Was von Anfang war
Eine Auslegung der Johannesbriefe

1.Johannes 2,1+2

Was von Anfang war

Diese beiden Verse gehören eigentlich noch als notwendige Ergänzung zum ersten Kapitel. Obwohl der dritte Vers mit dem Bindewort „und“ beginnt, fängt dort doch ein neuer Abschnitt an. Er behandelt die äußerst wichtige und interessante praktische Anwendung der in Kapitel 1 gelehrten Wahrheit, um Seelen vor Selbsttäuschung und Irrtum zu bewahren. Wenden wir uns jedoch zunächst den beiden ersten Versen zu. Sie bieten uns reichlich Stoff zum Studium des Wortes und zum Nachsinnen für unsere Seelen.

Wie wir gesehen haben, besteht das erste Kapitel aus zwei Teilen. Wir sehen die Liebe des Vaters in dem fleischgewordenen Sohn, die ohne äußeren Anlass (außer unseren Sünden) aus göttlicher Gnade ausströmt. Die treibende Kraft Seiner Natur ist Liebe, die Reinheit Seiner Natur wird durch das ausdrucksvolle Wort Licht dargestellt. Kein anderes Wort erschien dem Heiligen Geist zu unserer Belehrung so geeignet und unserem Fassungsvermögen angepasst. Kein Element widersteht dem Verderben mehr als das Licht, da es in sich völlig rein ist; jedenfalls ist dies bei dem Licht der Natur Gottes der Fall. Diese Seine Natur ist nach Gottes Gnadenratschluß das Teil, das wir als Christen empfangen. Und diese Mitteilung musste der Apostel, geleitet durch den Geist, den Gläubigen machen, als die Versammlung äußerlich bereits in Verfall geriet. dass dieser Verfall damals bereits eingesetzt hatte, wird durch den vorliegenden Brief bewiesen. Die schlimmste Form des Bösen in der Christenheit zeigt sich in dem „Antichristen“, und damals gab es bereits „viele Antichristen“. Heute sind es noch viel mehr geworden! Gott trug Sorge dafür, dass zumindest der Keim des ärgsten Bösen sich deutlich zeigen musste, ehe der letzte Apostel seinen Anteil an dem Neuen Testament geschrieben hatte. Dadurch besitzen wir ein göttliches Urteil über das sich anbahnende Böse und über die damit verbundenen Gefahren. Er überließ die Beurteilung nicht nur unserem geistlichen Urteilsvermögen, obwohl auch dieses sicherlich erforderlich ist, wenn wir Nutzen aus Gottes Wort ziehen wollen. Wir besitzen somit über diesen Gegenstand die in Seinem Wort ausgedrückte göttliche Autorität. Wir sind nicht auf menschliche Schlussfolgerungen und Beweisführungen oder auf die Erfahrungen von Gläubigen angewiesen, sondern können uns auf die göttliche Autorität stützen, die dem Gewissen jedes Gotteskindes Vertrauen einflößt. Da alle diese bösen Dinge in Erscheinung treten würden, sorgte Gott in Seiner Weisheit dafür, dass auch die schlimmste Form des Bösen damals bereits existierte, so dass Er sie in Seinem Wort zum Nutzen Seiner Kinder bezeichnen und verurteilen konnte.

Dieser Brief trägt daher einen ganz besonderen Charakter. Er bezieht sich nicht, wie der zweite Brief an die Thessalonicher, auf einen zukünftigen Zeitpunkt, der noch nicht da ist, aber vor dem Tage des Herrn eintreten muss, auf die Zeit des „Abfalls“. Der Ausdruck Abfall besagt, dass man sich völlig vom Christentum lossagen wird. Dies wird unabänderlich geschehen. Ein böser Faktor auf dem Wege dahin ist die moderne kritische Theologie. Sie bereitet die Menschen auf den vorbehaltlosen, völligen und jeder Maske beraubten Unglauben vor. Wo bleibt das Verantwortungsbewusstsein der geistlichen Würdenträger, die aufgrund ihrer Stellung die Autorität des Wortes Gottes aufrechterhalten sollten? Man untergräbt die Fundamente, aus denen man irdische Anerkennung und Vorteile zieht, obwohl man die eigene Zerstörungsarbeit erkennen könnte und müsste. Doch der Abfall selbst ist noch zukünftig. Antichristen waren aber schon vorhanden, denn es war bereits die „letzte Stunde“. Das Kennzeichen der letzten Stunde sind die „vielen Antichristen“. Sie sind die Vorläufer des Antichristen, und wir sehen daran, dass das Böse nicht nur zukünftig ist.

