bezeugt. Hier jedoch handelt es sich um eine ganze Anzahl von Menschen. Die von ihnen gesprochenen Worte kamen nicht von den Lippen der Juden. Was für ein prophetischer Hinweis. Von nun an wären es nicht Juden, sondern gerade Heiden, die an Ihn glauben würden. Das Volk der Juden lehnte seinen Messias weiterhin ab. Schon am Anfang dieses Evangeliums haben wir gelesen: „Denn ich sage euch, dass Gott dem Abraham aus diesen Steinen Kinder zu erwecken vermag“ (Mt 3,9). Das wird hier noch einmal bestätigt.

Zudem greife ich noch einmal den Hinweis auf, dass die Soldaten nach Kapitel 27,35 die Kleider des Herrn verteilt haben. Hier wird deutlich, dass sie – symbolisch gesprochen – durch ihre Bekehrung Christus anzogen (vgl. Kol 3,9.10.12 ff.).

Schließlich erinnere ich daran, dass Matthäus uns die verschiedenen Haushaltungen vorstellt. Diese Heiden sind in diesem Sinn Repräsentanten der Versammlung, die aus Heiden und Juden bestehen würde. Das Besondere ist, dass Menschen aus den Heiden gerettet werden, um zu der Versammlung Gottes zu gehören. Der Hauptmann und seine Kollegen sind ein schönes Vorbild darauf. Es könnten sich auch Juden zu den Bewachern gesellt haben. So besteht die Versammlung bis heute aus Menschen, die aus diesen beiden Personengruppen stammen.

5. Die Frauen am Kreuz: Der Herr hat Hoffnung für die jüdischen Übriggebliebenen

Am Schluss dieses Abschnittes finden wir dann noch einen Hinweis auf die jüdischen Übriggebliebenen. Von ihnen wird hier nichts weiter gesagt als nur, dass sie Jesus von Galiläa nachgefolgt waren. Was für eine Hingabe, dass sie im Gegensatz zu den Jüngern hier am Kreuz ausgeharrt haben. Zunächst ist von vielen Frauen die Rede. Der Geist Gottes nennt ihre Namen nicht, aber Er vergisst niemanden, der sich auf die Seite des Herrn stellte. Dann aber werden drei oder vier Frauen konkret genannt, die in besonderer Weise ein Herz für den Herrn hatten.

So werden in Zukunft auch manche Gläubige aus dem Judentum auf den Herrn Jesus warten, um Ihm zu Füßen zu liegen und zu dienen. Das war ganz am Anfang der Christenheit der Überrest für den Herrn. Am Ende der Tage, wenn die Versammlung entrückt sein wird, wird es erneut solche Übriggebliebene geben. Auch sie gehören zu Christus auf der Grundlage seines vollbrachten Werkes.

Es ist sehr auffallend, was für eine Vorrangstellung die Frauen in dieser Schlussbegebenheit der Leiden, des Sterbens und der Auferstehung des Herrn einnehmen. Wenn wir Männer es an Mut und Hingabe fehlen lassen, dient das zu unserer Beschämung. Immer wieder sehen wir, dass Frauen diesen Mangel ausfüllen. Die Jünger waren verschwunden, aber viele Frauen hielten sich in der Nähe des Kreuzes auf.

Der Mann hat die Aufgabe, dem Herrn in der Öffentlichkeit zu dienen, wie wir es im Neuen Testament immer wieder lesen. Aber was die persönliche und liebevolle Hingabe an Christus innerhalb des christlichen Lebens betrifft, so finden wir immer wieder gerade Frauen. Die Hingabe im Dienst ist vielleicht das Teil der Männer. Aber der „Instinkt“ der Liebe ist das, was inniger in die Stellung Jesu eingeht. Auf diese Weise stehen gläubige Frauen in unmittelbarer Verbindung mit den Gefühlen des Herrn und in engerer Gemeinschaft mit den Leiden seines Herzens. Gott kann das auch von uns Männern erwarten. Aber es bleibt doch ein Vorrecht von gläubigen Frauen, diese besondere Wertschätzung für den Herrn und seine Empfindungen aufzubringen.

Wer waren diese Frauen? Maria Magdalene tritt besonders in Verbindung mit der Auferstehung Jesu ins Licht. Sie liebte ihren Herrn so sehr, dass sie Ihn nicht einfach lassen konnte. So offenbart sich der Auferstandene vor allen anderen Menschen dieser gläubigen Frau (Joh 20). Sie hatte Ihn als ihren Retter bereits erlebt, denn Er hatte sieben Dämonen von ihr ausgetrieben (Lk 8,2).

Dann haben wir noch die Mutter der Söhne des Zebedäus, also von Jakobus und Johannes (vgl. Mt 20,20 ff.). In Markus 15,40 wird eine am Kreuz anwesende Frau Salome genannt – das könnte die Mutter von Johannes und Jakobus sein.

Schließlich wird mit Maria, der Mutter des Jakobus und Joses eine dritte Frau genannt, die wir nicht weiter kennen. Möglicherweise ist sie identisch mit der Frau des Kleopas, die Johannes nennt (Joh 19,25). Ihre Söhne wären dann Jakobus der Kleine (vgl. Mk 15,40) und Joses. Jakobus wird hier vermutlich von Jakobus, dem Bruder des Johannes, unterschieden.

Verse 57–61: Das Begräbnis Jesu

„Als es aber Abend geworden war, kam ein reicher Mann von Arimathia, mit Namen Joseph, der auch selbst ein Jünger Jesu geworden war. Dieser ging hin zu Pilatus und bat um den Leib Jesu. Da befahl Pilatus, dass er ihm übergeben würde. Und Joseph nahm den Leib und wickelte ihn in reines, feines Leinentuch und legte ihn in seine neue Gruft, die er in dem Felsen hatte aushauen lassen; und er wälzte einen großen Stein an den Eingang der Gruft und ging weg. Es waren aber Maria Magdalene und die andere Maria dort und saßen dem Grab gegenüber.“ (Verse 57–61).

„Als es aber Abend geworden war“: Für die Juden war es wichtig, dass ein Toter nicht über Nacht und erst recht nicht in einen Sabbat hinein am Holz hing (vgl. 5. Mo 21,22.23). Matthäus muss das im Unterschied zu Johannes nicht weiter erläutern, weil seine Adressaten diesen Umstand sehr gut kannten. Weil nun der Abend anbrach und damit sogar ein großer Sabbat in Verbindung stand (vgl. Joh 19,31), da das Fest der ungesäuerten Brote begann, musste schnell gehandelt werden.

Gott hatte es nach dem Tod und dem Speerstich des einen Soldaten verhindert, dass noch weitere Grausamkeiten an dem Leib seines Geliebten getan werden konnten. Es war unter den Römern durchaus üblich, die Körper von Gekreuzigten am Holz hängen zu lassen und dem Fraß der Vögel zu überlassen. Die Kreuzigung war ja keine jüdische, sondern eine römische Einrichtung. Dieser Raubzug der Vögel konnte sehr schnell gehen. Gott aber ließ es nicht zu. Denn dort am Kreuz hing Derjenige, der im Mittelpunkt seiner Gedanken steht.

Sicher zum Erstaunen von Pilatus kam jetzt der gut bekannte, prominente und reiche Joseph von Arimathia11, um den Leib zu erbitten. Normalerweise wurden dann die Überreste der Gekreuzigten, soweit sie noch vorhanden waren, in die allgemeinen Gräber der Straftäter geworfen. Aber offenbar hatte dieser Eine doch einen besonderen Eindruck auf Pilatus gemacht. Pilatus war sicher nicht bei der Kreuzigung zugegen. Jedenfalls lesen wir nichts davon. Aber das Verhör hatte seine Spuren hinterlassen. Und sicher wurde Pilatus auch von der Art berichtet, in welcher unser Herr die Kreuzigung ertrug.

Nun gestattete der römische Statthalter Joseph von Arimathia, den Leib Jesu abzunehmen. Dass Er so schnell gestorben war, erstaunte Pilatus sehr. Wir haben gesehen, dass sich eine Kreuzigung normalerweise über mehrere Tage hinzog. Deshalb erfragte Pilatus vom Hauptmann, was passiert war (Mk 15,44). Ob ihm dieser gesagt hat, was er selbst bei diesem Tod empfunden hat?

Joseph von Arimathia ist ein Mann, von dem wir vorher nie etwas gehört haben. Sein Handeln war jedoch so eindrucksvoll in Gottes Augen, dass Er in allen vier Evangelien über ihn selbst und über sein Handeln berichtet. Dabei fügt jeder Evangelist eine Besonderheit hinzu, die in keinem der anderen Evangelien steht. Wir können hinzufügen: Das Handeln dieses Mannes ist eine weitere Auswirkung des Todes Christi.

6. Joseph von Arimathia als Jünger Jesu: ruf in die Nachfolge des Herrn.

Wir müssen uns die Situation vorstellen: Unser Herr Jesus Christus ist gestorben. Von Johannes wissen wir, dass man den beiden Räubern um Ihn herum die Beine gebrochen hatte, damit sie nicht tagelang mit dem Tod rangen. Auch sie sollten vor dem Sabbat sterben. Denn sie mussten zuvor begraben werden. Sie waren daher nun ebenfalls tot. Normalerweise wären sie vor 18 Uhr schnell abgehängt und von irgendjemand in ein Massengrab geworfen worden. Die Volksmengen hatten sich verlaufen, denn ihr Schauspiel war zu Ende gegangen. So kümmerte sich zunächst niemand um die Toten.

Keiner? Doch, Gott sah das alles. Und das Werk am Kreuz hatte nicht nur

  1. die erste Schöpfung beeinflusst,
  2. den Weg zur zweiten Schöpfung geöffnet,
  3. Menschen den Zugang zu Gott geöffnet,
  4. heidnischen Menschen die Möglichkeit zur Rettung gegeben und auch
  5. für die gläubigen Übriggebliebenen einen Weg freigemacht.

Auf der Grundlage des Erlösungswerkes bildete Gott nun auch Jünger heran, die dem Herrn Jesus nachfolgen sollten.

Um das Kreuz war es still geworden. Da trat auf einmal ein Mann hervor, der vorher nicht aufgefallen war, obwohl er Teil des Synedriums war, das den Herrn Jesus zum Tod verurteilte hatte (vgl. Mk 15,43). Er selbst hatte diese Entscheidung nicht mitgetragen (Lk 23,51). Joseph besaß den Mut, sich mit dem gestorbenen Christus einszumachen. Darf man nicht sagen: Joseph wurde in diese Welt hineingeboren, gerade für diesen Augenblick, um diese eine kurze Prophetie in Jesaja 53,9 zu erfüllen? „Man hat sein Grab bei Gottlosen bestimmt; aber bei einem Reichen ist er gewesen in seinem Tod, weil er kein Unrecht begangen hat und kein Trug in seinem Mund gewesen ist.“ Der Herr besaß nicht einmal das Geld, um die Tempelsteuer zu bezahlen (Mt 17,27). Er war bei seiner Geburt in die ärmlichen Verhältnisse von Joseph und Maria eingetreten. Aber bei seinem Tod hat Gott, sein Vater, seinen Platz bei einem Reichen ausgewählt. Da sein Sohn bereit war, in seinem Leben äußerlich arm zu sein, hat Gott eine großartige Antwort auf diese Demut gegeben. Er bettete seinen Christus in seinem Tod bei einem Reichen.

Von den elf Jüngern lesen wir nichts mehr. Johannes berichtet als Einziger, dass ein zweiter verborgener Jünger Jesu, Nikodemus, auftauchte und sich mit Joseph einsmachte. Die beiden dürften sich aus dem Rat der Juden gekannt haben. Die elf Jünger des Herrn jedoch hatten offenbar keine Glaubensenergie. Von ihnen hören wir nichts. Im Gegensatz dazu stehen die zwei Frauen, von denen wir nicht nur in den Versen 55.56, sondern auch noch in Vers 61 lesen. Aber Gott bereitet Joseph zu, den Dienst der Grablegung an seinem Meister zu vollziehen. Wir bewundern seine Kühnheit, die in Kauf nahm, von seinen „Kollegen“ verlacht zu werden. Er musste sogar damit rechnen, selbst getötet zu werden, da er sich auf die Seite eines Gekreuzigten stellte. Jemand schreibt zu dieser Handlung: In Wahrheit begrub Joseph sich selbst in sozialer, wirtschaftlicher und religiöser Hinsicht, als er den Leib Jesu beisetzte. Diese Handlung trennte ihn für immer von den Herrschenden, die den Herrn Jesus getötet hatten.

Genau das ist eine wichtige Folge des Todes des Herrn. Dieser verändert Menschen, die vielleicht schon vorher innerlich auf der Seite des Herrn standen. Aber durch seinen Tod hat Er Leben in Überfluss geschenkt (vgl. Joh 10,10). So werden sie in die Lage versetzt, sich über menschliche Bedenken hinwegzusetzen. Joseph wird zu einem sichtbaren Jünger Jesu. Der Ausdruck, dass er ein Jünger Jesu geworden war, ist charakteristisch für Matthäus. Drei der vier Vorkommen dieses griechischen Wortes „matheteuo“ finden wir bei Matthäus. In Kapitel 28,19 wird er ein drittes Mal aufgegriffen (auch Mt 13,52, Fußnote in der Elberfelder Übersetzung, Edition CSV Hückeswagen). Der Tod Christi macht zu wahren Jüngern.

Ist es eigentlich von ungefähr, dass die Kindheit des Herrn bei einem Joseph war, sein Tod aber wieder mit einem Joseph verbunden wurde? Wir haben schon bei Simon gesehen, dass Gott hier durch Namen bestimmte Handlungen miteinander verbindet. Gerade Matthäus tut das in seinem Evangelium immer wieder.

Joseph arbeitete sehr sorgfältig. Er nahm reines, feines Leinentuch, das zur Reinheit des Herrn passte. Nach Markus 15,46 hatte er dieses speziell für diesen Anlass gekauft, so dass es bei dem Herrn Jesus zum ersten (und einzigen) Mal verwendet wurde. In dieses Tuch wickelte Er den Leib Jesu. Dann legt er seinen Herrn in die Gruft, die er vermutlich für sich selbst vorgesehen hatte. Noch kein Mensch hatte darin gelegen. Diese Gruft hatte noch nie Verwesung gesehen. Wir denken an die Worte der Weissagung Davids: „Denn meine Seele wirst du dem Scheol nicht überlassen, wirst nicht zugeben, dass dein Frommer die Verwesung sehe“ (Ps 16,10). Dieser Vers wird später im Neuen Testament von Petrus und Paulus direkt auf den Herrn Jesus bezogen (vgl. Apg 2,27.31; 13,35-37).

Bei einem Menschen tritt mit dem Tod der Verwesungsvorgang ein. Nicht so bei Christus, denn Er war ohne Sünde; so war auch sein Körper nicht den natürlichen Verwesungsvorgängen ausgesetzt, die Folgen des Sündenfalls sind. Es ist auch bezeichnend, dass Matthäus nicht von einem toten Leib spricht, sondern vom „Leib Jesu“. Es ist seine Person, die in diese Gruft gelegt wurde, auch wenn der Herr selbst im Paradies war. So wollen auch wir Ehrfurcht vor dem Leib von Gestorbenen haben. Es war der Leib Jesu – kein bloß materieller Körper!

Aber nicht nur das: Gott hat auch dafür gesorgt, dass sein geliebter Sohn nicht in ein Grab hineinkam, wo es schon einmal Verwesungsvorgänge gegeben hat. Es war ein neues Grab, für das Joseph offenbar sogar schon den Verschlussstein präpariert hatte.

Die Gruft war in einem Felsen ausgehauen worden. Auch das zeigt noch einmal, dass der Herr nicht in ein „verwesliches Erdgrab“ kam, sondern in eine aus Stein gehauene Gruft. Erinnert uns diese Erwähnung aber nicht auch daran, dass Christus durch seinen Tod zum wahren Felsen geworden ist, auf dem die Versammlung ruht (vgl. Mt 16,18)?

Nachdem Joseph seine Arbeit verrichtet hatte, ging er weg. Der Geist Gottes hatte in Ihm gewirkt, dem Herrn ein ganz besonderes Geschenk zu machen – sein eigenes Grab zu geben. Jetzt war sein Auftrag erfüllt und er konnte weggehen. So hat Gott immer wieder Männer und Frauen, die genau für eine bestimmte, großartige Tat von Gott vorgesehen sind. Wenn sie diese in Treue erfüllt haben (vgl. Ananias in Apg 9,10 ff.), lässt der Herr sie gehen.

Aber es gibt auch Personen wie Maria Magdalene und die andere Maria. Sie liebten ihren Meister so, dass sie gewissermaßen nicht von Ihm weggehen konnten. Natürlich wissen wir, dass auch sie am Sabbat nicht am Grab bleiben konnten. Aber die Evangelisten und gerade Matthäus zeigen uns, wie sie nicht von ihrem Retter lassen. Sie waren im Unterschied zu den Jüngern am Kreuz zugegen (vgl. Mt 27,55.56; Joh 19,25). Sie waren dabei, als der Herr ins Grab gelegt wurde (Mk 15,47). Sie kamen direkt nach Beendigung des Sabbats am Samstagabend wieder zur Gruft (Mt 28,1). Schließlich waren sie auch am nächsten Morgen die ersten, die wieder hier waren (Mk 16,2).

Die Anhänglichkeit dieser Frauen an den Herrn ist rührend. Sie half ihnen, die Furcht zu überwinden, so dass sie bis zum Schluss sehen konnten, was aus ihrem Herrn werden würde. Was für Gedanken mussten dabei in den Herzen der Frauen aufsteigen! Sie waren dem Herrn nachgefolgt und hatten Ihm gedient. Sie waren Zeugen und Gegenstand seiner Macht und Gnade gewesen; Maria Magdalene hatte der Herr Jesus sogar von sieben Dämonen befreit (Mk 16,9). Nun waren sie auch noch Zeugen des schmerzlichen Abschlusses eines Lebens wunderbarer Tätigkeit. Nicht die Jünger sahen das, sondern diese schwachen Frauen! Was hat das für eine Botschaft für uns, die wir gläubige Männer sind. Wie leicht gehen wir gewissermaßen geschäftsmäßig mit der Person und den Leiden unseres Herrn um!

Diese Frauen hatten an Ihn als an ihren Messias geglaubt. Jetzt aber lag Er, der die Segnung für das Volk bringen sollte, unbeweglich in seinem Grab. Alles schien für sie zu einem Ende gekommen zu sein. Wir haben schon gesehen: Es war in der Tat für Gott das Ende des verlorenen und sündigen Menschen. Damit war es der Abschluss einer Zeitperiode, in der Gott von dem natürlichen Menschen vergeblich die Erfüllung des Gesetzes und Gehorsam verlangt hatte. Es war das Ende des jüdischen Volkes nach dem Fleisch. Aber diese Frauen wussten nichts von dieser Wahrheit. Eines aber wussten sie: dass sie ihren Retter liebten. So saßen sie dem Grab gegenüber und blieben dort, so lange es ihnen möglich war.

