Der Prophet Daniel

Kapitel 6

Der Prophet Daniel

In diesem Kapitel haben wir keine Anbetung von Götzen, auch keine Verhöhnung Gottes in der Weise, wie in den vorhergehenden Kapiteln, aber wir sehen, dass der Mensch sich selbst an die Stelle Gottes setzt und so jeden Gedanken an den wahren Gott ausschließt. Der Mensch lässt sich gerne einen Gott gefallen, der ihm hilft, seine eigenen Neigungen und Wünsche zu befriedigen. Das religiöse Bedürfnis des Menschen findet seine Befriedigung in äußerlichen Religionsübungen. Eine solche Religion verehrt er gerne, selbst dann, wenn die Stifter nur politische Gesichtspunkte dabei im Auge haben. Die Kenntnis des wahren Gottes passt weder seinem Gewissen noch seinen Begierden. Der Mensch, was auch seine Stellung sein mag, wird ein Sklave solcher, die ihm schmeicheln.

Hier gibt Darius in dem Bestreben, geordnete Verhältnisse in seinem Reich zu schaffen, Gottes treuem Knecht Daniel einen bevorzugten Platz, so dass er sogar daran dachte, ihn über sein ganzes Königreich zu bestellen. Dies rief sogleich den Hass und die Eifersucht der Vorsteher und Satrapen wach, und sie versuchten, gegen Daniel einen Anklagegrund zu finden. Aber Daniel war ein gerechter, unbestechlicher Mann. Kein Vergehen und keine schlechte Handlung konnten an ihm gefunden werden, es sei denn in dem Gesetz seines Gottes. So sagt Petrus zu den Gläubigen in seinen Tagen: „Dass doch niemand von euch leide als Mörder oder Dieb oder Übeltäter oder als einer, der sich in fremde Sachen mischt; wenn aber als Christ, so schäme er sich nicht, sondern verherrliche Gott in diesem Namen“ (1. Pet 4,15.16).

So halten die Statthalter und Landpfleger, Satrapen und Räte Rat und entwerfen eine Verordnung, um sie dem König vorzuschlagen, dass jeder, der innerhalb dreißig Tagen von irgendeinem Gott oder Menschen etwas erbitten würde, außer von dem König, in die Löwengrube geworfen werden sollte. Der König ließ sich in einem Augenblick der Unachtsamkeit durch ihre Schmeicheleien täuschen, und mit aufflammender Eitelkeit unterzeichnete er die Verordnung, so dass sie zum Gesetz erhoben wurde.

Daniel hatte zweifellos Kenntnis von allem, was vor sich ging. Sicher hat er die Sache Gott unterbreitet. Als er erfuhr, dass die Schrift aufgezeichnet war, ging er in sein Haus mit den offenen Fenstern nach Jerusalem hin. Dort fiel er dreimal am Tag auf seine Knie und betete und lobpries Gott, wie er vorher getan hatte. Er suchte nicht den Zorn seiner Feinde dadurch zu reizen, dass er die Fenster öffnete – sie waren stets geöffnet gewesen – sondern er setzt ruhig seinen Weg mit Gott fort, als wenn nichts geschehen wäre. Unerschüttert durch äußere Umstände überlässt er alles Gott, indem er weiterhin zu Ihm betet und Ihm für alle seine Gaben dankt.

So finden sie den treuen, alten Mann, betend und flehend vor seinem Gott. Wie eilig laufen sie zu dem König mit ihren Anliegen gegen Daniel, der sehr betrübt wurde, als er diese Sache hörte, und mit sich selbst unzufrieden war. Er richtete sein Herz darauf, Daniel zu befreien, und bis zum Untergang der Sonne bemühte er sich für ihn. Er ist nicht mit Wut erfüllt, wie es Nebukadnezar gegen die Knechte Gottes gewesen war, sondern er war unzufrieden mit sich selbst. Zweifellos fühlte er, in welch einer gemeinen Weise man ihn in der Schlinge gefangen hatte. Er tat alles, um Daniel zu befreien, aber das Gesetz kannte keine Gnade. Es konnte den, der es gebrochen hatte, nur verurteilen. Befreiung konnte in einem solchen Fall nur von der Seite Gottes kommen. So drücken diese bösen Menschen ihre Forderung gegen Daniel durch, wie es auch die Hohenpriester und die Obersten des Volkes vor Pilatus mit dem Herrn Jesus taten. Sowohl Darius als auch der römische Landpfleger fühlten, dass sie einen Unschuldigen verurteilten, aber in beiden Fällen vermehrten sie ihre Schuld, indem sie dem Druck der Massen nachgaben. Bei Darius war es das Werk der Vorsteher und Satrapen; aber er selbst hatte die Verordnung unterschrieben und sie zum Gesetz erhoben, und so war er nicht schuldlos. Bei Pilatus war es der Schrei: „Wenn du diesen freilässt, bist du kein Freund des Kaisers; jeder, der sich selbst zum König macht, spricht gegen den Kaiser“ (Joh 19,12). Sowohl Darius als auch Pilatus wussten, dass ihre Gefangenen ihnen aus Neid überliefert waren, aber in beiden Fällen hatten die Stimmen der Ankläger die Oberhand.