In den vorliegenden Versen handelt es sich um das Böse in einer allgemeineren Form. Leider muss mit ihr bei jedem Namenchristen gerechnet werden. Das Fleisch ist Feindschaft gegen Gott. Es stellt eine gegenwärtige und beständige Gefahr dar, da es dem Feind einen willkommenen Anknüpfungspunkt bietet, und zwar nicht nur bei solchen, die nur das Fleisch kennen, sondern auch bei denen, die im Bereich des Geistes wandeln, aber das Fleisch noch an sich tragen. Es wird wohl von ihnen ausdrücklich gesagt, dass sie nicht im Fleische sind, d. h., dass sie durch den Glauben an Christus vom Fleische befreit sind. Sie haben eine andere, vollständig neue Natur empfangen und sind nicht ihrer 'alten Natur hilflos überlassen. Jedem Gläubigen steht im Heiligen Geist die nötige Kraft zur Verfügung, um vor der Sünde bewahrt zu bleiben.

Wir wissen nur zu gut, dass wir noch sündigen können und dass wir alle oft straucheln. Aber das ist unsere eigene Schuld. Deshalb sollte der Gläubige auch bereit – ich möchte sagen, glücklich -sein, Gott zu rechtfertigen und sich selbst zu verurteilen. Das ist zwar demütigend, aber haben wir nicht immer großen Segen aus den Dingen empfangen, die uns demütigten? Jede Übung dieser Art, wie traurig, schmerzhaft und ungerecht sie auch erscheinen mag, erweist sich durch Gottes Gnade für uns stets zum Guten, wenn wir sie von Ihm annehmen. „Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken, denen, die nach Vorsatz berufen sind“ (Röm 8,28). Und da wir wissen, dass jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk von dem Vater der Lichter kommt, sind wir nicht zu entschuldigen, wenn wir Ihm nicht entsprechen; denn wir sind Seine Kinder und berufen, den Charakter der Familie Gottes zu offenbaren.

So ist es verständlich, dass der Apostel in der zweiten Hälfte des ersten Kapitels den wunderbaren Ausgangspunkt des Gläubigen beschreibt. Denn der so oft missverstandene Vers 7 bezieht sich tatsächlich auf die Stellung des Gläubigen, nicht, wie so häufig angenommen, auf sein Tun und seinen Wandel. Er stellt das Kennzeichen unseres normalen Wandels dar, da wir ewiges Leben besitzen. Dieses Leben hat sowohl seinen mächtigen Schutz als auch die Grundlage zu unbegrenzter Erquickung in dem Opfer Christi. So sind die Worte: „ Wenn wir aber in dem Lichte wandeln“ eine abstrakte Kennzeichnung des wahren Christen. Sie genügt, um die Verkehrtheit einer anderen Auslegung dieses Verses zu zeigen. Es handelt sich nicht um einen bestimmten Zeitpunkt oder um Handlungen im Wandel des Gläubigen, sondern um seinen gottgemäßen Charakter. Genau dieses zeigt der Apostel so freudig in seinem Brief und wendet es immer wieder auf uns an. „Wenn wir aber in dem Lichte wandeln“, das bedeutet in Wirklichkeit, wenn wir Christen sind, wenn wir das Licht des Lebens gesehen haben, wenn wir Christus nachfolgen. Der Herr sagt: „Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis wandeln“ (Joh 8,12). Meint der Herr damit etwas, das nur für gewisse Heilige gilt? Nein, Er versichert, dass es auf jeden zutrifft, der Ihm nachfolgt: „Der wird nicht in der Finsternis wandeln, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ Das ist ein großes Vorrecht, das aber völlig auf der Gnade Gottes und in keiner Weise auf unserer Treue beruht. Es ist allein das Ergebnis der unvergleichlichen Güte Gottes, dass wir es als Gläubige unmittelbar mit Ihm zu tun haben, wie Er ist. Nicht in der Finsternis, sondern nur im Licht können wir Gott erkennen, wie Er ist. In diesem Licht besitzen wir nicht nur das ewige Leben, sondern wandeln auch dementsprechend im Licht und nicht mehr in der Finsternis wie ein Heide. Der gefallene Mensch wandelt notwendigerweise in der Finsternis, weil er Gott nicht kennt. Der Gläubige aber wandelt im Licht, weil er Gott kennt und Christus, das Licht des Lebens, erblickt hat. Dieses Licht des Lebens ist kein schwacher, vergänglicher Strahl, sondern das vollkommene, unveränderliche Licht. „Das wahrhaftige Licht leuchtet schon“, es scheint auf den Christen, ja, bis in sein Herz hinein. Der Apostel Paulus nennt es sogar den „Lichtglanz der Herrlichkeit“, weil er mit dem erhöhten Christus droben beschäftigt ist. Hier haben wir es mehr mit dem Licht des Lebens in Christus, dem wahren Licht der göttlichen Natur, zu tun. Als wir uns bekehrten und auf dem Erlösungswerke ruhten, wurden wir noch nicht in den Himmel, aber zu Gott geführt (1. Pet 3,18). Gott aber ist nicht Finsternis, sondern „Licht ... und gar keine Finsternis in ihm“. In diesem Lichte wandeln wir.