Verse 62–66: Die Wache am Grab Jesu – seine Feinde

„Am folgenden Tag aber, der nach dem Rüsttag ist, versammelten sich die Hohenpriester und die Pharisäer bei Pilatus und sprachen: Herr, wir haben uns erinnert, dass jener Verführer sagte, als er noch lebte: Nach drei Tagen stehe ich wieder auf. So befiehl nun, dass das Grab gesichert werde bis zum dritten Tag, damit nicht etwa seine Jünger kommen, ihn stehlen und dem Volk sagen: Er ist von den Toten auferstanden; und die letzte Verführung wird schlimmer sein als die erste. Pilatus sprach zu ihnen: Ihr habt eine Wache; geht hin, sichert es, so gut ihr könnt. Sie aber gingen hin, und nachdem sie den Stein versiegelt hatten, sicherten sie das Grab mit der Wache“ (Verse 62–66).

Was für ein Gegensatz offenbart sich, wenn wir Joseph von Arimathia mit den Hohenpriestern und Pharisäern vergleichen. Der eine ist bereit, seine eigene Gruft für den Herrn Jesus hinzugeben. Die anderen sind nicht einmal damit zufrieden, dass derjenige tot ist, den sie bis in den Tod gehasst und verfolgt haben.

Es mag eine gewisse Ironie in diesen Versen liegen. Man gewinnt fast den Eindruck, dass der Unglaube nicht einmal sich selbst vertraut. Er fürchtet, dass das von ihm Geleugnete doch wahr sein könnte. Das bedeutet in diesem Fall, dass Jesus doch in der Lage ist, wieder aufzuerstehen. Natürlich sprechen sie das so nicht aus. Sie erinnern daran, dass der Herr gesagt habe, er stehe nach drei Tagen wieder auf. Und das verbinden sie mit der Angst, dass seine Jünger ihn stehlen könnten, um das wahr erscheinen zu lassen. Stand dahinter nicht die Angst, Er könne wirklich auferstehen?

Die Frauen, die in den vorherigen Abschnitten vorgestellt wurden, hatten viel Hingabe, aber wenig Einsicht. Die erbittertsten Feinde Jesu waren erfüllt mit Hass. Aber sie waren nicht dumm. Sie hatten der Stimme Satans gut zugehört. Und auf diesem Weg gingen sie jetzt weiter. Gott ließ das zu, um das Wunder der Auferstehung Jesu umso deutlicher ans Licht zu bringen.

Die Hohenpriester und die Schriftgelehrten gingen zu Pilatus und erinnerten an die Worte, mit denen der Herr Jesus seine Auferstehung vorhergesagt hatte. Während seines Dienstes hatten sie seine Werke nicht anerkannt, sie vielmehr mit Hass gesehen und als Werke Satans bezeichnet. Und jetzt fürchteten sie sich, dass die Menschen ein leeres Grab als Eintreffen dieser Voraussage werten würden.

Das, was sie nun vorhatten, fand am Samstag, also nach dem Rüsttag statt. Dieser Ausdruck kann bis heute auch mit Freitag übersetzt werden.12 Hier ging es um das „Rüsten“ der Feier des Sabbats, der ja durch das Passahfest und das Fest der ungesäuerten Brote „groß“ war. Diese Feier begann am Samstag, dem folgenden Tag. Man staunt, dass an dieser Stelle der Eifer der Hohenpriester und Pharisäer, dieser Gesetzeslehrer, für das Gesetz vorbei war. Denn der Tag nach dem Rüsttag war Sabbat. Hatten diese Führer Israels dem Herrn Jesus nicht immer wieder untersagt, zum Segen tätig zu sein? Im Blick auf ihre eigenen Interessen spielte das keine Rolle. Ihnen war das Risiko zu groß, der Herr könnte tatsächlich auferstehen. Zugleich war es aus ihrer Sicht natürlich möglich, dass seine Jünger Jesu Körper stehlen und dann seine Auferstehung widerspruchslos verbreiten könnten. Daher ordneten sie das Gesetz des Sabbats ihrem eigenen Hass unter. Hauptsache, ihr Gegner war dauerhaft beseitigt.

Was war das für ein Tag! Das erste Mal, seitdem die Engel ihren Schöpfer überhaupt anschauen konnten – also seit seiner Menschwerdung – konnten sie Ihn plötzlich nicht mehr sehen. Und zwar für drei Tage und drei Nächte! Was müssen sie andächtig vor Gott gestanden haben in diesen Tagen, ohne wirklich begreifen zu können, was hier geschah (vgl. 1. Pet 1,12). Es waren drei Tage nötig, an denen der Herr der Gestorbene war. Aber Gott wachte darüber, dass dieser dreitägige Tod seines Frommen, seines Geliebten, „so kurz wie möglich“ wäre. Aber der Sabbat war vollständig eingeschlossen. War das nicht ein Hinweis auf das Ende der jüdischen Zeit? An „ihrem Tag“, war der Herr vollständig der Gestorbene. Er ruhte den Sabbat über im Grab.

Nur Matthäus berichtet uns von den Anstrengungen ungläubiger Juden im Blick auf das Grab. Sie passen genau in dieses Evangelium, in dem es um den Messias Israels geht. Die nun folgenden Verse zeigen uns im Übrigen eine siebte Folge des Todes des Herrn: Man kann das Wort des Evangeliums ablehnen und im Unglauben verharren.

7. Der Unglaube der Führer Israels: Christus als Stein des Anstoßes

Wie weitgehend kann die Feindschaft von Menschen sein. Der Tod des Herrn kann Menschen vom Unglauben zum Glauben führen, wie wir anhand der Veränderung beim Hauptmann gesehen haben. Aber der Tod Christi kann auch das Gegenteil bewirken und den Hass von Menschen geradezu explodieren lassen. So fordert der Tod unseres Herrn zu einer Entscheidung auf – so oder so. Das haben wir schon in Verbindung mit Matthäus 10,34 ff. gesehen. Entweder trifft man eine Entscheidung zum Leben, oder man wendet sich (endgültig) gegen Christus, indem man sich von Ihm abwendet. Das haben diese Menschen getan.

Das heißt nicht, dass Feinde Christi dumme Menschen sind. Im Gegenteil: Diese Feinde Jesu erinnern sich im Gegensatz zu den Jüngern, welche seine Worte weder verstanden noch behalten haben, an seine Vorhersage. Er hatte davon gesprochen, nach drei Tagen wieder aufzuerstehen. Der Herr hatte von diesen drei Tagen zwar hauptsächlich zu seinen eigenen Jüngern geredet (vgl. Mt 16,21; 17,23; 20,19), aber offenbar haben das auch andere mitbekommen. Die von den Juden in der Verhandlung vor Kajaphas zitierten Worte Jesu über das Aufrichten seines Leibes-Tempels waren an die Juden gerichtet. Sie klagten Ihn deshalb an und vergaßen seine Worte nicht. Nur die Jünger haben sie nicht verinnerlicht. Ist es nicht bis heute manchmal so, dass die Feinde Christi die Dinge besser wissen als wir. Ihr Leben wird nicht durch diese Wahrheit bestimmt. Aber zuweilen haben sie eine bessere Kenntnis biblischer Aussagen als die Gläubigen.

Dennoch ist es eigentümlich: Selbst mit der Ermordung des Herrn waren sie nicht sicher, dass Er wirklich beseitigt war. Hatten sie noch immer Angst vor seiner Allmacht? Vielleicht glaubten sie doch stärker daran, als sie zugaben. Sie hatten damit Recht. Diese Allmacht werden einmal die vielen ungläubigen Menschen erleben müssen, die Christus ganz bewusst aus ihrem Leben und der gesellschaftlichen Diskussion entfernen wollen. Ihnen geht es darum, Christus keine Autorität auf der Erde einzuräumen. Sie werden sich „wundern“, wenn sie vor Ihm stehen werden und sogar durch Ihn gerichtet werden.

Das Wunderbare an dieser Geschichte ist: Die boshaften menschlichen Mittel der Hohenpriester und Pharisäer bewirkten nur, dass umso offenbarer wurde, dass der Herr wirklich auferstanden war. Sie versuchten mit allen Mitteln, allem zuvorzukommen, was auch nur entfernt auf eine Auferstehung hätte schließen lassen können. Aber ihre Vorsichtsmaßnahmen dienten nur dazu, den Beweis seiner Auferstehung zu erbringen. Denn die Wachen, die sie am Grab aufgestellt hatten, fielen aus Angst vor dem, was sie erlebten, zu Boden. Sie flohen dann, nachdem sie den Engel des Herrn in herrlicher Erscheinung gesehen hatten, der den Stein wegwälzte. So mussten sie bezeugen, dass der Herr wirklich auferstanden ist. Wie haben sich Satan und die Seinen damit selbst eine Falle gestellt. Ihre raffinierten Überlegungen führten zum Gegenteil dessen, was sie bezweckten.

Der Feind hatte natürlich ein Interesse daran, die Auferstehung, diese Tatsache von höchster Bedeutung, welche die Grundlage des Evangeliums bildet, geheim zu halten. Denn wenn Jesus nicht auferstanden wäre, hätte sein Tod die traurige Geschichte des Sünders hoffnungslos abgeschlossen. Wenn sogar der vollkommene, sündlose Mensch unter dem Gericht Gottes sterben musste und daher nicht auferstehen konnte, was musste dann das Gericht von Sündern sein? Ewige Strafe. Dann wäre tatsächlich keine Errettung mehr möglich gewesen und unser Glaube wäre nichtig (vgl. 1. Kor 15,17). Aber der Herr Jesus ist auferstanden. Das Zeugnis davon lesen wir im nächsten Kapitel.

Die Feinde Jesu wollten, dass Pilatus das Grab bewachen ließ. Auch das war schlau eingefädelt, denn dann hätten sie für den Fall, dass etwas schief ging, auf jemand anderes verweisen können. Pilatus jedoch durchschaute die Absicht dieser ungläubigen Menschen und überließ es ihnen selbst, das Grab zu beschützen. Er übernimmt keine Verantwortung für das Bewachen, stellt ihnen aber Soldaten zur Verfügung, die unter der Verantwortung der Juden das Grab sichern sollen (Vers 65; 28,11.12).

Liegt nicht in der Antwort des römischen Statthalters auch ein Hauch von Ironie? Natürlich war er geschmeichelt davon, mit „Herr“ angesprochen zu werden. Aber er war vielleicht doch stärker von der geistlichen Kraft des Gekreuzigten beeindruckt worden, als er es öffentlich zugab. Jedenfalls empfahl er diesen Menschen, Jesus „so gut sie konnten“ zu bewachen. So durften sie immerhin die Wachen aufstellen, was ihnen die Möglichkeit der Manipulation ermöglichte. Aber sie mussten lernen, was David schon in Psalm 2 geschrieben hatte: „Der im Himmel thront, lacht, der Herr spottet ihrer. Dann wird er zu ihnen reden in seinem Zorn, und in seiner Zornglut wird er sie schrecken: ‚Habe ich doch meinen König eingesetzt auf Zion, meinem heiligen Berg!'“ (Ps 2,4-6).

Die Erfüllung des Festes der Erstlingsgarbe: Die Auferstehung Jesu (Mt 28)

Die ersten Ereignisse, die in diesem Kapitel berichtet werden, fanden an dem Tag statt, an dem in Israel das Fest der Erstlingsgarbe gefeiert wurde (vgl. 3. Mo 23,9-14). Wir können mit Paulus sagen: „Nun aber ist Christus aus den Toten auferweckt, der Erstling der Entschlafenen ... Jeder aber in seiner eigenen Ordnung: der Erstling, Christus“ (1. Kor 15,20.23). Christus ist der Erstling einer großartigen, reichen Ernte Gottes hier auf der Erde. Er ist die Auferstehung und das Leben (Joh 11,25). Genau davon spricht prophetisch das Fest der Erstlingsgarbe, das jährlich gefeiert wurde und wie das Passah eine einmalige Erfüllung im Herrn Jesus gefunden hat.

Damit kommen wir auch zum letzten Teil dieses Evangeliums. Er ist kurz, und das Ende mag auf uns abrupt wirken. Der Bericht der Auferstehung des Herrn, wie er von Matthäus berichtet wird, ist tatsächlich zusammen mit Markus der kürzeste der Evangelien. Nur wenige Tatsachen werden uns mitgeteilt. Sie alle gehören zum großen Thema von Matthäus,

  • uns den Wandel in den Haushaltungen (Epochen) zu zeigen,
  • einen letzten Appell an das Herz der Juden zu richten und
  • einen Bogen zu spannen bis zur Vollendung des Zeitalters, also dem Kommen des Herrn Jesus. Er wird sein Königreich hier auf der Erde in großer Macht und Herrlichkeit aufrichten. Das war das ursprüngliche Ziel seines ersten Kommens, das jedoch wegen der Ablehnung vonseiten der Juden damals nicht erreicht wurde. Christus wird aber auch mit seinem Volk zum Ziel kommen – bei der Vollendung des Zeitalters.

Besonders auffallend in diesem letzten Kapitel ist, dass es keinen Hinweis auf die Himmelfahrt des Herrn gibt. Markus und Lukas sprechen davon, Matthäus und Johannes nicht. Allerdings können wir die Tatsache seiner Himmelfahrt aus einer Reihe von Begebenheiten und Berichten des Evangeliums schließen. In Matthäus 13,41; 16,27.28; 22,44 sowie den Kapiteln 24 und 25, vor allem aber auch in Kapitel 26,64 wird die Himmelfahrt zumindest angenommen, wenn nicht sogar notwendigerweise vorausgesetzt. Denn es ist davon die Rede, dass der Herr Jesus vom Himmel kommen wird. Folglich muss Er zunächst in den Himmel aufgefahren sein.

Markus berichtet, dass der Herr in den Himmel aufgenommen wurde und sich zur Rechten Gottes gesetzt hat. Dort zeigt der Geist Gottes, dass derjenige, der sich als Knecht erniedrigt hat, zugleich die Macht und Autorität besitzt, sich selbst zur Rechten Gottes hinzusetzen. Das kann Er, weil Er mehr ist als ein Mensch, Gott selbst, gepriesen in Ewigkeit. Lukas spricht davon, dass Christus von den Jüngern schied und hinaufgetragen wurde in den Himmel (Lk 24,51). Von dort hat Er den Seinen nicht nur Verständnis, sondern auch Kraft gegeben, seine Zeugen hier auf der Erde zu werden.

Das alles finden wir bei Matthäus nicht. Das Evangelium endet, als wäre der Herr Jesus noch immer auf der Erde. Aber Ihm ist alle Macht in den Himmeln und auf der Erde in die Hände gegeben worden, und zwar bis zur Vollendung des Zeitalters. Alles das steht in schöner Harmonie zu den großen Themen dieses Evangeliums.

Das Fehlen der Himmelfahrt bei Matthäus ist also kein Fehler, wie manche Theologen schreiben, sondern ein Beweis der göttlichen Inspiration. Sie passt einfach nicht zu dem Thema und Auftrag von Matthäus und würde wie ein Fremdkörper wirken. Der Geist Gottes beschränkt sich hier darauf, den Messias als aus den Toten auferstanden zu zeigen. Als König seines Volkes trifft Er seine Jünger in Galiläa außerhalb der rebellischen Stadt Jerusalem. Im Anschluss an die Auferstehung des Herrn geht es vor allem um das Amt und den Dienst des Herrn. Er lässt die Seinen nicht allein zurück, sondern kümmert sich weiter um sie. Zugleich sendet Er seine Jünger aus, damit sie an seiner Stelle und in seinem Auftrag das Evangelium des Königreiches verkünden. Sie sollen sich mit den Armen der Herde der Übriggebliebenen in Israel verbinden, um diesen zu helfen.

Gliederung von Kapitel 28

Das Kapitel gliedert sich in fünf Teile und zeigt uns 7 Konsequenzen der Auferstehung des Herrn:

  1. Zwei Frauen am Grab (Vers 1)
  2. Der Engel offenbart die Auferstehung Jesu (Verse 2–8).
  3. Der Herr Jesus offenbart sich den Frauen (Verse 9.10).
  4. Die Lüge der Hohenpriester und Ältesten über die Auferstehung (Verse 11–15).
  5. Der Missionsauftrag des Königs an seine Untertanen (Verse 16–20).

Die sieben Konsequenzen der Auferstehung des Herrn betreffen ...

  1. die Engel – die erste Schöpfung (Verse 2.3)
  2. die Wächter (Soldaten) – Ungläubige (Vers 4)
  3. die Frauen – die gläubigen Übriggebliebenen in Juda (Verse 5–10)
  4. die Brüder – die Juden (Vers 10)
  5. die Führer Israels – die Verführer der Juden und Gegner des Messias (Verse 11–15)
  6. die Jünger – die Boten des Herrn (Verse 16–20)
  7. die Nationen – die Empfänger der Missionsbotschaft der Juden (Verse 19.20).

Bevor wir uns diesem wunderbaren Auferstehungskapitel widmen, noch ein grundsätzlicher Gedanke zur Beziehung und Notwendigkeit von Tod und Auferstehung unseres Retters. Im Tod Jesu schien der Feind zu triumphieren. Erst die Auferstehung zeigte, dass Gott triumphiert hatte, dass die Liebe stärker war als der Tod und dass der Kopf Satans zermalmt worden war (1. Mo 3,15). Selbst in der Person Jesu bietet nichts einen solch vollkommenen Ruheplatz für Gott und den Menschen wie sein Tod. Wenn wir jedoch Kraft, Freiheit und Leben suchen, müssen wir auf die Auferstehung Jesu blicken. Für den Sünder liegt in der Auferstehung des Herrn die Ankündigung des Gerichts. Sie bedeutet für ihn Verdammnis. Wenn Christus auferstanden wäre, ohne dem Menschen Sühnung anzubieten, wäre zwar das Werk des Herrn vollkommen geschehen. Aber der Mensch stünde ohne Retter und Rettung da.

Auferstehung und Tod sind daher beide von großer Bedeutung. Es war der Tod, der den Vorhang zerriss. Nicht seine Auferstehung öffnete die Gräber – auch wenn die Entschlafenen erst dann ihre Gräber verließen –, sondern sein Tod. Daher verkündigen wir am Tag des Herrn auch nicht die Auferstehung Jesu, sondern seinen Tod. Aber wir verkündigen diesen Tod nicht an seinem Todestag, sondern am Tag der Auferstehung. Wenn ich vergesse, dass Christus auferstanden ist, werde ich keine Freiheit und Freude genießen können. Der Auferstehungstag aber zeigt mir, dass Christus gestorben ist. Die göttliche Gnade ist uns im Tod Christi geschenkt worden. Kraft finden wir in seiner Auferstehung und Himmelfahrt.

Vers 1: Die zwei Frauen am Grab Jesu

Aber nach dem Sabbat, in der Dämmerung des ersten Tages der Woche, kam Maria Magdalene und die andere Maria, um das Grab zu besehen (Vers 1).