So wird Daniel gebracht und in die Löwengrube geworfen. Darius drückt zwar seine Hoffnung aus, mag aber wenig Glauben gehabt haben, dass Daniel befreit werden würde. „Dein Gott, dem du ohne Unterlass dienst, er möge dich retten!“ Es ist möglich, dass Daniel die Worte des Königs als eine Botschaft von Gott aufgenommen hat und dadurch gestärkt worden ist. Ein Stein wurde gebracht und auf die Öffnung der Grube gelegt, und der König versiegelte ihn mit seinem Siegelring und mit dem Siegelring seiner Gewaltigen, damit hinsichtlich Daniels nichts verändert würde. So taten Menschen ihr Schlechtestes, aber dann begann Gott, für seinen Knecht zu wirken, indem Er ihn zunächst bewahrte und ihn schließlich aus der Löwengrube errettete. So war es auch bei dem Herrn Jesus; wenn der Mensch alles getan hatte, was er konnte, und dadurch alles erfüllt hatte, was geschrieben stand, nahm man Ihn von dem Kreuz ab und legte Ihn in eine Gruft; Gott aber hat Ihn aus den Toten auferweckt. Die Menschen mochten ihren Stein auf das Grab wälzen, Pilatus konnte es versiegeln und eine Wache bestellen, aber nichts konnte die Hand Gottes aufhalten, die Ihn aus den Toten auferweckte.

Dass die Betrübnis des Königs aufrichtig war, ist klar zu sehen. Er geht in seinen Palast und übernachtet fastend. Er ließ keine Nebenfrauen zu sich hereinführen, und sein Schlaf floh von ihm. Sehr früh am Morgen eilt der König zu der Löwengrube. „Hat dein Gott … vermocht, dich von den Löwen zu erretten?“ (V. 21), lautet sein angstvoller Ruf. Er fand, dass Gott dazu fähig war. Wir mögen erkennen, dass die Personen, die wir hier finden, noch übertroffen werden von jenen, von denen Daniel in Kapitel 11,36.37 redet: „Und der König wird nach seinem Gutdünken handeln, und er wird sich erheben und großmachen über jeden Gott, und gegen den Gott der Götter wird er Erstaunliches reden; und er wird Gelingen haben, bis der Zorn vollendet ist, denn das Festbeschlossene wird vollzogen. Und auf den Gott seiner Väter wird er nicht achten, und weder auf die Sehnsucht der Frauen noch auf irgendeinen Gott wird er achten, sondern er wird sich über alles erheben.“ Dann ist sein Verderben besiegelt, und er wird zu seinem Ende kommen. „… der widersteht und sich erhöht über alles, was Gott heißt oder verehrungswürdig ist, so dass er sich in den Tempel Gottes setzt und sich selbst darstellt, dass er Gott sei“ (2. Thes 2,4).

Aber Darius ist auch ein treues Abbild der heidnischen Völker, die durch die große Errettung, die Er für sein Volk Israel wirkt, dahin gebracht werden, Gott zu erkennen und anzuerkennen. So wie einst Jethro werden sie dem Sinn nach oder sogar wörtlich sagen: „Nun weiß ich, dass der HERR größer ist als alle Götter; denn in der Sache, worin sie in Übermut handelten, war er über ihnen“ (2. Mo 18,11). Wenn Gott am Ende sein Volk errettet, lesen wir in Jesaja 65,25: „Wolf und Lamm werden zusammen weiden, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. Und die Schlange: Staub wird ihre Speise sein. Man wird nichts Böses tun und kein Verderben anrichten auf meinem ganzen heiligen Berg, spricht der HERR.“ So kann Daniel hier sagen: „Mein Gott hat seinen Engel gesandt und hat den Rachen der Löwen verschlossen, dass sie mich nicht verletzt haben, weil vor ihm Unschuld an mir gefunden wurde; und auch vor dir, o König, habe ich kein Verbrechen begangen“ (V. 23). Der König ist über die Maßen erfreut über diese wunderbare Errettung. Keine Verletzung wurde an Daniel gefunden, weil er auf seinen Gott vertraut hatte.

In dem nachfolgenden Gericht aber, wo mit den Anklägern gehandelt wird und sie in die Löwengrube geworfen werden, werden wir wieder an das erinnert, was geschehen wird, wenn der Herr auf seinem Thron der Herrlichkeit sitzt. Wenn die Schafe belohnt worden sind, werden auch die Böcke ihren Lohn empfangen, aber mit was für einem erschreckenden Unterschied. Die einen gehen in die Segnungen ein, die anderen werden für immer aus der Gegenwart des Herrn verbannt.

In seiner Kundgebung fordert der König dann alle auf, zu beben und sich zu fürchten vor dem Gott Daniels, denn „er ist der lebendige Gott und besteht in Ewigkeit, und sein Reich wird nie zerstört werden, und seine Herrschaft währt bis ans Ende“ (V. 27). Er zählt dann auf, was Gott für seinen Knecht getan hat. Nebukadnezar hatte verboten, Unrecht zu reden gegen den Gott Israels, und hatte den Gott des Himmels erhoben, aber Darius geht darüber hinaus. Geschichtlich gesehen hat es den Anschein, dass Darius ein Gespür der Ehrfurcht vor dem Gott Daniels und vor der Gottesfurcht Daniels hatte.

Wir sehen also in diesen Kapiteln, dass Götzendienst, Gottlosigkeit und Selbsterhebung die Charakterzüge dieser großen Weltreiche sind. Das sind auch die Züge, die die heidnischen Mächte in den kommenden Tagen kennzeichnen werden. Aber wir haben auch gesehen, dass Gott nicht zulassen kann und will, dass das Böse die Oberhand behält. In den folgenden Kapiteln haben wir eine weitere Schau dieser verschiedenen Königreiche, soweit sie mit dem irdischen Volk Gottes, besonders in den kommenden Tagen, in Verbindung stehen. Aber dies wollen wir behandeln, wenn wir mit der Betrachtung unseres Buches weiter fortfahren.

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