Manche verwechseln den Wandel im Licht mit dem Wandel, der diesem Licht entspricht. Aber das ist eine völlig andere Sache. Denn wenn wir sagen: „Wir wandeln in Übereinstimmung mit dem Licht“, dann bezieht sich das auf unser praktisches Verhalten. Heißt es aber: „Wir wandeln im Licht“, so zeigt das, wohin wir durch unseren Herrn Jesus Christus gebracht worden sind, nämlich zu Gott. In diesem Lichte wandeln wir von da an bis zu dem Augenblick, da wir bei Ihm sein werden, wo das Licht dann vollkommen ungehindert erstrahlen wird. Hier haben wir noch mit allerlei Zukurzkommen, Hindernissen und Gefahren von Seiten des Fleisches, der Welt und Satans zu tun. Doch wandeln wir durch den Glauben schon jetzt in dem Licht der Gegenwart Gottes.

Der Feind hat einen, wie man sagen könnte, persönlichen und ganz besonderen Hass auf den Sohn Gottes, den Herrn Jesus. Satan hasste natürlich auch den Menschen von Anfang an, während Gott barmherzige, huldvolle Gefühle für den Menschen hegte. Es war ja der Ratschluss Gottes, dass der Sohn selbst Mensch werden sollte. Doch auch der Mensch als solcher war ein Gegenstand des Interesses Gottes. Er war nur ein Geschöpf aus Staub, bis Gott den Odem des Lebens in seine Nase hauchte. Der Mensch allein, als das Haupt der irdischen Schöpfung, empfing den Odem Gottes auf diese unmittelbare Weise. Die anderen Geschöpfe wurden ins Leben gerufen, ohne diesen Hauch empfangen zu haben; infolgedessen war ihr Leben mit dem Tode beendet. Nicht so der Mensch. Zwar kehrt er mit dem Tode zum Staube zurück, aber was geschieht mit dem Odem Gottes? Er bildet die Grundlage der Unsterblichkeit der Seele. Ich meine jetzt nicht das neue Leben des Gläubigen, sondern die Seele, die jeder Mensch besitzt. Wenn jemand die Unsterblichkeit der Seele leugnet, so ist er in dieser Beziehung ein Ungläubiger, denn er stellt damit die menschliche Seele auf eine Stufe mit der eines Hundes. Kann es eine größere Beleidigung Gottes und zugleich Beweis des Unglaubens geben angesichts dessen, was Er an und für den Menschen getan hat? Kein anderes Lebewesen wurde im Bilde und nach dem Gleichnis Gottes geschaffen. Umso größer der Unglaube und die Undankbarkeit, die Gott und Sein Wort derartig verachten, – den Gott, der dem Haupt der Schöpfung solche Güte und Ehre erwiesen hat! Der Mensch wurde zum Herrschen geschaffen. Eine solche Stellung nehmen nicht einmal die Engel ein; sie sind alle Diener. Kein Engel wird je eine Krone tragen oder auf einem Thron sitzen (was auch Dichter und Theologen diesbezüglich behaupten mögen). Aber die Heiligen werden ganz sicher mit Christus herrschen.