Das 28. Kapitel beginnt mit einer Zeitangabe: „Nach dem Sabbat“. Dem Geist Gottes geht es allerdings nicht nur um eine Zeitbestimmung. Dieser Ausdruck zeigt zugleich, dass eine ganz neue Ära beginnen würde. Von Jerusalem lesen wir in diesem Kapitel nichts mehr. In Kapitel 27 haben wir schon gesehen, dass der Tempel gewissermaßen aus den Fugen geriet, weil der Vorhang zwischen Heiligem und Allerheiligstem zerrissen wurde. Das jüdische System wurde damit zur Seite gestellt. Nun ist auch der Sabbat Vergangenheit. Ich bemerke in dieser Verbindung nochmals, dass der einzige Tag, an dem unser Retter die gesamte Zeit als Gestorbener im Grab lag, der Sabbat war. Am Freitag war es nur der letzte Teil des Tages, am Sonntag nur der erste. Aber der Tag, der für das jüdische System steht, sah den Messias nur als Gestorbenen. Das ist ein symbolischer Hinweis darauf, dass dieses System zu Ende gekommen ist: „Denn Christus ist das Ende des Gesetzes“ (Röm 10,4).

Kapitel 28 trägt einen insgesamt sehr jüdischen Charakter, weil es von den jüdischen Übriggebliebenen spricht, die von nun an eine Mission für alle Nationen hatten. Dennoch tritt dieses (alte) System für die gläubigen Juden in den Hintergrund. Die Verwerfung Jesu und sein Werk am Kreuz haben auch für diese Gläubigen eine ganz neue Grundlage geschaffen. Sie werden sich in künftigen Tagen wieder sammeln, um ihren Herrn und König anzunehmen. Aber das wird unter dem neuen Bund (Mt 26,28) und als ein ganz neues Volk sein (Mt 21,19).

Das mussten auch die beiden Marias, von denen wir schon in den Versen 56 und 61 gelesen haben, erkennen. Sie waren, sobald das für sie möglich war, sofort wieder am Grab. Ihre Zuneigung ließ ihnen keine Ruhe, so dass sie sich sogleich wieder auf den Weg machten, um das Grab zu besehen. Aber da war das Grab schon leer. Das Alte war vergangen.

Nach Markus 16,1 scheinen die Frauen bereits am Samstagabend, also nach Ablauf des Sabbat, der ja von Freitag, 18 Uhr, bis Samstag, 18 Uhr, ging, wohlriechende Gewürzsalben gekauft haben.

Dann kamen sie am frühen Sonntagmorgen zur Gruft, in der Hoffnung, ihren gestorbenen Herrn salben zu können (vgl. Mk 16,1; Lk 24,1). Der hier verwendete Ausdruck „in der Dämmerung“13 und „ganz in der Frühe“ in Lukas 24,1 deutet an, dass diese Frauen sogleich am Sonntagmorgen zum Grab kamen. Markus berichtet, dass „die Sonne aufgegangen war“ (Mk 16,2). Vorher muss allerdings Maria Magdalene schon einmal am Grab gewesen sein „als es noch dunkel war“ (Joh 20,1).

Was für eine Liebe, Zuneigung und Hingabe spricht aus diesen Handlungen. Keine (männlichen) Jünger finden wir hier beim Herrn, nur die Frauen. Sie mögen kaum Einsicht gehabt haben. Aber sie waren da, wo sie ihren Meister vermuteten. Er war ihnen wichtiger als jeder und alles andere. Das ist in der Tat vorbildlich für uns und muss uns beeindrucken! Diese Frauen kamen, um das Grab zu besehen. Mehr lesen wir in diesem Vers noch nicht.

Verse 2–8: offenbarung der Auferstehung Jesu durch den Engel

Und siehe, da geschah ein großes Erdbeben; denn ein Engel des Herrn kam aus dem Himmel herab und trat hinzu, wälzte den Stein weg und setzte sich darauf. Sein Aussehen aber war wie der Blitz und sein Gewand weiß wie Schnee. Aber aus Furcht vor ihm erbebten die Wächter und wurden wie tot. – Der Engel aber hob an und sprach zu den Frauen: Fürchtet ihr euch nicht, denn ich weiß, dass ihr Jesus, den Gekreuzigten, sucht. Er ist nicht hier, denn er ist auferstanden, wie er gesagt hat. Kommt her, seht die Stätte, wo der Herr gelegen hat, und geht eilends hin und sagt seinen Jüngern, dass er von den Toten auferstanden ist; und siehe, er geht euch voraus nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen. Siehe, ich habe es euch gesagt. Und sie gingen eilends von der Gruft weg mit Furcht und großer Freude und liefen, um es seinen Jüngern zu verkünden (Verse 2–8)

Es ist nicht ganz leicht, den genauen Ablauf der verschiedenen Besuche des Auferstehungsmorgens am Grab Jesu nachzuzeichnen. Das ist aber auch nicht entscheidend, weil uns der Geist Gottes in Verbindung mit der Auferstehung in jedem Evangelium eine besondere, einzigartige Belehrung geben möchte. So wollen wir hier der Linie folgen, die der Geist Gottes durch Matthäus zeigen möchte. Wer versuchen möchte nachzuvollziehen, wie genau die Ereignisse chronologisch abgelaufen sind, mag zur Hilfe das Buch von Cor Bruins „Er wohnte unter uns“ verwenden. Sehr ausführlich und nützlich sind die Bemerkungen, die J. N. Darby in Band 5 von „Notes and Comments on Scripture“ (englisch) macht. Hier vergleicht er im Übrigen auch die verschiedenen Missionsaufträge, die der Herr nach den vier Evangelien den Jüngern gibt.

Die Auferstehung Jesu

Zunächst müssen wir erkennen, das die Bibel uns die Auferstehung des Herrn gar nicht beschreibt. Wie sollte man dieses Wunder auch „beschreiben“. Es wird uns „nur“ die Tatsache berichtet, und zwar im Nachhinein. So, wie die drei Stunden der Finsternis und der Tod des Herrn für uns unbegreifbar bleiben werden, ist auch der Akt der Auferstehung nicht erklärbar. Aber wir, die wir an den Herrn Jesus als an unseren Retter glauben, werden das selbst einmal an unserem eigenen Körper erleben. Es muss wunderbar sein. Darauf freuen wir uns. Noch mehr sind wir dankbar dafür, dass Er als der Erstling der Entschlafenen auferstanden ist.

Durch die Auferstehung hat der Herr Jesus sich als Sohn Gottes in Kraft dem Geist der Heiligkeit nach erwiesen (vgl. Röm 1,4). Zugleich ist die Auferweckung die Antwort Gottes auf sein vollkommenes Werk am Kreuz. Gott hat Ihn auferweckt (Mt 16,21; 17,9.23; 20,19). Die Auferweckung offenbart, dass Gott dieses Werk angenommen hat und auf dieser Grundlage den rechtfertigt, der an den Herrn Jesus als Retter glaubt (vgl. Röm 4,25). So ist sie Gottes Antwort auf das Schreien und die Tränen des Herrn in seinen Leiden (vgl. Heb 5,7).

Beim Herrn Jesus wird uns somit nicht die Auferstehung als Vorgang geschildert, wohl aber das, was sie dann auslöste und was die Folgen waren. Mit anderen Worten: Nicht das Erdbeben löste die Auferstehung des Herrn aus. Der Herr hatte auch keinen Engel nötig, um aus dem verschlossenen Grab nach außen kommen zu können. Wie kann man so etwas denken? Wir lesen von unserem Herrn, dass Er am Abend seines Auferstehungstages nicht einmal durch verschlossene Türen daran gehindert werden konnte, zu seinen Jüngern zu gehen. Mauern und Türen waren für Ihn kein Hindernis, als Er mit seinem Herrlichkeitsleib zu seinen Jüngern kam (vgl. Joh 20,19.26). Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass es um den auferstandenen Menschen Christus Jesus geht: Er ist und bleibt Mensch, jetzt aber in Auferstehung.

Der Beginn des zweiten Verses darf im Übrigen nicht als zeitliche Fortsetzung des ersten angesehen werden. Schon in Kapitel 8,2 haben wir gesehen, dass das „und siehe“ keine zeitliche Bezugnahme enthalten muss. Letztlich ist es so, dass die Vorgänge, die wir in diesem zweiten Vers lesen, zeitlich vor Vers 1 stattgefunden haben. Der erste Vers wird von Matthäus deshalb vorgezogen, weil er zunächst auf die Anhänglichkeit dieser Frauen hinweisen möchte. Wie so oft ist unserem Evangelisten die Chronologie nicht so wichtig wie die thematische Zusammenstellung.

So dürfen wir davon ausgehen, dass sich, als das Erdbeben und das Herabkommen des Engels stattfanden, außer den Soldaten niemand am Grab befand. Während der Nacht hatten die Wachen alles gesichert und das Grab vermutlich mit vier Soldaten umstellt. So war es damals Sitte. Am Morgen der Auferstehung Jesu wussten die Jünger von diesem Vorgang noch nichts. Keiner von ihnen war dabei gewesen, und die Wächter dachten natürlich nicht daran, die Jünger zu informieren.

Der Herr Jesus war vor Sonnenaufgang am frühen Sonntagmorgen bereits auferstanden. Danach geschah ein großes Erdbeben, das in Verbindung mit dem Herabkommen eines Engels des Herrn stattfand. Ein Erdbeben folgte dem Tod Jesu – als ob die Erde darüber trauerte, dass der Vollkommene sterben musste und nun gestorben war. Zugleich verkündete es, dass Christus den überwand, der die Macht des Todes hatte (Heb 2,14). Nun kam ein Erdbeben, dass gewissermaßen seine Auferstehung triumphierend verkündigte: Er ist nicht mehr tot, sondern der Auferstandene. Dieses Erdbeben war groß, wie auch die Kraft gewaltig ist, die sich in der Auferstehung des Herrn offenbarte (vgl. Eph 1,19.20).

Der Engel und das Grab

Irdische Autoritäten hatten das Grab versiegeln lassen. Eine weit höhere Autorität zerbrach das Siegel und wälzte den Stein vom Eingang weg. Es ist übrigens nur Matthäus, der uns von dieser Handlung des Engels berichtet, während die anderen Evangelien nur mitteilen, dass der Stein weggewälzt war. Der Engel wälzte den Stein allerdings nicht nur weg, sondern setzte sich auch darauf – wie auf einen besiegten Feind. Er machte sich so zum Siegel des Steines in neuer Lage. Dadurch war niemand in der Lage, ihn wieder vor das Grab zu wälzen, bevor nicht eine ausreichende Anzahl von Zeugen das leere Grab gesehen hatte.

Die Auferstehung unseres Herrn durfte kein Geheimnis bleiben. Gott wollte, dass sie öffentlich bezeugt wurde. Daher das Erdbeben und der öffentlich hörbare Hinweis: Hier ist etwas Gewaltiges geschehen. Damit sollten zugleich die Verführungen und Überlegungen der Feinde Jesu als Lügen offenbart werden für diejenigen, die nicht von vornherein der Lüge glauben wollen.

Dafür war es nötig, den Stein vor dem Grab wegzunehmen. Mit anderen Worten: Der Engel wälzte nicht den Stein weg, damit der Herr Jesus aus dem Grab kommen konnte. Christus war längst auferstanden. Nein, der Stein musste weggebracht werden, damit wir hineingehen und -sehen konnten. Es sollte zweifelsfrei erkennbar sein, dass das Grab leer war. Auch wenn dies heute geleugnet wird und teilweise dazu auf wissenschaftliche Erkenntnisse verwiesen wird, hat dies nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Damals hätten sich die Evangelisten niemals trauen können, eine solche Lüge zu verbreiten, wenn sie nicht durch viele Zeugen, von denen Paulus in 1. Korinther 15 spricht, bezeugbar gewesen wäre.

Noch ein kurzes Wort zum Aussehen des Engels. Er war wie der Blitz, und sein Gewand weiß wie Schnee. Dem Blitz sind wir schon in der prophetischen Rede unseres Herrn in Kapitel 24,27 begegnet. Dort vergleicht Christus das Kommen des Sohnes des Menschen mit einem Blitz, der vom Osten ausfährt und bis zum Westen leuchtet. Sicher ist das Aussehen des Engels in dieser Weise ein Hinweis auf den Herrn Jesus selbst. Nicht von ungefähr wird er „Engel des Herrn“ genannt. Nicht, dass dieser Engel der Herr ist. Aber er stellt einen Hinweis auf Christus dar.

Mir scheint zudem, dass diese Auferstehungsszene, gerade wenn wir die Folgen für die Soldaten sehen, eine prophetische Seite hat. Sie spricht vom zweiten Kommen des Herrn, wenn Er für seine Feinde zum Gericht kommen wird. Für die Seinen allerdings, die auf Ihn warten, wird Er zum Trost und Heil erscheinen. Das wird unterstrichen durch das Gewand des Engels, das weiß wie Schnee war. Als der Herr Jesus auf dem Berg der Verklärung war, wurden seine Kleider weiß wie das Licht. Johannes nennt in Offenbarung 1 in der Beschreibung des Sohnes des Menschen auch das Weiß des Schnees. In dieser Herrlichkeit wird der Herr Jesus wiederkommen. Für die Ungläubigen wird es wohl die erste Begegnung mit dem Herrn sein, seitdem der Herr am Kreuz gestorben ist. Denn von ihnen sah kein einziger den Herrn während der 40 Tage, die Er nach der Auferstehung noch auf der Erde zubrachte. Nur Gläubigen schenkte Er den Segen, Ihn als Auferstandenen sehen zu können. Jedenfalls lesen wir an keiner Stelle davon, dass Er ungläubigen Menschen begegnet ist. In seiner herrlichen, für Ungläubige furchtbaren, richterlichen Gestalt wird Er auf diese Erde zurückkommen. Dann wird es für sie eine Erscheinung des Gerichts sein.

1. Konsequenzen der Auferstehung für die erste Schöpfung (Engel, Verse 2.3)

Abschließend möchte ich anhand dieser Verse zeigen, dass die Auferstehung gewaltige Konsequenzen für die erste Schöpfung hat. Wir haben in Verbindung mit dem Tod des Herrn schon gesehen, dass auch die erste Schöpfung versöhnt werden wird. Sichtbar wird das erst in der Zukunft. Nach Römer 8 wird sie freigemacht werden von der Sklaverei der Sünde. Die Grundlage dafür ist nach Kolosser 1,20 bereits gelegt.

Davon ist dieses große Erdbeben ein Zeuge. Gott wird die Schöpfung befreien. Sie wird geradezu jubeln, wenn mit der Einführung der neuen Schöpfung, wovon die Auferstehung das Eingangstor ist, alle Belastungen aufhören werden. Dann wird kein Stein mehr den Blick auf den Herrn Jesus versperren. Alles wird rein und weiß sein, wie die Herrlichkeit des Herrn selbst. Der Weg zwischen Himmel und Erde ist frei, so wie im Tausendjährigen Reich die Engel auf den Sohn des Menschen auf- und niedersteigen werden (vgl. Joh 1,51).

2. Konsequenzen für die Ungläubigen (Soldaten, Wächter, Vers 4)

Im vierten Vers sehen wir, dass das Kommen des Engels auch Folgen für die Wächter hatte. Sie erbebten vor dem Engel aus Furcht und wurden wie tot. Für Pilatus und für alle anderen war durch die Wache sichergestellt worden: Hier konnte keiner gestohlen werden. Jetzt aber passierte etwas Übernatürliches durch einen Engel. Der Herr war, wie wir gesehen haben, längst nicht mehr im Grab. Aber die Erscheinung des Engels ließ diese Wachen in Ohnmacht fallen. Die Auferstehung des Herrn haben sie weder gesehen noch Ihn anschauen dürfen. Aber Gott ließ auch nicht zu, dass diese ungläubigen Menschen die weiteren Begegnungen des Engels mit den Frauen miterleben durften. Was sie aber tun konnten, würden sie auch tun müssen: die Wahrheit vor den Hohenpriestern bezeugen.

Das versiegelte Grab wurde so für alle Menschen zu einem Entscheidungspunkt. Auch und besonders für diejenigen, die sich Gott gegenüber auf unverschämte Weise hervorgewagt hatten. Gott nahm ihre Herausforderung an und zerschmetterte ihre Macht. Er ließ die Vertreter der jüdischen Anmaßung zu nichts werden – wie tot. Das ist eine Vorerfüllung dessen, was die Söhne Korahs viele hundert Jahre zuvor geweissagt hatten: „Denn siehe, die Könige hatten sich versammelt, waren herangezogen allesamt. Sie sahen, da erstaunten sie; sie wurden bestürzt, ängstlich flohen sie weg. Beben ergriff sie dort, Angst wie eine Gebärende“ (Ps 48,5-7). Einen weiteren prophetischen Hinweis darauf finden wir in der Szene, als die Juden und Soldaten den Herrn Jesus gefangen nehmen wollten (Joh 18,6).

Das aber ist zugleich nur ein Bild davon, was auf Ungläubige zukommen wird, die den Herrn Jesus nicht als Retter angenommen haben. Wie werden sie durch das Wiederkommen des Königs erstarren und umkommen! Dann werden sie nicht einfach wie tot umfallen, sondern ewig gerichtet werden durch den zweiten, den ewigen Tod. Die Furcht wird sich durch Weinen und Zähneknirschen offenbaren. Es muss furchtbar sein, im Anschluss daran vor dem großen, weißen Thron zu stehen. „Dies ist der zweite Tod, der Feuersee“ (Off 20,14).

3. Konsequenzen für die gläubigen Übriggebliebenen in Juda (die Frauen, Verse 5–8)

In den Versen 5–7 lesen wir, dass der Engel, der sich auf den Stein gesetzt hat, zu den Frauen spricht, die zum Grab gekommen sind. Für Matthäus ist es nicht wichtig, welche Frauen hier am Grab sind und woher sie wann gekommen sind. Wenn man die Evangelien miteinander vergleicht und besonders Johannes 20 liest, ist es möglich, dass sich Maria Magdalene bereits nicht mehr unter diesen Frauen befand. Wahrscheinlich ist sie als erste am Grab gewesen. Nachdem sie sah, dass das Grab leer war und Jesus nicht darin lag, ist sie zu Johannes und Petrus gelaufen, um es ihnen zu sagen. In der Zwischenzeit hat dann der Engel (bzw. haben zwei Engel, Lk 24,4) die Unterredung mit den übrigen Frauen. Nachdem Maria zurück zur Gruft gelaufen ist, offenbarte sich ihr der Herr. Ihre Zuneigung war größer als die aller anderen Personen. Diese Hingabe belohnt ihr Meister, so dass sie die erste war, die den Auferstandenen sehen durfte. Später hat sie sich offenbar wieder mit den anderen Frauen vereinigt, wie uns Lukas schildert (Lk 24,10).