Es liegt somit schon in der Erschaffung des Menschen etwas außerordentlich Erhabenes. Satans Absicht ist es, ihn zu einem nur für die Gegenwart lebenden Wesen zu machen. Vor allem Zukünftigen soll er seine Augen verschließen und Gottes Wort und sein darin angekündigtes Gericht ignorieren. Es gibt in unseren Tagen viele Formen des Unglaubens. Wir dürfen wohl sagen, dass die erste Stufe des Unglaubens in der Leugnung der Bibel als Gottes Wort, oder aber in der Verwerfung Seines Zeugnisses über Christus gemäß dem verkündeten Evangelium besteht. Als nächster Schritt wird das Leben der unsterblichen menschlichen Seele dem des Tieres gleichgestellt und damit Himmel und Hölle geleugnet. So geht es tiefer und tiefer in die finsteren Abgründe des Unglaubens. Es besteht aber auch immer die Gefahr der Anmaßung, denn das Fleisch neigt dazu, alles zu missbrauchen, am meisten jedoch, die Gnade zu verdrehen. Selbst wo eine neue Natur vorhanden ist, wird der Gläubige nur auf dem rechten Weg erhalten, wenn er sich in Abhängigkeit von Gott durch den Glauben auf das Werk Christi stützt.

Andererseits handelt Gott selbst in aktiver Weise. Wenn das Licht der sittliche Charakter Gottes ist, so ist die Liebe die Energie Seines Wesens, die sich in tiefer Zuneigung und Mitgefühl äußert.

In abstraktem Sinne kann nur die Liebe sich derart äußern. Zweifellos kann die Liebe leicht missbraucht werden. Wir würden sie nicht nur gelegentlich missbrauchen, sondern zu noch Schlimmerem fortschreiten, wenn Gott Sich in Christus nur als Leben und Licht und nicht auch als Liebe offenbart hätte. Aus dieser Liebe heraus starb der Heiland und vergoss Sein Blut für uns, um uns in Gottes Augen weißer als Schnee zu machen. Er, der Heilige und Gerechte, ist auch unser Sachwalter bei dem Vater.

Wir sehen, dass der Apostel hier nicht wie im zweiten Teil des ersten Kapitels die Natur Gottes beschreibt, sondern Seinen Charakter als Vater, diese Bezeichnung voller Gnade in Seinem Verhältnis zum Christen. Die Gnade, die Gott dem Christen erweist, ist die höchste Gnade, die Gott je bewiesen hat oder beweisen wird. Sein Wort ist jetzt vollständig. Gott wird keine neuen Offenbarungen mehr geben, der Mensch hat keine mehr zu erwarten. Gott hat Seine letzte und bedeutungsvollste Mitteilung gemacht; außerdem ist der Heilige Geist jetzt anwesend, um uns in Seinem Sohn die erforderliche Kraft darzureichen. Wir brauchen nicht nach Jerusalem, Samaria oder Rom zu gehen, um die Bedeutung des Wortes Gottes zu erfahren. Die Heilige Schrift ist allein Grundlage und Maßstab der Wahrheit, und der Heilige Geist wohnt in jedem Christen zu dem ausdrücklichen Zweck, ihn in die ganze Wahrheit zu leiten.