Diese Einzelheiten sind für Matthäus nicht von Bedeutung. Er hat ein anderes Thema zu behandeln. Er soll zeigen, wie sich der Messias mit solchen Juden verband, die zu den gläubigen Übriggebliebenen zählten, die sich Ihm von Herzen unterwarfen. Auffallend ist, dass Matthäus nur von einem Engel berichtet. Lukas und Johannes dagegen sprechen von zwei Engeln. Dieser Unterschied ist insofern merkwürdig, als es normalerweise umgekehrt ist: Matthäus berichtet von zwei Blinden oder zwei Besessenen, während die anderen Evangelisten nur einen nennen. Offenbar geht es an dieser Stelle in unserem Evangelium nicht darum, ein ausreichendes Zeugnis (zwei oder drei) durch die Engel ausrichten zu lassen. Ist hier der Engel nur ein Zeuge unter manchen anderen, die noch folgen und die von dem Auferstandenen berichten können: die Frauen, die Wächter, die Jünger? Das Zeugnis für die Juden sollte sich hier gerade nicht auf Geisteswesen wie Engel stützen. Gott wollte, dass gläubige Menschen, die den Herrn Jesus gesehen haben, von seiner Auferstehung Zeugnis ablegen.

Vielleicht darf man im Blick auf zwei Zeugen auch noch an etwas anderes denken, denn tatsächlich folgt noch ein echter, zweiter Zeuge. Der Herr Jesus selbst ist dieser „zweite Mann“, der den Frauen von der Auferstehung berichtet (Verse 9 f.). Der Engel berichtet als erster von der Auferstehung eines anderen: Christi. Der Herr Jesus bezeugt durch seine Erscheinung von sich selbst, dass Er auferstanden ist. Er ist dieser zweite Zeuge – vollkommen überzeugend für jeden, der es glauben will.

Der Engel spricht mit den Frauen

Die Frauen haben angesichts der gewaltigen Erscheinung des Engels Furcht (Vers 8). Aber es fällt auf, dass sie nicht zu Boden gestreckt werden, wie es den römischen Soldaten geschah. Derselbe Engel also, der die Wächter gewissermaßen terrorisierte, ermutigt die Frauen. Die Erscheinung dieses Engels muss äußerst Respekt einflößend gewesen sein. So braucht man sich nicht zu wundern, dass sich auch die Frauen fürchteten. Während Gott jedoch die Wächter im Staub liegen lässt, kümmert Er sich durch den Engel um die Frauen. Sie suchten den gekreuzigten Jesus. Sie wussten noch nichts von seiner Auferstehung. Um sie zu trösten und aufzurichten, ruft ihnen der Engel zu: „Fürchtet ihr euch nicht“ – die Soldaten dagegen sollten weiter Furcht haben. Diese Worte zeigen, dass die Frauen die Wachen wahrscheinlich noch auf dem Boden liegen sahen.

Fürchtet euch nicht: Das ist die gute Botschaft des leeren Grabes, die bis heute verkündigt werden kann. Es gibt absolut keinen Grund für Furcht, denn diejenigen, die an den Herrn geglaubt haben, gehören Ihm und zu Ihm. Jede Finsternis, jede Unsicherheit, jeder Zweifel und jede Furcht sind für sie zu einem Ende gekommen. „Die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus“ (1. Joh 4,18). Die ganze Frage der Sünde ist am Kreuz abschließend behandelt worden. Durch die Auferweckung Jesu wissen wir, dass Gott das auch so sieht. Das Grab ist leer, der herrliche Sieg über den Tod ist erreicht und das Grab ein ewiger Zeuge davon:

„Was sollen wir nun hierzu sagen? Wenn Gott für uns ist, wer gegen uns? Er, der doch seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben hat: Wie wird er uns mit ihm nicht auch alles schenken? Wer wird gegen Gottes Auserwählte Anklage erheben? Gott ist es, der rechtfertigt; wer ist es, der verdamme? Christus ist es, der gestorben, ja noch mehr, der auch auferweckt worden, der auch zur Rechten Gottes ist, der sich auch für uns verwendet. Wer wird uns scheiden von der Liebe des Christus?“ (Röm 8,31-35). Gott sei Dank für sein gesegnetes Evangelium, das uns Errettung und Sicherheit schenkt!

Diejenigen, die Ihn lieben und suchen, haben noch nie etwas zu fürchten gehabt: Heute wie damals mag die Welt sie ablehnen. Aber sie stehen im Schutz Gottes. Die Engel sind dienstbare Geister, die sich zu ihrem Dienst gebrauchen lassen (Heb 1,14). Was für einen Frieden gibt es dem Herzen, den Herrn Jesus vor Augen zu haben. Ihn als Auferstandenen kennen zu dürfen ist eine große Hilfe auf dem Weg, Heilsgewissheit zu erhalten.

Ein Christ darf sich bewusst sein, dass der Herr Jesus „alle die befreite, die durch Todesfurcht das ganze Leben hindurch der Knechtschaft unterworfen waren“. Er hat „durch den Tod den zunichte gemacht, der die Macht des Todes hat, das ist den Teufel“ (vgl. Heb 2,14-16). Christus überwand den Tod, so dass sich der Erlöste, der sich auf Christus und sein Werk stützt, nicht mehr zu fürchten braucht. Für den Ungläubigen allerdings und den, der sich mit der Gesellschaft dieser Welt verbinden will, die Christus verworfen hat, bleibt nichts anderes als Furcht übrig. Die Worte Gottes bleiben bestehen: „Kein Friede den Gottlosen!“ (Jes 48,22; 57,21).

Die Botschaft an und für die Frauen

Die Engel verkünden den Frauen die Auferstehung des Gekreuzigten. Was ist das für eine gewaltige Tatsache! Aber der Hinweis auf den „Gekreuzigten“ ist zu Herzen gehend. Er weist uns darauf hin, dass wir nie vergessen sollen, welche Drangsale der Herr Jesus durchmachen musste, bevor Er siegreich auferstand. Dann fordert der Engel die Frauen auf, näher zu treten. Sie sollen die Stätte sehen, wo der Herr – nicht der Tote, nicht einfach der Leib, sondern der Herr, diese herrliche Person voller Autorität – gelegen hat. Sie sollen diesen Ort betrachten, um davon überzeugt zu sein, dass der Körper nicht gestohlen worden ist. Nichts sprach hier von Hast und Eile – alles hatte seine Ordnung. Das ließ nur eine Schlussfolgerung zu: Ein übernatürliches Ereignis hatte sich zugetragen.

Die Frauen waren unwissend, obwohl sie nicht unbelehrt waren. Ihr Glaube an Ihn als den auf der Erde lebenden Messias, der sein Königreich in großer Macht aufrichten sollte, hatte sie taub gemacht für die Worte des Herrn. Vielfach hatte Er seinen Jüngern und den Seinen gesagt, dass Er verworfen, sterben und dann auferstehen würde. Die ungläubigen Hohenpriester und Ältesten hatten das in ihren Köpfen behalten. Diese Frauen und auch die Jünger dagegen konnten dies noch immer nicht mit ihren ursprünglichen Erwartungen in Übereinstimmung bringen. Aber gerade der Tod und die Auferstehung Jesu führte sie in viel größere Segnungen ein, als sie ihnen ein irdischer Messias hätte schenken können. Der Herr will die Seinen nicht unwissend lassen. Wo immer Er Hingabe und Zuneigung sieht, wirkt Er weiter, damit das Verständnis wächst. Er führt in die Fülle der Segnungen ein, die aus seinem Tod hervorkamen. Wer den Herrn sucht, dem offenbart Er sich in einer Art und Weise, die alles das übersteigt, was man von Ihm erwartet. Was wir von diesen Frauen lernen können, ist dieses: Der wahre Weg zum geistlichen Verständnis führt über die Liebe zu Christus.

Der Herr sendet Frauen, nicht seine Jünger!

Wir mögen bis heute erstaunt sein, dass der Herr (durch Engel) gerade Frauen beauftragt, die Botschaft seiner Auferstehung weiterzugeben. Könnte es sein, dass diese Aufgabe so gar nicht zu unserem Verständnis des Aufgabenbereichs von Frauen passt? Wir müssen jedoch bedenken, dass diese Frauen nicht zu Lehrern wurden, sondern zu Verkündigern. Sie sollten die zentrale und grundlegende Botschaft verkündigen, ohne die es keine Rettung geben kann: Jesus ist „von den Toten auferstanden“.

Was für eine herrliche Botschaft. Der Gekreuzigte ist aus den Toten auferstanden. Maria Magdalene steht dabei nach Johannes 20 sicher im Vordergrund. Von ihr hatte der Herr sieben Dämonen ausgetrieben (vgl. Mk 16,9; Lk 8,2). Sie und die andere Maria nehmen den Platz ein, den Mirjam, Debora und Hulda im Alten Testament besaßen. Als Herolde feiern sie gewissermaßen den mächtigen Sieg über Sünde, Tod und Teufel, der vom Herrn Jesus erkämpft wurde. Sie hören die gute Botschaft als erste und sind deren Verkündiger. Im Geschlechtsregister des Königs am Anfang unseres Bibelbuches stehen Frauen im Vordergrund. Und hier in den Schlussszenen sind sie es, die den Triumph des Königs offenbaren. Christus schmückt sich sozusagen mit diesen Frauen.

Die Frauen erhalten jedoch nicht nur den Auftrag, die Auferstehung des Herrn zu verkündigen. Sie sollen den Jüngern auch weitergeben, dass ihr König ihnen bis nach Galiläa vorausgehen wird. Das ist der Ort, wo Er sie am meisten belehrt hatte. Dort wohnten, weit weg vom Stolz der Juden in Jerusalem und Judäa, die Verachteten des Volkes. Hier wohnten die unwissenden und geächteten Armen der Herde, die von den stolzen Schriftgelehrten und Führern aus Jerusalem vernachlässigt wurden. Das haben wir schon in Verbindung mit Matthäus 2 gesehen. Galiläa wird uns in diesem Kapitel noch weiter beschäftigen: Dieser Ort ist geradezu kennzeichnend für das letzte Kapitel des Matthäusevangeliums, ja für das ganze Evangelium.

Dass der Herr hier am Schluss nach Galiläa geht, ist ein wichtiger Punkt für die Vervollständigung seiner Verwerfung bzw. deren Folgen in seiner Auferstehung. Deshalb weist Matthäus mehrfach darauf hin. Unser Evangelist spricht im Unterschied zu den anderen Evangelisten nicht von den verschiedenen Erscheinungen des Herrn in Jerusalem. Aber er bemerkt ausdrücklich, dass Christus nach seiner Auferstehung an dem Ort festhielt, wohin Ihn die Verwerfung der Juden und deren schlechter Zustand geführt hat. Dort hat Er sein Licht ausstrahlen lassen (vgl. Jes 8,23 - 9,1). Hier beendet Er seine Mission.

Der Herr Jesus nahm in Galiläa seine Beziehungen zum Überrest, der durch die Jünger verkörpert wird, nach seiner Auferstehung wieder auf. Es gefiel Ihm, sogar noch vor seinen Knechten dorthin zu gehen, um ihnen gerade in dieser gemiedenen Gegend zu begegnen.

Der Engel wiederholt in seinen Worten an die Frauen letztlich nur, was der Herr seinen Jüngern bereits vor seinem Kreuzesleiden gesagt hat: „Nach meiner Auferweckung aber werde ich euch vorausgehen nach Galiläa“ (Mt 26,32). Damit deutete der Herr an, dass Jerusalem und damit die Führer in Israel Ihn auch nach seiner Auferstehung noch immer nicht aufnehmen würden. Der Engel bestätigt das gewissermaßen durch seinen Auftrag, und die Verse 11–15 in unserem Kapitel beweisen es.

Der Herr Jesus ist nicht mehr auf der Erde, um als König sein Königreich (jetzt) anzutreten. Seine Mission trägt nach seiner Auferstehung den Charakter eines Überrestes. Seine große Herrlichkeit als Messias kann Er zunächst nicht offenbaren. Darauf müssen die Jünger und auch wir, ja selbst Christus bis zu einem künftigen Tag warten.

Die Frauen waren nach dieser Begegnung von sehr gegensätzlichen Empfindungen bewegt: Wir lesen sowohl von Furcht als auch von großer Freude. Aber sie haben genug Vertrauen zu ihren Auftraggebern, den Engeln, dass sie diese Botschaft den Jüngern Jesu verkündigen wollen. Sie waren in diesem Sinn dem Wort gläubig und gehorsam. Dieser Glaubensgehorsam wird bald durch eine Erscheinung des auferstandenen Herrn belohnt.

Die Frauen gehen hin und verkündigen die neue, gute Botschaft den Jüngern. So ist es immer: Wenn das Herz die göttliche Wahrheit aufnimmt und sich daran erfreut, kann es diese nicht für sich behalten. Der Gläubige muss die empfangene Freude und Segnung auch anderen mitteilen. Das gilt im übertragenen Sinn auch für uns heute. Die Freude des Heils können wir nicht für uns behalten. Wir wollen sie mit anderen teilen und unseren Mitmenschen von der guten Botschaft berichten.

Was für eine Konsequenz hat die Auferstehung Jesu für die Gläubigen?

Bevor wir zum nächsten Abschnitt weitergehen, möchte ich noch einmal die Eingangsfrage aufgreifen: Was für eine Konsequenz hat die Auferstehung des Herrn für die Gläubigen? Die Antwort darauf habe ich nebenbei schon gegeben. Zusammengefasst kann man sagen: Ihnen wird die Furcht genommen, sie bekommen Heilsgewissheit und werden Zeugen auf der Erde von der Auferstehung Jesu. Dieses Bewusstsein darf uns heute kennzeichnen. Und der Auftrag bleibt bestehen, bis wir beim Herrn Jesus sein werden. Wir wollen ihn uns zu Herzen nehmen.

Die Auferstehung Christi ist für den Gläubigen außerordentlich wichtig, denn Er ist das Leben des Gläubigen. Sie ist der Sieg über Tod, Sünde, Satan und dessen Macht. Es konnte den Anschein haben, dass alles mit dem Tod Jesu verloren war. Aber das Gegenteil ist der Fall: Der Tod Jesu gibt den Menschen überhaupt erst wahre Hoffnung. Das wissen wir aber erst, seitdem der Herr am dritten Tag auferstanden ist. Nichts ist grundlegender und auf nichts muss, was das Glaubensfundament betrifft, mehr bestanden werden, als auf der Auferstehung. Der volle, gesicherte Friede basiert auf dieser soliden Grundlage, auf die Gott zeigt: auf dem Tod und der Auferstehung Jesu (2. Tim 2,8).

Wenn der Tod des Herrn all mein Böses und meine Sünden trifft und betrifft, so ist seine Auferstehung die Quelle jeden Segens. Sie zeigt uns, dass neues, Auferstehungs-Leben vorhanden ist. Sie ist ein Zeugnis der Annahme des Werkes Christi und damit des erlösten Sünders durch Gott (Röm 4,25). Das Gericht ist damit für die Erlösten von ihrem Stellvertreter ein für alle Mal getragen worden. Unser Leben, unser Friede, unser neuer Platz vor Gott – alles ist verbunden mit dem auferstandenen Christus.

Die einzigartige Kraft Gottes in der Auferstehung Jesu

Das alles mag vollständig an dieser Welt vorbeigegangen sein. Sie hat Christus tatsächlich nicht mehr gesehen seit seiner Grablegung. Sie kennt den Auferstandenen nicht von Angesicht. Der „normale“ Kurs der Welt wurde nicht durch die Auferstehung Jesu unterbrochen. Man hat den Eindruck, dass dieses „große Ereignis“ die Menschen nicht erreichte, als ob die Menschen wie immer geschlafen hätten und wieder aufgestanden wären, als wäre nichts passiert. Dennoch handelte es sich um das größte Werk der Kraft, das jemals auf dieser Erde vollbracht worden ist und die Gott je bewirkt hat. Dieses Werk der Macht Gottes baute auf den schlimmsten Leiden auf, die je von einem Menschen erduldet worden sind. Und es ist die größte Machtentfaltung, die Gott je offenbart hat und offenbaren wird. Das gilt auch im Blick auf die erste Schöpfung und auf den Tag, an dem Er alles entsprechend seiner eigenen Herrlichkeit neu machen wird.

Die Auferweckung aller entschlafenen Heiligen, die Neuschöpfung, die Gott vollbringen wird, die Entrückung der Gläubigen, das Auflösen der ersten Schöpfung: Das alles sind letztlich nur Konsequenzen der Auferstehung Christi. Die Kraft und die Macht, die in der Auferweckung des Herrn wirksam wurden, sind einzigartig. Das bezeugt der Apostel Paulus: „Welches die überragende Größe seiner Kraft an uns, den Glaubenden, nach der Wirksamkeit der Macht seiner Stärke, in der er gewirkt hat in dem Christus, indem er ihn aus den Toten auferweckte“ (Eph 1,18.19). Die kommenden Anwendungen der Macht an uns sind letztlich nichts anderes als ein Spiegel dessen, was an Ihm schon wirksam wurde. Für Christus hat Gott jeden Aspekt und jede Seite seiner Kraft und Macht eingesetzt. Warum? Weil es sein Sohn war, der in den Tod ging. Es ist die gerechte und angemessene Antwort Gottes auf die Hingabe seines Sohnes, des Menschen Jesus Christus, bis in den Tod.

Die Welt kümmerte sich um diese Macht Gottes nicht. Den Gläubigen dagegen beeindruckt sie. Inmitten von Schwachheit und Tod ist diese große Macht Gottes wirksam geworden und hat die Auferstehung Christi bewirkt. Mehr konnte Gott nicht tun, mehr aber musste Er auch nicht tun, um die Sünde auszulöschen. Diese ist durch das Opfer Christi ein für alle Mal weggetan worden. Der Mensch braucht eine volle Befreiung von der Sünde und dem Gericht und daher auch ein vollständiges Gericht über die Sünde. Genau das hat Gott in dem Herrn Jesus bewirkt:

„Also ist jetzt keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind ... Denn das dem Gesetz Unmögliche, weil es durch das Fleisch kraftlos war, tat Gott, indem er, seinen eigenen Sohn in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde und für die Sünde sendend, die Sünde im Fleisch verurteilte ... Wenn aber der Geist dessen, der Jesus aus den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er, der Christus aus den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen wegen seines in euch wohnenden Geistes“ (Röm 8,1.3.11). Wir können mit Gott keine Gemeinschaft haben als nur auf der Grundlage der gerechten Verurteilung und Abschaffung der Sünde. Das geschah im Tod Jesu. Die Gewissheit dieser Befreiung bekommen wir durch seine Auferstehung. Daher ist sie grundlegend für den Frieden und die Sicherheit eines Menschen.

4. Konsequenzen für die Juden (die Jünger, Brüder, Verse 9.10)

„Als sie aber hingingen, um es seinen Jüngern zu verkünden, siehe, da kam Jesus ihnen entgegen und sprach: Seid gegrüßt! Sie aber traten herzu, umfassten seine Füße und huldigten ihm. Da spricht Jesus zu ihnen: Fürchtet euch nicht; geht hin, verkündet meinen Brüdern, dass sie hingehen sollen nach Galiläa, und dort werden sie mich sehen“ (Verse 9.10).

In den Versen 9 und 10 lesen wir noch einmal vom Gehorsam der Frauen, die hingingen, um die Auferstehung des Herrn seinen Jüngern zu verkünden. Warum spricht der Evangelist ein zweites Mal davon? Gott möchte den Glauben und die Treue dieser Frauen betonen. Angesichts einer solchen Hingabe kann der Herr Jesus nicht schweigen. Ja noch mehr: Er offenbart sich den Frauen, und zwar bevor Er den Jüngern erscheint.

Wir lesen, dass Jesus den Frauen entgegenkam. Ihm war diese Begegnung so wichtig, dass Er nicht blieb, wo Er war, sondern diesen Frauen entgegenging. Er begrüßt sie in herzlicher Weise: „Seid gegrüßt“ – ein Ruf der Freude. Wir erinnern uns daran, dass dem Herrn gerade diese Anrede zweimal im Spott und Zynismus entgegenschallte, als Judas Iskariot Ihn im Garten Gethsemane begrüßte. Damals fielen die Soldaten höhnisch vor Ihm nieder (26,49; 27,29). Jetzt aber fallen Menschen huldigend vor Ihm auf den Boden. Der Herr zeigt hier, was dieser Gruß eigentlich bedeutete: Voller Freude konnte Er solche, die Ihn liebten, aufnehmen. Er hatte Gemeinschaft mit ihnen.

Wir können gut verstehen, dass die Frauen überwältigt sind. Auch wenn sie die Worte der Engel schon vorher gehört hatten, war es doch etwas anderes, Christus persönlich und leibhaftig vor sich zu sehen. Hier stand Der, den sie so sehr liebten und den sie als ihren Retter und Meister verehrten. Daher umfassten sie seine Füße und huldigten Ihm. Das war die rechte Haltung gegenüber Dem, der ihr König war. Auch diese Hingabe lässt der Herr nicht unbeantwortet. Nachdem die Frauen zu seinen Füßen als Anbeter niedergefallen sind, macht der Herr sie zu seinen Boten. So sind sie nicht allein von anderen Boten Christi, den Engeln, ausgesandt, sondern vom Herrn Jesus selbst.

Die Botschaft im Matthäusevangelium im Vergleich zum Johannesevangelium

Auch Jesus spricht zu den Frauen die ermutigenden Worte, die sie schon von den Engeln gehört hatten: „Fürchtet euch nicht.“ Er möchte kein Retter und König sein, vor dem die Seinen Angst haben. Sie sollen Ihm vertrauen. Damit nicht genug: Er gibt ihnen den Auftrag, den Er ihnen durch die Engel schon hat ausrichten lassen: „Geht hin, verkündet meinen Brüdern“. Diese Worte kennen wir auch aus dem Johannesevangelium. Aber dort bedeuten sie etwas ganz anderes. In unserem Evangelium wird der Herr Jesus in seiner Beziehung zu Israel gesehen. Er ist der auferstandene Messias, der eine tiefgehende Beziehung zu seinen gläubigen Übriggebliebenen unterhält. Das weist in prophetischer Weise auf eine Zeit hin, in der nicht – wie heute – allein der Glaube im Mittelpunkt steht, sondern auch Sehen und Berühren. Es ist jüdischer und nicht christlicher „Boden“. Daher dürfen die Frauen, die für diesen Überrest stehen, seine Füße umfassen. So, wie die Frauen zu seinen Füßen niederfallen und Ihn anbeten, wird sein irdisches Volk an einem zukünftigen Tag zum Herrn kommen. Dann werden sie Ihn als Messias annehmen.

In Johannes dagegen lesen wir etwas ganz anderes. Dort spricht der Herr Jesus zu Maria Magdalene: „Rühre mich nicht an, denn ich bin noch nicht aufgefahren zu meinem Vater. Geh aber hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater und meinem Gott und eurem Gott“ (Joh 20,17). Johannes spricht von der himmlischen Seite des Herrn als Sohn des Vaters, der eine Beziehung zu seiner himmlischen Familie pflegt. Matthäus dagegen weist auf Jesus von seiner irdischen Perspektive als Messias hin, der zu seinem irdischen Volk gläubiger Juden kommt.

Johannes zeigt, dass die Beziehungen zu seiner geistlichen, himmlischen Familie auf einer ganz neuen Grundlage beruhen: Er würde auffahren und weggehen, während sie auf der Erde zurückbleiben. Seine Verbindung würde also nicht mehr körperlich-materiell, sondern rein geistlich sein. Daher durfte Maria Ihn nach Johannes 20 nicht anfassen. Der Herr Jesus würde neue Brüder haben. Aber sie wären Brüder im geistlichen, himmlischen Sinn.

Im Matthäusevangelium dagegen bleibt der Herr Jesus auf der Erde – von seiner Himmelfahrt wird nicht berichtet. Die gläubigen Juden würden seine irdischen Brüder sein und eine sichtbare Beziehung zu Ihm genießen. Als solche durften sie Ihn umfassen. Zugleich nahm der Herr durch die Entgegennahme der Huldigung der „Töchter Galiläas“ sozusagen seine besondere Verbindung zu den Juden in den letzten, künftigen Tagen vorweg. Ein Jude rechnet mit der körperlichen Anwesenheit des Herrn.

Im Johannesevangelium ist es genau umgekehrt. Hier wird der gläubige Jude aus seinen jüdischen Beziehungen herausgenommen. Er wird in eine Beziehung zum himmlischen Herrn gebracht, der im Begriff stand, in den Himmel aufzufahren. Johannes spricht also von einer himmlischen, geistlichen Anbetung. Christus ist jetzt unsichtbar, bleibt aber dem Glauben nach seiner Familie bekannt. Bei den Frauen im Matthäusevangelium stellte Er sich auf der Erde der Anbetung zur Verfügung. Er war der irdische Regent. Die Frau im Johannesevangelium dagegen sollte Ihn nur noch als den Himmlischen kennen (2. Kor 5,16).

Die große Hoffnung Israels war und ist es, Christus körperlich als Messias in ihrer Mitte zu haben. Für uns Christen jedoch ist die Anwesenheit Christi in der Herrlichkeit, während wir hier auf der Erde durch eine Zeit der Prüfung gehen, charakteristisch.

In Johannes geht es um eine himmlische Hoffnung, eine himmlische Familie und himmlische Wohnungen, die bereitet sind. Deshalb sagt der Herr Jesus dort: „Ich fahre auf.“ In Matthäus dagegen bleibt Er als der von Juden Verworfene und verachtete Messias bei den Seinen bis zur Vollendung des Zeitalters.

Galiläa – der Ort der Verwerfung des Herrn wird der Wohnort seiner Brüder

Erneut wird nun die Gegend Galiläas betont. Wir haben gesehen, dass der Herr schon kurz vor dem Kreuz im Anschluss an das Abendmahl davon sprach. Dann war es die Botschaft des Engels an die Frauen, dass der Meister die Jünger in Galiläa treffen würde. Jetzt spricht der Herr Jesus selbst davon. Er setzt sein Werk unter den Armen der Herde im verachteten Teil Israels fort, fern vom Sitz jüdischer Überlieferungen, fern vom Tempel und von allem, was nach dem alten Bund das Volk mit Gott verband. Was für Ihn gilt, sollte auch für seine Brüder, also für alle diejenigen Juden gelten, die Ihn als Messias kannten und auch weiter aufnehmen würden.

Zum ersten Mal nach seiner Auferstehung spricht der Herr Jesus hier im Matthäusevangelium von „seinen Brüdern“. Er hatte das schon in Kapitel 25 im Blick auf diejenigen getan, die als Boten zu allen Nationen aufbrechen werden. Hier nun nennt Er seine Jünger direkt seine Brüder. Wir haben gesehen, dass der Herr Jesus in Johannes 20 in anderem Sinn von Brüdern spricht. Hebräer 2,11 zeigt uns eine vergleichbare Bedeutung, wie wir sie hier finden: „Denn sowohl der, der heiligt, als auch die, die geheiligt werden, sind alle von einem; um welcher Ursache willen er sich nicht schämt, sie Brüder zu nennen, indem er spricht: „Ich will deinen Namen meinen Brüdern kundtun; inmitten der Versammlung will ich dir lobsingen'“ (vgl. auch Ps 22,23). Gerade dieser Psalm, der die große Prophetie der Leiden und der Erhöhung Christi zeigt, wie Matthäus sie beschreibt, hat nach der Erhöhung des Herrn Jesus diese Brüder im Blickfeld.

Wir gehören nicht zu diesen jüdischen Gläubigen. Aber der Herr Jesus ist und bleibt auch in der Christenheit der Verworfene. Wir werden Christus nur dann „geistlicherweise“ sehen können, wenn wir uns an dem Ort aufhalten, wo Er der Verworfene ist. Wenn wir unsere Erfüllung in irdischen Zielen suchen, werden wir geistlicherweise in Jerusalem wohnen. Wenn wir bereit sind, seine Schmach zu teilen (vgl. Heb 11,26), werden wir Christus „in Galiläa“ sehen. Mit solchen verbindet Er sich.

In Lukas geht es nach der Auferstehung des Herrn nicht mehr um Galiläa, sondern dort begleitet Er die zwei Jünger auf dem Weg nach Emmaus. Da ist Jerusalem das Zentrum der Geschehnisse, von wo ausgehend das Evangelium in immer größeren Kreisen verkündigt werden soll. In Matthäus dagegen geht es um Galiläa. Diese Gegend bleibt eben der Sitz der Verwerfung Jesu. Ist es nicht erstaunlich, dass der eine Evangelist Jerusalem als Treffpunkt des Herrn mit seinen Jüngern nennt, der andere aber Galiläa?

Wir wollen lernen, auf die göttliche Stimme in den einzelnen Bibelbüchern zu hören, wie sie uns jeweils auf einen bestimmten Weg führt. Während des gesamten Evangeliums finden wir den Herrn Jesus in Galiläa. Der Ausruf: „Wir haben ihn für nichts geachtet ... Wir hielten ihn für bestraft“ (vgl. Jes 53,3.4) schildert genau die Gefühle der Juden in und um Jerusalem. Sie wollten einen Messias, der zu ihren irdischen Ideen passte. Ihre Enttäuschung darüber, dass der Herr Jesus ganz anders war, schlug sich in der Verwerfung dieses Königs nieder. Aus diesem Grund hat Er den Schwerpunkt seines Wirkens in Galiläa gesetzt. Daher berichtet Matthäus praktisch ausschließlich vom Wirken in dieser Gegend. Dort verband Er sich mit den Verachteten der Juden. Darum wurde dort und praktisch nur dort das große Licht gesehen von einem Volk, das im Finstern wandelte (Jes 8.9). Jerusalem, die Führer in Israel, das Volk insgesamt wird Ihn erst wieder sehen, wenn sie sprechen werden: „Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ (Mt 23,39).

5. Folgen für die jüdischen Verführer, Feinde des Messias (Führer Israels, Verse 11–15)

Während sie aber hingingen, siehe, da kamen einige von der Wache in die Stadt und verkündeten den Hohenpriestern alles, was geschehen war. Und sie versammelten sich mit den Ältesten und hielten Rat; und sie gaben den Soldaten reichlich Geld und sagten: Sprecht: Seine Jünger kamen bei Nacht und stahlen ihn, während wir schliefen. Und wenn dies dem Statthalter zu Ohren kommen sollte, werden wir ihn beschwichtigen und machen, dass ihr ohne Sorge seid. Sie aber nahmen das Geld und taten, wie sie unterrichtet worden waren. Und diese Rede wurde bei den Juden bekannt bis auf den heutigen Tag (Verse 11–15).

Die Verse 11–15 stellen einen Einschub dar. Wie schon über das Aufstellen der Wachen berichtet nur Matthäus über diese Szene. Die Auseinandersetzung der Juden mit den Soldaten liefert uns einen denkwürdigen Gegensatz zu der Begegnung des Auferstandenen mit den gläubigen Frauen. Wir wechseln von der leuchtenden Szene der Auferstehung zu der Finsternis des Unglaubens. Statt Freude, Glaube, Anbetung und treuem Zeugnis haben wir jetzt ein dichtes Dunkel von Hass, Intrigen, Bestechung und Verdorbenheit vor uns. Das alles gipfelt schließlich in einer abscheulichen Lüge, deren Falschheit mit Händen zu greifen ist.

Dieser Kontrast wird durch die zeitliche Gleichzeitigkeit unterstrichen. Die einen gingen im Gehorsam hin, um zu verkünden, zu zeugen und sich zu freuen. Die Wächter gingen ebenfalls hin. Aber die Gesellschaft der Hohenpriester, der Ältesten und des Synedriums, auf die sie treffen, versucht, sich weiter gegen Gott aufzulehnen.

Wenn die Soldaten geschlafen hatten, wie konnten sie wissen und den Menschen bezeugen, was geschehen war? Geld und Geldliebe spielten bei diesem besonders schlimmen Handeln eine wichtige Rolle. „Geldliebe ist eine Wurzel alles Bösen“, sagt uns Paulus (1. Tim 6,10). Das, was wir hier lesen, unterstreicht die Wahrheit dieser Worte. Die Soldaten wurden bestochen, und man kann wohl vermuten, dass der Statthalter auf ähnliche Weise gekauft wurde. Das alles sind Anstrengungen Satans, um zu verhindern, dass die Wahrheit der Auferstehung ans Licht kommt. Kein Wunder, dass wir auch heute so viele Bemühungen gerade von (ungläubigen) Theologen unter der Führung des Teufels finden, das leere Grab zu leugnen. Jeder Aberglaube ist in den Augen Satans besser als der biblische Glaube. Er findet – wie hier bei den Wachen – begierige Abnehmer.

Die zweite Bosheit des Synedriums

Innerhalb weniger Tage kommt das Synedrium ein zweites Mal zu einem unehrlichen, bösen Entschluss. Sie hatten Christus zu Unrecht verurteilt. Jetzt wollen sie durch ein zweites böses Handeln verhindern, dass die Wahrheit über seine Auferstehung bekannt wird. Letztlich konnten sie die Realität weder ungeschehen machen noch verbergen. Aber versuchen konnten sie es. Judas gaben sie nur dreißig Silberstücke, um den Tod des Herrn herbeizuführen. Diesen Soldaten mussten sie mehr geben, um sie zum Schweigen zu bringen. Wir lesen von „reichlich Geld“. Dazu waren sie bereit, um nur die Wahrheit verhüllen und die Öffentlichkeit betrügen zu können.

Wie dumm aber sind oft die Pläne des Menschen. „Das Herz des Menschen erdenkt seinen Weg, aber der Herr lenkt seine Schritte“ (Spr 16,9), wusste schon Salomo zu sagen. So auch hier. Wer sollte glauben, dass alle vier Soldaten so „laut“ geschlafen haben, dass keiner hören konnte, dass die Jünger das Siegel brachen? Wie sollte es möglich sein, dass sie es nicht bemerkten, wie der schwere Stein weggewälzt wurde? Das hätte einen Lärm verursachen müssen, der jeden Schlaf beendet. Und wie sollten die Soldaten wissen, wenn sie schliefen, dass es die Jünger waren, die den Stein weggewälzt hatten? Das alles fiel auf die Juden zurück. Denn was für unbrauchbare Wachen hatten sie bzw. die Römer dann eigentlich? Wer sollte das für glaubwürdig halten?

Wenn wir über die Wirkung der Auferstehung auf die ungläubigen Juden nachdenken, müssen wir sagen: Ihr Herz verhärtete sich zunehmend. Diese bösen Menschen waren bereit, mehr und mehr Geld dafür auszugeben, die Wahrheit zu verschleiern. Die Wachen waren ja letztlich die ersten Zeugen des leeren Grabes. So machte Gott aus den Vertretern der Feinde sozusagen die ersten Augenzeugen des Triumphes Christi.

Offenbar wurde eilig das ganze Synedrium zusammengeholt. Die Tatsache, dass hier von „Rat halten“ bzw. einem Beschluss die Rede ist, deutet darauf hin, dass das Synedrium zusammenkam. Man fragt sich: Waren Joseph und Nikodemus dabei? Das ist wohl auszuschließen.

Die Art und Weise, in der die Wachen aufgrund ihres militärischen Trainings die Ereignisse weitergaben, zeigte offenbar allen Anwesenden, dass sie die Wahrheit sagten. Von Zweifeln lesen wir nichts. Die Erregung der Wachen, ihre furchtvollen Blicke und die Beweise, dass sie eine schreckliche Erfahrung gemacht hatten, unterstrichen die Richtigkeit dessen, was sie erzählten. Das Synedrium konnte diesen Bericht nur als wahr hinnehmen. Sie als falsche Zeugen zu beschimpfen – das wussten sie –, würde die Sache nur schlimmer machen. Aus welchen Gründen sollten die Soldaten denn überhaupt das Grab verlassen haben?

Man kann sich im Übrigen fragen, warum die Wachen zu den Hohenpriestern kamen und nicht zu Pilatus. Das wäre ihr normaler „erster Gang“ gewesen. Aber möglicherweise hatten sie Sorge, dass ihnen bei diesem unbeherrschten und unberechenbaren Mann Schlimmeres drohte. Zudem hat es den Anschein, wenn auch Pilatus nicht die Verantwortung für die Bewachung des Grabes übernahm, dass es sich um römische Soldaten handelte. Das macht Vers 14 deutlich. Wahrscheinlich erhofften sich die Wachen die beste Unterstützung bei den Führern Israels, die alles darangesetzt hatten, diese Wachen aufzustellen.

Eine bewusste Lüge

Die Juden werden nach diesem Bericht sicher intensiv darüber nachgedacht haben, was sie machen konnten, um ihre Ehre zu erhalten. Ob der eine oder andere von ihnen auch an die Taten von Joseph und Nikodemus gedacht hat, die ja zwei von ihnen waren? Ihre Ehre und der Hass gegen Christus und die Seinen triumphierte. So kamen sie zu dem Schluss, die Botschaft seiner Auferstehung unbedingt verhindern zu müssen, obwohl sie nun sicher wussten, dass Er wirklich auferstanden war. Der Tempel, den sie zerstört hatten, war wirklich wieder aufgerichtet worden – wie Er ihnen angekündigt hatte (Joh 2,19). Gerade die Wachen, die sie selbst vor die Gruft gestellt hatten, um jede Lüge zu verhindern, mussten das bekennen. So sahen diese Menschen, wie hoffnungslos ihre Lage geworden war. Wenn ihr Gewissen noch funktionierte, mussten sie sich wenigstens insgeheim eingestehen, dass sie auf der falschen Seite standen.

In ihrer Blindheit verfolgen sie mit ihren dunklen Herzen den einen Plan: Die Wahrheit über die Auferstehung musste möglichst glaubwürdig geleugnet werden. Das aber konnte nur geschehen, indem sie eine Lüge verbreiteten: Die Jünger haben den Leib Jesu gestohlen. Aber wie sollte das möglich gewesen sein bei diesen bewaffneten Wachen, von denen man ja wusste, dass sie dort aufgestellt worden waren?

Es ist erstaunlich, dass diese durchsichtige Lüge bis auf den heutigen Tag von den Juden festgehalten wird. Nicht nur Matthäus kann das so schreiben. Jeder, der sich einmal mit Juden darüber unterhalten muss, kann dies bestätigen. Josephus, der jüdische Geschichtsschreiber des ersten Jahrhunderts, berichtet allerdings schon früh, dass der Herr am dritten Tag seinen Jüngern erschien, wie die Propheten vorhergesagt hatten.

Wir erkennen aus diesen Begebenheiten, dass die jüdischen Führer immer wieder die Führung im Bösen übernommen haben. Zuerst haben sie Christus zu Tode gebracht (Kap. 26.27). Dann fuhren sie fort damit, während Er im Grab lag (27,62–66). Schließlich machten sie auf diesem Weg weiter, als Er auferstanden war (28,11–15). So versuchten sie zu verhindern, dass die gute Botschaft des Todes und der Auferstehung Jesu verkündigt werden konnte. Aber der Unglaube ist letztlich viel zu schwach gegen Gott, während der Glaube stark ist, mit und durch Ihn. So wurden ihre eigenen Wachen zum klarsten, unabsichtlichsten und am wenigsten erwarteten Zeugnis der Auferstehung.

Die Hohenpriester hatten noch eine zweite Flanke zu berücksichtigen. Sie wussten, dass Schlafen für römische Wachen eine todeswürdige Vernachlässigung ihrer Pflichten war. Daher würden sie bei dem Statthalter zu deren Gunsten intervenieren, wenn dieser hörte, dass sie nicht fähig gewesen waren, das Grab ausreichend zu sichern. Das war der Sinn von „Ehre“ unter diesen so hoch religiösen Menschen.

Zum Schluss lesen wird, dass die Wachen ihre Furcht vor dem Engel vergessen hatten und durch ihre Gier nach Geld beeinflussbar waren. Sie logen schamlos, so dass schon in den Tagen des Evangelisten Matthäus diese Lüge allgemein unter dem Volk akzeptiert wurde. Wenn der Mensch die Lüge mehr liebt als die Wahrheit, wird er sie ohne Frage akzeptieren.

6. Konsequenzen für die Boten des Herrn (Jünger, Verse 16–20)

„Die elf Jünger aber gingen nach Galiläa, an den Berg, wohin Jesus sie beschieden hatte. Und als sie ihn sahen, warfen sie sich vor ihm nieder; einige aber zweifelten. Und Jesus trat herzu und redete zu ihnen und sprach: Mir ist alle Gewalt gegeben im Himmel und auf der Erde. Geht nun hin und macht alle Nationen zu Jüngern und tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie, alles zu bewahren, was ich euch geboten habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung des Zeitalters“ (Verse 16–20).

Seit dem Auferstehungstag des Herrn war inzwischen eine längere Zeit vergangen. Matthäus sagt nichts über die persönlichen Erscheinungen des Herrn für Maria Magdalene (Joh 20,11-17), die Emmausjünger (Lk 24,13-32) und Petrus (Lk 24,34). Er nennt auch nicht die Erscheinung im Obersaal am Auferstehungstag oder eine Woche später (Joh 20,19.26).

Stattdessen berichtet er uns viel ausführlicher als die anderen Evangelisten vom Aufenthalt der Jünger in Galiläa. Diese leisteten der Aufforderung ihres Herrn Gehorsam und gingen in den Norden Israels. Elf Jünger – das muss den Herrn geschmerzt haben. Einer war nicht mehr dabei. Er hatte sich selbst Satan ausgeliefert und, inspiriert durch den Teufel, den Sohn des Menschen in die Hände von Sündern verraten. Jetzt wartet er schon auf den Tag vor dem großen weißen Thron, um dort von dem gerichtet zu werden, den er auf schmähliche Weise überliefert hat. Dann wird er in den Feuersee geworfen, um ewig Qualen zu erleiden. Was für eine Tragik, hier das erste Mal von elf und nicht mehr von zwölf Jüngern zu lesen.

Dann lesen wir noch vom zusätzlichen Hinweis, dass es ein Berg war, zu dem der Herr seine Jünger bestellt hatte. Wir wissen nicht, von welchem Berg genau Matthäus hier spricht. Ein Ausleger nennt Matthäus den Evangelisten des Berges, weil er immer wieder von Bergen spricht, auf die der Herr gestiegen ist. Wir haben schon früher gesehen, dass Berge eine wichtige Rolle in den Berichten von Matthäus spielen:

Der Berg

  1. In Matthäus 5,1 lesen wir, dass Er ihnen auf einem Berg die Grundsätze des Königreichs der Himmel verkündigt.
  2. In Matthäus 14,23 lernen wir, dass wir es „auf dem Berg“ mit einem betenden König zu tun haben.
  3. In Matthäus 15,29 lesen wir, wie Er als Messias Wunder und Segen auf dem Berg vollbringt, die von dem König auch zukünftig in seinem Reich ausgehen werden.
  4. In Matthäus 17,1 ff. werden wir Ohrenzeugen der bildhaften Verkündigung der Herrlichkeit des kommenden Königreichs. Der hohe Berg erinnert uns an die majestätische Größe dieses Reichs, weit erhaben und getrennt von allen Institutionen der Menschen.
  5. In Kapitel 21,1 lesen wir, dass der Herr dort seinen Platz als Sohn Davids einnahm, um dann nach Jerusalem zu reiten.
  6. Auf dem Ölberg gab der Herr nach Matthäus 24 und 25 seinen Jüngern einen großartigen Diskurs über die Zukunft der Juden, Christen und Nationen.
  7. In Matthäus 28,16 sehen wir schließlich, dass der Herr von einem Berg aus seine Jünger als Boten seines Königreichs aussendet.

Nun sehen wir Jesus und die Seinen auf einem Berg in Galiläa. Warum Galiläa? Wir haben diesen Landesteil schon mehrfach in diesem Evangelium vor uns gehabt. Er nimmt bei Matthäus einen wichtigen Platz ein. Die Tatsache, dass der Herr in diesem verachteten Teil des Landes den größten Teil seines Dienstes ausgeführt hat, zeigt, dass Er der Verworfene war. Matthäus berichtet uns ja besonders von seinem Dienst in Galiläa, denn in Jerusalem wollte man Ihn nicht haben.

In der Hauptstadt des Landes wurde Christus nahezu von Anfang an abgelehnt. Schon Herodes versuchte, Ihn im Umfeld von Jerusalem in seiner Kindheit zu töten. Daher begann der Herr seinen Dienst im Galiläa der Nationen (Mt 4). Dort wohnten die unwissendsten Juden. Diese geistliche Unkenntnis hatte vielfach dazu geführt, dass sie sich mit den Heiden vermischt hatten.

Galiläa – der Ort der Verwerfung und des Herrn Jesus

Dass die Schriftgelehrten Galiläa und die Galiläer verachteten, haben wir schon im Verlauf des Evangeliums gesehen. Auch Johannes berichtet davon. Einmal sagten diese Führer zu Nikodemus: „Bist du etwa auch aus Galiläa? Forsche und sieh, dass aus Galiläa kein Prophet aufsteht“ (Joh 7,52).

Schon die erste Rückkehr Jesu nach Galiläa hatte eine „prophetische Seite“ und war die Erfüllung einer Weissagung. Sie war einerseits ein Zeichen dafür, dass Israel Ihn verwerfen würde (vgl. Mt 2,22). Andererseits erfüllte sie eine Weissagung Jesajas, dass das Volk, das in Finsternis saß, ein großes Licht sehen würde (Mt 4,16; Jes 8,23 - 9,1).

Nun hat sich die Ablehnung des Herrn durch Jerusalem im Laufe seines Lebens nicht verringert. Im Gegenteil. Wir haben gesehen, dass die Führer samt den Volksmengen ihren König sogar ans Kreuz gebracht haben. Das führte dazu, dass der Herr sogar als der Auferstandene nur kurz in Jerusalem bleiben wollte, um dann wieder in den Norden zu gehen, an den Platz seiner Verwerfung. Auch seine Jünger mussten dorthin gehen, um Ihn treffen zu können. Gerade in Galiläa gibt Er ihnen den großen Auftrag, das Königreich weltweit zu verkündigen.

Es gibt aber noch einen zweiten Grund dafür, dass wir den Herrn an diesem Ort finden. Denn in der an die Jünger gerichteten Botschaft findet man einen wichtigen Grundsatz, der sich für die Jünger mit Galiläa verbinden sollte. Warum gibt der Herr ihnen diesen Auftrag nicht im Tempel in Jerusalem, dem Ort, wohin der Herr seinen Namen gesetzt hatte? Von dort wird doch einmal nach den alttestamentlichen Weissagungen der Segen über die ganze Erde weiterfließen! Der Herr konnte seine Gegenwart nach seinem Tod nicht mehr mit dem verbinden, was früher einmal sein Haus genannt worden war. Denn wenn der König, der Sohn Gottes, verworfen war, dann auch die Seinen und sein Haus.

Das sollten die Jünger begreifen. Nur im Matthäusevangelium finden wir die Ankündigung der Versammlung (Gemeinde). Denn die Verwerfung des Herrn führte dazu, dass Er selbst seine Beziehung mit Israel für eine Zeit ruhen lassen würde. Stattdessen sollte diese Versammlung nun den Mittelpunkt seiner Zuneigungen haben. Auch wenn Er jetzt nicht noch einmal über die Versammlung spricht, verbindet Er doch mit Galiläa eine ganz neue Ordnung der Dinge. Der Herr übermittelt den Jüngern einen Auftrag, der nicht nur mit der Erde, sondern auch mit dem Himmel zu tun hat. Seine Autorität im Himmel würde hier auf der Erde ihre Darstellung finden, mit dem verworfenen und verachteten Christus als Mittelpunkt. Und das würde für die gläubigen Übriggebliebenen aus Israel und Juda ganz besonders gelten.

Wo der Herr ist

Solche, die dem Herrn Jesus gehorsam sein wollen, werden dort auf Ihn warten, wo Er die Seinen hinbestellt hat. Das ist alles, was sie nötig haben. Sie nehmen teil an der Schmach, welche die Welt auf seinen Namen bringt. Halten wir fest, dass die Treue zum Herrn immer die Verachtung der Welt zur Folge hat. Aber die Schmach des Christus ist weit herrlicher als das, was der Mensch als groß betrachtet. Das zu verwirklichen erfordert auf Seiten der Jünger des Herrn Entschiedenheit.

Die Reaktion der Jünger auf die Erscheinung des Herrn ist auch nach einigen Wochen dieselbe wie am Anfang: Sie werfen sich vor Ihm nieder. Das ist die angemessene Haltung eines Jüngers vor seinem Meister. Die Auferstehung des Herrn bewirkt bei dem Jünger eine Zunahme an Respekt und Gehorsam seinem gestorbenen und nun auferstandenen Meister gegenüber.

Hier wird nun hinzugefügt, dass „einige aber zweifelten“. Wir haben vielfach gesehen, dass sich Matthäus nicht so sehr um die Chronologie kümmert. Das heißt, dass wir auch in diesem Fall aus diesen Worten nicht schließen können, dass sie gerade jetzt zweifelten. Es wird hier auch nicht konkretisiert, wer gezweifelt hat. Manche glauben, dass sich Paulus auf diese Begebenheit in 1. Korinther 15,6 bezieht, wenn er von der Erscheinung des Herrn vor 500 Brüdern auf einmal spricht. Jedenfalls dürfen wir davon ausgehen, dass hier mehr als die 11 engsten Jünger des Herrn versammelt waren.

Vielleicht gehörten die Zweifler besonders zu den anderen galiläischen Jüngern. Man kann sich kaum vorstellen, dass die elf Jünger, die ihren Herrn und Meister schon mehrfach nach seiner Auferstehung gesehen haben, noch immer zweifelten. Dennoch wird uns dies so dargestellt. Will uns der Herr darauf vorbereiten, dass es bis zur Aufrichtung des Königreichs in Macht immer Jünger geben wird, die zweifeln? Es mag um Zweifel an der Person und an der Güte des Herrn gehen.

Wir dürfen hieran auch ein schönes Zeichen göttlicher Inspiration sehen: Wie gut ist Gott, der sich über die Gedanken der Menschen und ihre Zweifel erhebt. Menschen würden in ihrem Bericht einen solchen Zweifel zurückgehalten haben. Warum sollte man sagen, dass einige seiner Jünger zweifelten? Würde es nicht andere zu Fall bringen können? Das aber sind allein menschliche Überlegungen. Für uns ist es von Nutzen zu wissen, dass auch wir, obwohl wir gläubig geworden sind, zweifeln können. Auch unsere oft ungläubigen Herzen sind dazu fähig, sogar in der Gegenwart eines auferstandenen Jesus schwankend zu werden.

Die Schlussworte des Königs an seine Jünger

Damit kommen wir zu den Schlussworten dieses Evangeliums. Es sind zugleich abschließende Hinweise unseres Herrn. Darin lernen wir

  1. in Vers 18 etwas über die Autorität, die dem Herrn Jesus als König gegeben worden ist
  2. in Vers 19 etwas über den Auftrag der Jünger im Blick auf die Nationen (nicht die Juden)
  3. in Vers 20 etwas über die Gegenwart des Herrn bei seinen Jüngern bis zur Vollendung des Zeitalters.

Die Autorität des Königs über Himmel und Erde

Es ist so etwas wie der letzte Wille eines Menschen, sein Testament, das uns hier berichtet wird. So etwas hat immer ein besonderes Gewicht. Besonders, wenn diese Worte von unserem Herrn und Retter selbst kommen. Er sagt seinen Jüngern, dass Ihm alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf der Erde. Diese Autorität soll nicht unbekannt bleiben. Daher erhalten die Jünger in den nächsten Versen den Auftrag, diese Rechte des Herrn allen Nationen zu verkündigen. Wer sich dem Herrn in diesen Rechten unterordnet, wird zu einem Jünger Jesu und kann den Segen Gottes genießen.

Wie ist der Herr zu diesem Platz himmlischer Macht über alle Dinge gekommen? Durch seine Leiden und die Verwerfung vonseiten der Juden. Matthäus spricht hier nicht von der Autorität, die der Herr Jesus als der ewige Sohn Gottes ohnehin in sich selbst besitzt. Hier ist Ihm Gewalt gegeben worden. Sie ist die Antwort auf seinen Gehorsam und seine Hingabe für Gott und zugunsten der Juden. „Ich aber sprach: Umsonst habe ich mich abgemüht, vergeblich und für nichts meine Kraft verzehrt; doch mein Recht ist bei dem Herrn und mein Lohn ist bei meinem Gott ... Ja, er spricht: Es ist zu gering, dass du mein Knecht seist, um die Stämme Jakobs aufzurichten und die Bewahrten von Israel zurückzubringen. Ich habe dich auch zum Licht der Nationen gesetzt, um meine Rettung zu sein bis an das Ende der Erde“ (Jes 49,4.6).

Man könnte auch sagen: Das Volk Israel hat seinen Messias, wie Er in Psalm 2 beschrieben wird, abgelehnt, verjagt und sogar ans Kreuz gebracht. Als Antwort erhöht Gott, sein Vater, Ihn als Sohn des Menschen nach Psalm 8 und macht Ihn zum Herrscher über die Werke der Hände Gottes. Christus ist gestellt über Irdisches und Himmlisches (vgl. Ps 8,7-10). Auch in diesem Psalm finden wir die Leiden an erster Stelle, bevor die Herrlichkeit danach kommt.

Wenn wir noch einmal an den ersten Vers unseres Evangeliums denken, dürfen wir auch sagen: Nachdem der Herr Jesus als Sohn Davids abgelehnt worden ist, bekommt Er als Sohn Abrahams Macht und Herrlichkeit über alles Geschaffene. Er hat Autorität, in erster Linie über alles (geschaffene) Himmlische und dann auch über das Irdische. Es gibt nichts, was Ihm nicht unterworfen ist (Heb 2,8). Dass der Himmel zuerst genannt wird, deutet das Ausmaß und das Neue der Autorität des Herrn an.

Gott öffnet hiermit eine vollständig neue Sphäre. Er hat damit keinen besonderen Wohnplatz mehr in einem speziellen Volk, sondern öffnet sich für alle Nationen. Noch immer steht der Gedanke des Königreichs im Mittelpunkt, wie die Taufe im nächsten Vers zeigt.

Der Herr Jesus sagt diese Worte, die Ihn an erster Stelle selbst betreffen, zu seinen Jüngern. So knüpft Er als der Auferstandene von Neuem die Verbindung zu jenem Überrest, zu dem als bedeutendste Glieder seine elf Jünger zählten. Aber der Herr spricht im Unterschied zu den anderen Evangelien nicht als der im Himmel Verherrlichte. Er tritt als Derjenige auf, der auf der Erde ist und von der Erde aus diese gewaltige Autorität über alles besitzt. Das stimmt mit seiner königlichen Würde überein. Nachdem Er auf dieser Erde den tiefsten Platz durch seine Leiden und seinen Tod auf sich genommen hat, wird Er mit absoluter Autorität belohnt. Er ist als Mensch über das gesamte Universum und auch die unsichtbare Schöpfung gestellt worden.

7. Konsequenzen für die Nationen – sie werden zu Jüngern (Verse 19.20)

Mit Vers 19 kommen wir zum siebten Ergebnis der Auferstehung. Dieses Mal sind die Nationen betroffen. Ihnen wird nun eine ganz besondere, eine wirklich neue Botschaft verkündigt. Damit haben wir hier zugleich den Missionsauftrag des Herrn an seine Jünger, wie Matthäus ihn vorstellt.

Der Missionsauftrag lautet: „Geht nun hin und macht alle Nationen zu Jüngern und tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie, alles zu bewahren, was ich euch geboten habe.“ Wenn man diesen Vers mit dem vorherigen verbindet, lernt man, dass die Jünger nicht nur den Namen des Herrn verkündigen sollten. Sie sollten Christus als den Herrn des Himmels und der Erde allen Nationen predigen. Ihre Sendung stand zudem nicht mit seinem Thron in Jerusalem in Verbindung. Alles, was sie sagen sollten, gründete sich auf das Bekenntnis des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.

Zunächst einmal ist es wichtig zu verstehen, dass dieser Auftrag nichts mit dem Gesetz vom Sinai zu tun hat. Er hat Gebote Jesu zum Inhalt, die ein Jünger gerne ausführt, weil sie in Übereinstimmung sind mit dem Leben, das er durch Christus geschenkt bekommen hat. Matthäus soll nicht den christlichen Auftrag enthüllen, ein Volk aus den Nationen für seinen Namen zu sammeln. Das war besonders Paulus und – vorgreifend – Lukas vorbehalten. Matthäus zeigt, dass die Jünger hingehen sollten, um dem Herrn Jesus für sein irdisches Königreich Jünger zu machen. Dazu sollen sie taufen und lehren.

Dieser Auftrag gilt gerade für die Zeit, in der das Königreich der Himmel in der verborgenen Form besteht, wie wir es in Matthäus 13 sahen. In der Zukunft wird dieser Auftrag vom gläubigen Überrest Israels wieder aufgenommen werden, nachdem die Versammlung entrückt worden ist. Sie werden das Evangelium des Reiches verkündigen und Menschen zu Jüngern Jesu machen.

Die Jünger Jesu kannten die Taufe. Schon Johannes der Täufer war, wie sein Name sagt, jemand gewesen, der getauft hatte. Er hatte sogar viele im Jordan getauft (vgl. Mt 3,6). Auch der Herr Jesus hatte Menschen durch die Taufe zu Jüngern gemacht, auch wenn Er selbst nicht der Täufer war (vgl. Joh 4,1.2). So war den Jüngern bekannt, dass die Taufe mit Jüngerschaft zu tun hatte. Und so, wie Israel auf Mose als den Führer getauft worden war (vgl. 1. Kor 10,2), sollte von nun an jeder Jünger auf den auferstandenen Christus getauft werden. Durch die Taufe unterstellt er sich der Autorität des Herrn Jesus. Das ist bis heute so.

Im Fokus der Jünger sollten allerdings von nun an nicht mehr die Juden stehen, die ihren Christus endgültig verworfen hatten. Der Herr sandte seine Jünger jetzt aus, um alle Nationen zu Jüngern zu machen. Das zeigt noch einmal den Wechsel der Epochen an. Jetzt würde es in einer viel höheren Weise eine Segensregierung Gottes geben. Das wird durch den Vergleich mit dem früheren Auftrag Jesu an dieselben Männer in Matthäus 10 deutlich. Damals wurde ihnen ausdrücklich untersagt, auf einen Weg der Nationen zu gehen (Mt 10,5). Nicht einmal in eine Stadt der Samariter sollten sie gehen, denn der Messias wandte sich zunächst (noch) ausschließlich an sein eigenes irdisches Volk.

Jetzt dagegen sollten die Jünger die Nationen auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes taufen. Das war etwas, was die Juden in dieser Weise nicht kannten. So steht diese „neue“ Taufe im Gegensatz zu den jüdischen Geboten und auch zur Beschneidung der Juden als Eintritt in den jüdischen Bereich. Die volle Offenbarung der Gottheit als Vater, Sohn und Heiliger Geist kontrastiert das jüdische Bewusstsein von Jahwe, ihrem Gott.

Alle Nationen standen von nun an im Blickfeld, die Grenzen Israels sollten die Jünger bewusst hinter sich lassen. Aber auch die Offenbarung, die ihnen als Juden gegeben worden war. „Alle Nationen“ heißt in diesem Zusammenhang, dass die Jünger keiner Nation das Evangelium und die Jüngerschaft verweigern sollte. Nicht gemeint ist natürlich, dass sie alle Menschen aus allen Nationen taufen sollten. Grundvoraussetzung für die Taufe bleibt noch immer die bewusste Hinwendung zu Jesus und die Bereitschaft, sich seiner Autorität zu unterwerfen.

Es kommt noch eine weitere Änderung im Vergleich zu früheren Aufträgen hinzu. Der Herr sprach nicht von Gott dem Allmächtigen, wie Ihn die Erzväter kannten. Er verweist auch nicht auf Jahwe, den Gott Israels. Jetzt war die volle Offenbarung Gottes gekommen. Es ist der Name des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, der das Christentum kennzeichnet. Daher ist es durchaus angebracht, diese Taufformel bei der christlichen Taufe zu verwenden. Denn sie steht mit der ganzen Offenbarung Gottes im Herrn Jesus in Verbindung. Das Jüdische war durch die Verwerfung des Herrn verdrängt worden. Das Alte ist vollständig beiseitegesetzt worden. An diese Stelle von Vorbildern und Schatten ist nun die volle Offenbarung des Namens Gottes getreten, die es erst nach dem vollbrachten Werk Christi gibt.

Die Voraussetzung für diese Offenbarung sind der Tod und die Auferstehung Jesu Christi. Die jüdische Umzäunung, in die Christus während der Tage seines Fleisches eingetreten war, gab es nun nicht mehr. Auch wenn der Wechsel der Epoche mit der Auferstehung des Herrn erst im Begriff stand, vollzogen zu werden, dämmerte er bereits. Das machen solche Verse deutlich, auch wenn erst die Niederkunft des Geistes und die Offenbarung der ganzen christlichen Wahrheit diesen Wechsel vollendeten und vollständig sichtbar machten.

Die Missionsaufträge in den einzelnen Evangelien

Jedem Leser wird auffallen, dass der Herr Jesus in allen vier Evangelien Missionsaufträge an seine Jünger verteilt. Wir wollen diese kurz streifen, um die Besonderheit bei Matthäus besser zu erkennen.

Markus

In Markus 16,15 lesen wir: „Geht hin in die ganze Welt und predigt der ganzen Schöpfung das Evangelium. Wer da glaubt und getauft wird, wird errettet werden; wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden.“

Hier finden wir die Verkündigung des Evangeliums zur Errettung der Seelen sowie das Gericht derjenigen, die nicht glauben. Es handelt sich dabei um die allgemeinste Form der Mission, die wir in den Evangelien finden. Die Jünger sollen sich an die ganze Schöpfung wenden. Gemeint sind natürlich nicht Pflanzen und Tiere, sondern die Menschen, egal wo sie wohnen und welcher sozialen Schicht sie angehören. Darin sind auch die Juden eingeschlossen. Auch ihnen wird die gute Botschaft vom Kreuz verkündigt. Das ist der Auftrag, den wir als Diener des Herrn haben und dem wir auch nachkommen sollen.

Lukas

Lukas benutzt einen anderen Blickwinkel. Er nennt nur einen indirekten Missionsauftrag: „Dann öffnete er ihnen das Verständnis, die Schriften zu verstehen, und sprach zu ihnen: So steht geschrieben, dass der Christus leiden und am dritten Tag auferstehen sollte aus den Toten und in seinem Namen Buße und Vergebung der Sünden gepredigt werden sollten allen Nationen, angefangen von Jerusalem. Ihr aber seid Zeugen hiervon; und siehe, ich sende die Verheißung meines Vaters auf euch. Ihr aber, bleibt in der Stadt, bis ihr angetan werdet mit Kraft aus der Höhe“ (Lk 24,45-49).

Bei Lukas geht es um Einsicht und Kraft. Diese sind Folge der Verherrlichung und Erhöhung Jesu. Die Jünger werden ermahnt, in Jerusalem zu bleiben, bis sie mit dieser Kraft ausgestattet würden. Denn dann, wenn der Heilige Geist vom Himmel auf die Erde kommen würde, um in erlösten Menschen zu wohnen, würden sie dieses Zeugnis kraftvoll ablegen können.

Als Zeugen Jesu konnten die Jünger von diesem Platz seiner Verwerfung nicht weggehen, bis sie mit Jesus zur Rechten Gottes verbunden wären. Diese Verbindung stellt der Heilige Geist in Kraft her. Denn, wie Johannes uns mitteilt, zeugt der Geist von Christus, dem Erhöhten (Joh 16,14). Das war etwas vollständig Neues. Es wurde also ein neues Zeugnis geboren, das ausgehend von Jerusalem verkündigt werden sollte. Gott macht gewissermaßen einen neuen Anfang. Im Unterschied zur Botschaft bei Matthäus lässt Er ausgehend von Jerusalem ein Zeugnis der Herrlichkeit verbreiten. Es soll Menschen in allen Nationen erreichen gemäß der Kraft des Heiligen Geistes. Es handelt sich hier um ein himmlisches Zeugnis, weil es durch den Heiligen Geist bewirkt wird, der aus dem Himmel zu den Jüngern kommen würde.

Dieses Zeugnis wird in der Apostelgeschichte wieder aufgenommen. Sie ist nicht so sehr eine Fortsetzung des Matthäusevangeliums als vielmehr des Evangeliums nach Lukas. Gerade Kapitel 1 zeigt dort, dass die Jünger bereits durch den Segen des auferstandenen Herrn Einsicht hatten, obwohl der Geist Gottes noch nicht gekommen war. Wie sie zum Beispiel mit der Wahl des zwölften Jüngers verfahren sollten, wurde ihnen ganz deutlich, weshalb sie noch um Klarheit durch das Los baten. Aber es fehlte ihnen noch die Kraft, um das Zeugnis auch mit Ausharren weiterzutragen. Dieses wurde ihnen mit dem Kommen des Heiligen Geistes geschenkt. In Lukas 24 haben wir somit den eigentlich christlichen Missionsauftrag. Das ist die Predigt der Buße und der Vergebung der Sünden.

Johannes

In Johannes 20 lesen wir: „Friede euch! Wie der Vater mich ausgesandt hat, sende auch ich euch. Und als er dies gesagt hatte, hauchte er in sie und spricht zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist! Welchen irgend ihr die Sünden vergebt, denen sind sie vergeben, welchen irgend ihr sie behaltet, sind sie behalten“ (Joh 20,21-23).

Der Herr hat den Jüngern als der Auferstandene und Auffahrende („Ich fahre auf zu meinem Vater ...“) von seinem Geist eingehaucht. Er hatte ihnen so Leben in Übereinstimmung mit der Kraft des Geistes Gottes gegeben. Daher sind sie ein Geist mit Ihm, mit Christus. Er besaß das Leben und die Autorität, anderen Leben zu geben, als Mensch (Joh 5,26). Zugleich war dieses Leben der Inbegriff der Kraft Gottes.

Christus, der letzte Adam, ist ein lebendig machender Geist. Gemäß der Kraft seines Lebens ist der Geist Gottes vom Vater gesandt worden. Er schenkt das, was der Mensch nötig hat: Vergebung. Aber der Herr gibt auch administrative Autorität, das heißt, dass Er seinen Aposteln die Autorität übertragen hat, Vergebung auf der Erde für Gott zu verwalten (vgl. Lk 5,20.24). Das ist nicht die ewige Sündenvergebung, sondern eine Sündenvergebung für diese Erde vor den Augen Gottes. So wurden Menschen, die sich bekehrt und entsprechend glaubwürdig auch vor Menschen eine Umkehr vollzogen hatten, in die praktische Gemeinschaft der Versammlung (Gemeinde) aufgenommen.

Der Herr Jesus hat die an Ihn glaubenden Menschen durch den Heiligen Geist lebendig gemacht. In dieser Lebenskraft wurden die Jünger dann als Apostel ausgesandt. Als Teilhaber seines Lebens sollten sie Aufgaben auf der Erde übernehmen, die bis dahin der Herr selbst wahrgenommen hatte. Der Vater hatte Ihn ausgesandt, und so sandte Er jetzt seine Jünger aus, um die Vergebung zu den Menschen zu tragen. Es ist eine Vergebung, die durch seinen Tod und seine Auferstehung vollständig vor Gott bewirkt worden ist. Daher konnte sie auch auf der Erde gemäß der Kraft des Geistes des Lebens verkündigt werden.

Das hat mit der äußeren Aufnahme von geretteten Menschen in die Versammlung zu tun. Die Kehrseite dieser Verantwortung ist die Ausübung von Zucht. Das betraf die Versammlung als solche, wie wir in Matthäus 18 sehen. Nach Johannes 20 und Matthäus 16 hat der Herr diese Autorität zunächst den Aposteln und besonders Petrus übertragen. Der Apostel Paulus bekam sie zugleich von dem verherrlichten Christus übertragen. Er war es, der geurteilt hatte, jemanden dem Satan zu überliefern (1. Kor 5,3.4) und der es in einem anderen Fall auch getan hat (vgl. 1. Tim 1,20).

Es war der Sohn Gottes, der vom Vater gesandt und durch die Kraft des in Ihm wohnenden Lebens Jünger aussandte. Dazu gab Er ihnen die Energie seines Lebens weiter, damit sie ihre Mission nach seinem Herzen der Liebe, vom Vater erfüllt, vollbringen könnten.

Matthäus

Damit kommen wir zu Matthäus. Er spricht, wie wir gesehen haben, vom verworfenen, gekreuzigten Messias. Für einen Augenblick gibt Er Jerusalem auf und überlässt diese Stadt Ihrer Torheit und Sünde. Er wendet sich also nicht mehr Jerusalem zu, sondern sendet als der Auferstandene die Botschaft zu den Nationen. Durch seinen Tod, seine Auferstehung und die Gabe der Autorität über Himmel und Erde vonseiten des Vaters besitzt Er auch als Mensch Gewalt. So kann Er eine Botschaft in den Mund seiner Jünger legen, die nicht länger für die Juden passend ist. Diese waren längst Empfänger seiner Verkündigungen gewesen, haben diese aber abgelehnt. Aber nicht nur das, sie haben sogar Ihn selbst, ihren Messias ans Kreuz gebracht. So besitzen sie keinen Anspruch mehr auf Ihn und seinen Segen.

Entsprechend spricht Er auch nicht mehr von dem einen, wahren Gott Israels in seiner Einheit, wie es im Alten Testament ausdrücklich betont wird (vgl. 5. Mo 6,4). Das heißt natürlich nicht, dass Gott seine Einheit aufgegeben hätte; dann hätte Er aufhören müssen, Gott zu sein. Nein, Er bleibt der eine Gott. Aber Er ist nicht mehr umgeben von dem einen Volk, das dieses gute und kostbare Gut bewahren sollte. Nun hat Gott seinen Segen erweitert und macht die Tür für die Nationen auf, indem Er seine Jünger zu diesen Nationen sendet. In dieser Verbindung offenbart sich dieser eine Gott als derjenige, der aus drei Personen besteht: Vater, Sohn, Heiliger Geist.

Es geht bei Matthäus nicht um die Einheit des Herrn mit der Versammlung oder des Geistes Gottes in der Versammlung, wie man sie in Epheser 4 findet. Unser Evangelist hat die Versammlung in den Kapiteln 16 und 18 angekündigt. Die Versammlung ist ein sichtbarer Beweis dafür, dass Israel nicht mehr Zeuge Gottes auf der Erde ist. Die Erfüllung dieser Ankündigungen und die Entfaltung der Wahrheit über die Versammlung ist jedoch die Aufgabe von Paulus. Er tut das sozusagen infolge des Missionsauftrages, wie ihn Lukas mitteilt.

Matthäus hat einen anderen Auftrag. Aber auch bei ihm geht es um eine ganz neue Offenbarung: Gott ist Einer, aber zugleich eine Einheit von drei Personen. Diese drei Personen wurden zwar durch die Propheten im Alten Testament bereits angekündigt:

  1. Psalm 2 spricht vom Sohn. Auch Agur deutet an, dass Gott einen Sohn hat (vgl. Spr 30,4).
  2. Joel (Kapitel 3) und Jesaja (Kapitel 44,3; 48,16) sowie Hesekiel (Kapitel 36 und 37) sprechen vom Geist Gottes.
  3. Und Gott als Vater seines Volkes war auch nicht unbekannt. Beispielsweise Jeremia spricht davon (Kapitel 3,19).

Das alles aber waren nur Andeutungen. Das gilt insbesondere für den Titel „Vater“, der bislang eine Beziehung Gottes zu seinem Volk insgesamt war. Von nun an aber würde Gott gerade im Christentum zu jedem einzelnen Erlösten ganz persönlich Vater sein (vgl. Gal 4,6; Röm 8,15).

Erst durch das Kommen des Herrn Jesus wurde Gott als dieser dreieine Gott offenbart. Bei der Taufe des Herrn finden wir alle drei Personen zum ersten Mal deutlich voneinander unterschieden und in ihrer Aktivität sichtbar. Jetzt spricht der Herr von dieser Unterscheidung, wobei auffallend ist, dass noch immer von nur einem „Namen“ (im Singular) die Rede ist. Er bleibt der eine Gott, aber offenbart in einer ganz neuen, viel höheren Weise. Das ist eine Offenbarung, die nirgendwo stärker verankert ist als in der neutestamentlichen, christlichen Wahrheit. Immer wieder finden wir daher diese drei Personen der Gottheit in den neutestamentlichen Briefen erwähnt.

Es wird allerdings eine Zeit kommen, wo dieser große Auftrag an die Jünger nicht mehr von Christen ausgeführt wird. Es sind dann jüdische Jünger, Menschen aus dem jüdischen Überrest, die missionieren werden. Diese Übriggebliebenen künftiger Tage werden durch die elf Jünger repräsentiert. Es ist derselbe Überrest, von dem wir in Kapitel 24,14 lesen, der das Evangelium des Königreichs in Windeseile über die ganze Erde bringen wird. Es geht hier also nicht um einen typisch christlichen Auftrag, wie er in der Apostelgeschichte ausgeführt wird.

Im engeren Sinn ist der Auftrag von Matthäus bislang sogar noch nie ausgeführt worden. Denn der Herr sagt hier, dass nicht das Ihn verwerfende Israel missioniert werden soll, wie es die Jünger im Auftrag des Herrn (Lk 24; Apg 1) zunächst getan haben, sondern die Nationen weltweit, die den König jedenfalls teilweise annehmen werden. Genau das werden diese jüdischen Missionare in der Drangsalszeit tun.

Wir haben hier auch keinen Auftrag aus dem Himmel, wie Paulus ihn hatte und den wir in Epheser 4,8-11 finden. Hier handelt es sich genau genommen um eine Botschaft des Herrn auf der Erde für sein irdisches Volk.

Die Apostel blieben durch die Umstände in Jerusalem, wie wir am Anfang der Apostelgeschichte lesen (vgl. Apg 8,1). Den Nationen predigte dann Paulus, der seinen Auftrag eben nicht vom auf der Erde lebenden, auferstandenen Herrn erhielt, sondern von dem zur Rechten Gottes verherrlichten. Er steht nicht in der Folge der anderen elf bzw. zwölf Jünger, sondern hat einen ganz neuen, eigenständigen Missionsauftrag erhalten. Die Erfüllung von Matthäus 28,19.20 muss also in dieser Hinsicht noch warten.

Jüngerschaft

Matthäus zeigt uns die Predigt des Königreichs. Auch wenn sich diese Predigt nicht direkt an Christen wendet, so haben doch auch wir mit dem Königreich zu tun. Das macht Matthäus immer wieder deutlich (z.B. Mt 5-7; Mt 24.25). Deshalb ist die Botschaft über das Sammeln von Jüngern für uns nicht nebensächlich, auch wenn es nicht die höchste Seite unserer Aufgaben betrifft.

Der Herr zeigt in diesen Versen, wie seine Jünger andere zu Jüngern machen sollten:

  1. durch die Taufe, und
  2. durch das Lehren.

Das sind die beiden Aufgaben, die auch wir haben, wenn wir Menschen zum Gehorsam gegenüber dem Herrn Jesus führen wollen. Als erstes nennt der Herr Jesus in Verbindung mit der Jüngerschaft die Taufe. Diese ist das äußere Zeichen der Jüngerschaft im Königreich. Durch die Taufe auf den Tod Jesu bekennt man sich zum gestorbenen und verworfenen Christus und nimmt die Offenbarung des dreieinen Gottes an. Man ist bereit, die Verwerfung des Meisters zu teilen und für Ihn zu zeugen.

An zweiter Stelle steht die Belehrung. Die Apostel sollten darauf dringen, dass Jünger des Herrn alles das bewahren, was der Herr Jesus geboten hat. Dabei handelt es sich nicht um das Gesetz vom Sinai, denn Christus ist das Ende des Gesetzes (Röm 10,4). Der Herr Jesus hatte in seinem Leben die Gebote nicht abgeschafft, sondern sogar verschärft. Er machte dadurch deutlich, wie wir in Matthäus 5 lernen, dass es in erster Linie um die moralischen Inhalte dieses Gesetzes geht. Und diese haben auch in der christlichen Zeit ihre Berechtigung. Daher finden wir beispielsweise manche Inhalte der Bergpredigt in den Briefen von Jakobus und Petrus wieder.

Was die Jünger lehren sollten, war also das, was sie in der Bergpredigt gelernt hatten: „Ich aber sage euch ...“ Christus war der von Gott verheißene Prophet, der – wie Mose – das Volk aufwecken und belehren sollte, und die Jünger waren daran gebunden, Ihn zu hören und seine Botschaft weiterzugeben. Es ging nicht darum, Heiden unter das Gesetz zu bringen. Das wäre der Ruin des Christentums gewesen, wie wir dem Galaterbrief entnehmen können. In den Kirchen und in vielen christlichen Gemeinschaften ist genau das gemacht worden. Es ist letztlich die Leugnung wahren Christentums und eine Verunehrung Christi. Es geht Ihm um etwas ganz Anderes! Die Apostel sollten Jünger suchen, die Ihm gehorsam sind und sich daher innerlich auf die Seite ihres Herrn stellen. Das ist ein Auftrag, den es auch heute noch zu erfüllen gilt, sei es im Lehren oder sei es durch seine Annahme, indem man sich taufen und belehren lässt.

In Matthäus 16,19 spricht der Herr davon, Petrus die Schlüssel des Reiches der Himmel zu geben. In Lukas 11,52 nennt Er den Schlüssel der Erkenntnis, den die Pharisäer den Menschen vorenthalten hatten. Das Lehren der Wahrheit des Wortes Gottes ist somit einer der Schlüssel, die Petrus anvertraut worden sind, und vielleicht ist die Taufe in dem zweiten Schlüssel zu sehen. Daher wundert es uns nicht, dass gerade Petrus sowohl zur Taufe aufrief als auch lehrte (vgl. z.B. Apg 2,38; 10,47.48).

Noch ein Wort zu den Taufworten. Der Herr gibt hier autoritativ an, auf welchen Namen zu taufen ist. Das wird in Zukunft genau so ausgeführt werden. Und auch wir tun gut daran, uns diese Hinweise zu Herzen zu nehmen.

Das heißt jedoch nicht, dass die Taufworte, die wir im Neuen Testament von Petrus und von Paulus lesen, falsch wären. Von Petrus heißt es, dass er auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung der Sünden taufte (Apg 2,38). Von Paulus lesen wir, dass er auf den Namen des Herrn Jesus taufte (Apg 19,5). Wir müssen bedenken, dass uns in beiden Fällen nicht im Einzelnen gesagt wird, was die beiden Apostel gesprochen haben. Es wird die Grundbelehrung ihrer Taufen genannt.

Zudem haben wir gesehen, dass der Missionsauftrag des Herrn im Matthäusevangelium nicht typisch christlich ist. Christlich ist ganz besonders der Name des Herrn Jesus Christus und der Tod Christi (vgl. Röm 6,3.4). Wir machen nichts falsch, wenn wir deshalb auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes taufen sowie auf den Tod Jesu. Beides gehört letztlich zusammen.

Dem Herrn geht es in Matthäus 28 um das Königreich, das mit dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist in Verbindung steht. Darin leben wir nach Matthäus 13 auch heute. In der christlichen Zeit steht darüber hinaus besonders die Identifikation mit dem Herrn Jesus im Vordergrund. Diese ist nur über seinen Tod möglich. So haben wir beides im Auge, wenn wir jemand taufen.

Ich bin bei euch

Zum Abschluss gibt der Herr Jesus seinen Jüngern die Versicherung, dass Er bei ihnen sein werde bis zur Vollendung des Zeitalters. Damit blickt Er hin auf eine zukünftige Zeit, in der Er hier auf der Erde sichtbar regieren wird. Allerdings wird sein Kommen hier nicht thematisiert. Denn Er wird als Herr betrachtet, der zu gegebener Zeit sein Königreich auf der Erde als Messias übernehmen wird. Wo auch immer Er bis zu diesem Zeitpunkt sein wird, verspricht Er seinen Jüngern: Bis zu dieser Zeit, die mit seinem zweiten Kommen beginnen wird, wird Er bei seinen Jüngern zu ihrer Hilfe und Stütze bleiben. Und zwar alle Tage.

Dieses Wörtchen „alle“ finden wir nicht weniger als viermal im letzten Abschnitt.

  1. Unser erhöhter Herr übt in beiden Sphären alle Gewalt aus, so dass es nichts gibt, was Ihm nicht unterworfen wäre. Wenn hier auf der Erde Böses geschieht, dann unter seiner „Zulassung“.
  2. Der Wirkungsbereich des Dienstes der Jünger erstreckt sich auf alle Nationen, nicht etwa auf Israel allein, wie es bis jetzt der Fall war.
  3. Solche, die aus den Nationen getauft werden, sollen belehrt werden, alle Gebote des Herrn zu beobachten. Denn Knechte sollen sich durch Gehorsam auszeichnen und auch wieder andere zu konsequentem Gehorsam führen.
  4. Dann können sie alle Tage bis zum Ende auf den Beistand und die geistige Gegenwart ihres Meisters rechnen.

Das zeigt, dass die Wahrheit dieser Verse abgeschwächt oder sogar zerstört würde, wenn wir jetzt noch von seiner Himmelfahrt läsen! Der Herr beauftragte seine Jünger und sandte sie auf ihre weltweite Mission aus mit den Worten: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage.“ Dadurch, dass wir danach in diesem Evangelium nichts Weiteres mehr lesen, wird die Kraft dieser Worte unermesslich groß. Er verhieß ihnen seine Gegenwart bis zur Vollendung des Zeitalters. Das ist der Schlusspunkt. Der Glaube hält fest, dass Er für immer bei den Seinen auf der Erde ist. Mit seiner Gegenwart und seiner Hilfe können sie auf ihrem wichtigen aber zum Teil gefährlichen Missionsgang immer rechnen.

Die Himmelfahrt des Herrn wird in diesem Evangelium nicht erwähnt, weil der Geist Gottes uns hier Jesus als den vorstellt, der seinen Platz inmitten seiner Jünger auf dieser Erde einnimmt, die den Überrest seines Volkes darstellen. Am Anfang des Evangeliums hatte Er sich seinem Volk als Emmanuel, „Gott mit uns“ vorgestellt. Nachdem das Volk Ihn verworfen hatte, ist Er immer noch Emmanuel. Aber das gilt nur noch für diejenigen, die Ihn aufgenommen haben, und zwar bis zu der Zeit, wo das Volk insgesamt Ihn erkennen wird.

In gleicher Weise dürfen alle, die heute an Ihn glauben, bis zum Ende mit der Erfüllung seiner Verheißung rechnen. So bleiben diese Worte eine Ermutigung für uns trotz des degenerierten Zustands in diesem Königreich. Natürlich ist der König nicht in leiblicher Gestalt gegenwärtig. Aber der Glaube wird die Realität seiner weisen, führenden Autorität so anerkennen, als ob Er auch körperlich anwesend wäre. Durch die Kraft des Geistes Gottes, der seit Pfingsten in den Gläubigen wohnt, ist der Herr Jesus tatsächlich immer bei uns. Aber nur der Glaube realisiert das und nimmt seine Gegenwart wahr und dankbar an.

Vollendung des Zeitalters

Zum Schluss möchte ich die Aufmerksamkeit auf den bemerkenswerten Ausdruck „Vollendung des Zeitalters“ lenken. Matthäus verwendet den Begriff „Zeitalter“ (aion) achtmal (Mt 12,32; 13,22 [mit Welt übersetzt].39.40.49; 21,19 [mit Ewigkeit übersetzt]; 24,3; 28,20). Fünfmal verbindet er die beiden Bezeichnungen: Vollendung des Zeitalters (Mt 13,39.40.49; 24,3; 28,20).

Der Ausdruck „Zeitalter“ bezieht sich auf eine besondere, definierte Periode oder auf eine ununterbrochene Periode undefinierter Dauer. Sie trägt besondere Charakterzüge. Es muss uns somit nicht verwundern, dass der Geist Gottes genau mit diesem Wort das Matthäusevangelium beschließt. Wir haben verschiedentlich gesehen, dass sich Matthäus mit Epochen (Haushaltungen) beschäftigt. Das genau sind Zeitalter. Ein bestimmtes hat der Herr hier vor Augen, wenn Er seinen Jüngern eine letzte, wunderbare Zusicherung gibt.

Es fällt auf, dass wir den Begriff „Zeitalter“ in diesem Evangelium erst finden, nachdem die Verwerfung des Herrn durch die Führer Israels ihren Höhepunkt gefunden hat. Sie haben dem Herrn unterstellt, die Dämonen durch Satan auszutreiben (Mt 12,24). Der Herr Jesus nennt diese furchtbare Aussage „Lästerung des Geistes“ (Vers 31). Er bestimmt, dass ein solches Reden gegen den Heiligen Geist „weder in diesem Zeitalter noch in dem zukünftigen“ vergeben werden wird (Mt 12,32).

„Dieses Zeitalter“ bezieht sich auf die Zeit, als der Herr Jesus damals auf der Erde war, um das Erlösungswerk zu vollbringen. Das „Ende dieses Zeitalters“ beginnt mit der Entrückung der heute lebenden Gläubigen und hat seinen Höhepunkt in der Drangsalszeit. Seine Vollendung findet statt, wenn Christus zum zweiten Mal sichtbar kommen und sein Königreich auf der Erde in Macht antreten wird (vgl. Mt 13,40 ff.). Das Tausendjährige Friedensreich ist dann das zukünftige Zeitalter.

Der Meister gibt seinen Jüngern nun dieses Versprechen: Bis zu dem Zeitpunkt, an dem Er in Macht alles Böse richten wird, lässt Er die Seinen nicht allein. Sie müssen furchtbare Drangsale erleiden. Aber Er ist bei ihnen. Danach bricht ein ganz neues Zeitalter an, die wunderbare Epoche seiner öffentlichen Herrschaft. Dann brauchen seine Jünger diese Zusage nicht mehr, denn ihr Herr wird leibhaftig bei ihnen sein.

Gerade am Ende des Zeitalters, das also auch für uns noch zukünftig ist, wird das Evangelium allen Nationen gepredigt werden. Die Zeit bis zur Vollendung des Zeitalters wird in den Psalm 91-100 behandelt. Auch Daniel 11,33 und 12,3 sprechen von dieser Zeit. Jesaja 65,13 zeigt uns dann die Vollendung, wenn Christus mit Segen für die Seinen wiedergekommen sein wird.

Weder hier noch in den Kapiteln 13 und 24 spricht das Zeitalter von der christlichen Zeitepoche. Diese liegt genau zwischen „diesem Zeitalter“ und dem „zukünftigen“, zwischen „diesem Zeitalter“ und der „Vollendung des Zeitalters“. „Dieses Zeitalter“ war eine Periode der Weltgeschichte aus Sicht der Juden, die eigentlich durch die Gegenwart des Messias hätte beendet werden sollen. Weil sie ihren König jedoch verwarfen, wird es auch noch eine Zeit der Vollendung geben. Der Ausdruck „Vollendung des Zeitalters“ setzt voraus, dass Jerusalem unter Gericht steht, durch Christus aber wiederhergestellt wird. Dazu muss der Messias wiederkommen, denn Jerusalem kann nur durch Ihn selbst wiederhergestellt werden. Dafür ist wiederum echte Buße vonseiten der Bewohner Jerusalems und Israels nötig. Mit dieser Buße und durch das Kommen des Herrn wird dann das Zeitalter vollendet werden (vgl. Mt 24,3.30).

So endet das Matthäusevangelium mit dem herrlichen Ausblick, dass Christus einmal von seinem irdischen Volk angenommen werden wird. Er wird erscheinen, wenn der gläubige Überrest seines Volkes Ihn sehnsüchtig erwarten wird. Sie werden ihren König, den sie ans Kreuz gebracht haben, in Liebe und Gehorsam annehmen. Ein großer Augenblick für den König, für unseren Herrn Jesus Christus. „Sie [Maria] wird aber einen Sohn gebären, und du sollst seinen Namen Jesus nennen; denn er wird sein Volk erretten von ihren Sünden.“ (Mt 1,21) Das wird seine endgültige Erfüllung finden. „Er freut sich über dich mit Wonne, er schweigt in seiner Liebe, frohlockt über dich mit Jubel.“ (Zeph 3,17)

Fußnoten

  • 1 Aus dem Johannesevangelium kennen wir drei Passahfeste: Joh 2,13.23; 6,4; 11,55 (12,1; 13,1; 18,28; 19,4). Lukas spricht in Kapitel 6,1 zudem von einem Passahfest, das Johannes nicht erwähnt (der zweiterste Sabbat wurde von dem Passahfest aus gerechnet). So haben wir insgesamt vier Passahfeiern während des öffentlichen Dienstes des Herrn. Wenn man dann davon ausgeht, dass der Herr in der Zeit des Laubhüttenfestes geboren wurde, hätte Er ziemlich genau dreieinhalb Jahre öffentlich gedient.
  • 2 Die Chronologie wird deutlich, wenn man sich Johannes 12 ansieht. Die Salbung wird nach Johannes 12,1 mit dem Kommen Jesu nach Bethanien verknüpft. Vers 9 zeigt, dass die Juden gemerkt haben, dass der Herr sich in Bethanien befand, woraufhin die Hohenpriester beratschlagten, „auch“ Lazarus zu töten. „Am folgenden Tag“ heißt es dann in Vers 12 – es handelt sich also um eine genaue Zeitangabe. Und damit verbindet sich der Einzug nach Jerusalem, der also geschichtlich nach der Salbung stattfand, auch wenn er in unserem Evangelium bereits in Kapitel 21 geschildert wird.
  • 3 Wer sich näher mit dem Passah beschäftigen möchte, kann dies mit folgendem Buch tun: Das Passah des Herrn, erschienen im Verlag CSV, Hückeswagen. Dort liest man zum Beispiel, dass die Begebenheit in Matthäus 26 (Mk 14; Lk 22) die siebte Passahfeier ist, von der Gottes Wort berichtet.
  • 4 Auf den Sonderfall von 1. Johannes 5,16, dass jemand eine Sünde zum Tod begangen hat, gehe ich an dieser Stelle nicht weiter ein. Hier gibt es kein Gebet für einen solchen Gläubigen.
  • 5 Dieser Ausdruck wird nur von Matthäus verwendet und kommt vor in Kapitel 20,13; 22,12; 26,50.
  • 6 Außerhalb der Schrift ist diese Sitte nicht weiter bezeugt. Einen zusätzlichen Hinweis benötigen wir als Gläubige auch nicht, weil wir Gott und seinem Wort vertrauen. Bemerkenswert ist, dass der Heilige Geist diese Gewohnheit in allen vier Evangelien hat niederschreiben lassen. An und für sich ist es nicht bekannt, dass Statthalter eine solche Macht innerhalb des Römischen Reiches besaßen, rechtmäßig Verurteilte einfach freizulassen. Daher ist anzunehmen, dass Pilatus hierzu eine Sondergenehmigung vonseiten des Römischen Kaisers erhalten hat.
  • 7 Allerdings muss man hinzufügen, dass „Jesus“ vor Barabbas nur schwach bezeugt ist.
  • 8 Es ist auffallend, dass dieser Vers einer der wenigen ist, bei dem der masoretische (jüdische) Text des Alten Testaments verfälscht wurde. Die Juden haben sich gegen diese weissagende Aussage gesträubt. Denn dann hätte Gott ja im Alten Testament schon davon geschrieben, was Juden mit Jesus getan haben. Aber da sie den Herrn Jesus nicht als Messias anerkennen wollten, haben sie offenbar eine Textveränderung vorgenommen. Ihr Text liest daher: „Sie haben mich umzingelt wie ein Löwe meine Hände und meine Füße.“ Das ergibt keinen Sinn und ist offenbar die Handschrift Satans, der mit allen Mitteln versucht hat, diese klare Prophetie auf Christus zu zerstören.
  • 9 Dass der Herr Jesus die Worte nicht auf Hebräisch, sondern auf Aramäisch gesprochen hat, wird beim Vergleich des hebräischen „asavtani“ (hast du mich verlassen, Ps 22,2, was in hebräischer Spreche steht) mit „sabachthani“ deutlich. Das aramäische „schebaktani“ erklärt das griechisch geschriebene „sabachthani“ deutlich besser als das hebräische „asavtani“. Dasselbe gilt für das in alten Handschriften stehende lema (statt lama, warum, wozu).
  • 10 Nach Apostelgeschichte 3,1 war die neunte Stunde die Stunde des Gebets im Tempel. Wir wissen, dass das Speisopfer nach Esra 9,4.5 am Abend gegeben wurde, als auch Esra sein Gebet begann. Dieses Speisopfer gehörte zu dem täglichen Brandopfer (2. Mo 29,40.41; 4. Mo 28,3 ff.). Dieses wurde zwischen den zwei Abenden geopfert. Offenbar war das um 15 Uhr, vor Einbruch der Dunkelheit.
  • 11 Wir wissen nicht genau, wo Arimathia liegt. Es war eine Stadt der Juden (Lk 23,51). Manche nehmen an, dass es sich um Ramathajim handelt, die Geburtsstadt Samuels (vgl. 1. Sam 1,1).
  • 12 Der Rüsttag (hebr. Erev, aram. Aruvta: „Abend“, jeweils in Verbindung mit Festtagen, gr. παρασκευή Paraskeue) ist der Vortag eines jüdischen Festes oder Feiertages. An diesem wird der Feiertag vorbereitet. Da der Sabbat (Samstag) der wöchentliche Feiertag der Juden ist, kann man den Freitag als einen solchen Rüsttag bezeichnen.
  • 13 Das verwendete griechische Wort enthält den Gedanken an ein Aufleuchten oder Hellwerden. Es handelt sich also nicht um die Abenddämmerung des Sabbats.
« Vorheriges Kapitel