Das setzt jedoch einen geeigneten Seelenzustand voraus. Im ersten Teil von Kapitel 1 finden wir als hohen und gesegneten Gegenstand die Gemeinschaft vorgestellt. Christliche Gemeinschaft beinhaltet, in jeder Hinsicht teilzuhaben an den Gedanken und Zuneigungen des Vaters, an Seinem Werk und Seinen Absichten, die alle auf Den hinzielen, welcher der Gegenstand unseres Glaubens geworden ist. Wir finden sie persönlich in dem Mensch gewordenen Wort sowie in dem niedergeschriebenen Wort, und wir haben sie im Glauben zu ergreifen. Wir erkennen dann, dass Gottes Tun in Christus für uns schon Gegenstand Seines Herzens war, ehe Er noch irgendetwas gewirkt hatte. Er hat es uns in Seinem Sohn offenbart und durch den Heiligen Geist mitgeteilt. Wir haben das Beste empfangen, was Gott uns geben konnte. Seine eigene Wonne am Sohne von Ewigkeit her ist nun auch uns mitgeteilt. Denn als Er sagte: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen gefunden habe“, ist dieser Ausspruch nicht viel wunderbarer, als wenn Er gesagt hätte: „an welchem ihr Wohlgefallen finden sollt“? Schon das müssten wir als eine große Gnade empfinden. Gott aber will die höchste Freude Seines Herzens mit uns teilen. Denn Sein Wohlgefallen ist auf den Herrn Jesus konzentriert, und zwar umso mehr, weil der Sohn sich herabließ, Menschengestalt anzunehmen und von einem Weibe geboren zu werden. Diese Tatsache war zu unserem Heil und Segen ebenso notwendig wie diejenige, dass Er gleichzeitig Gott von Ewigkeit ist. Ohne die Fleischwerdung des Sohnes Gottes war keine Verbindung zwischen Gott und dem Menschen möglich. Und wie sehr wurde Gott darin verherrlicht!

Der Herr Jesus kam nicht nur auf die Erde, um zu sterben. Das ist zwar für uns von höchster Bedeutung, denn dadurch sind wir aus Sündenelend und allen Folgen unserer gefallenen Natur errettet worden. Aber Gott Selbst zu genießen, wie Er ist, Gemeinschaft mit dem Vater und mit Seinem Sohne Jesus Christus zu haben, ist ein Vorrecht, das heute leider den meisten Christen unbekannt ist, obwohl dies unser schönstes und höchstes Teil ist. Ist das nicht ein beklagenswertes Zukurzkommen? Man meint, es genüge, errettet zu sein oder gar nur demütig darauf zu hoffen, dass man einmal gerettet wird. Dies ist ein besonders selbstsüchtiger und schwer zu beseitigender Standpunkt der Calvinisten. Sie sagen: „Die Hauptsache ist, dass ich gerettet bin! Erwählt oder nicht erwählt zu sein, das ist die erste entscheidende Frage!“ Dabei dreht sich alles um das eigene Ich. Für Gott ist es nur der erste Schritt, dass der Mensch an den Herrn Jesus glaubt. Dann kann das Herz sich durch die Macht des Geistes völlig dem Vater und dem Sohne öffnen und sich nicht nur zu allen Gläubigen, sondern auch zu allen Sündern ausstrecken, damit auch sie glauben und errettet werden.

Nein, meine eigene Sicherheit ist nicht das Wichtigste. So gesegnet es ist, errettet zu sein, so bedeutet meine eigene Rettung doch nur einen geringen Teil dessen, was das Christentum ausmacht, und wie viel weniger noch im Blick auf Gottes Herrlichkeit! Die Errettung durch die Annahme des Heilandes steht zwar als wichtiges Erfordernis am Anfang des Weges jedes Gläubigen. Sie beweist, dass er keinerlei Verdienst aufweisen konnte, um einen Segen zu empfangen. Sie ist die freie und vollkommene Gabe Gottes. Aber was könnte uns größere Freude bereiten, als an Seiner Liebe und der Wonne, die Er an dem Sohne Seiner Liebe empfindet, teilzuhaben? Was könnte selbst im Himmel diese Freude übersteigen? Dort wird alles Böse hinweg getan sein, und Herrlichkeit wird alles erfüllen. Aber auch dort wird es nichts Höheres geben als die Gemeinschaft mit dem Vater und mit Seinem Sohne Jesus Christus. Es ist völlig unverständlich, dass ein Christ in einer Schrift behauptet hat, dass wir im Himmel keine Gemeinschaft haben würden. Selbstverständlich dachte er nicht an eine „kirchliche“ Gemeinschaft; das wäre unsinnig, so wertvoll diese auf Erden auch ist. Nein, er bestritt jede Gemeinschaft im Himmel. Das wunderbare an der Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohne ist, dass wir sie schon hier auf der Erde genießen dürfen. Es ist jedoch nur einer der überragenden Gnadenbeweise Gottes, dass wir schon hier durch die Kraft des Heiligen Geistes zu ihrem Genuss befähigt werden.

So gesegnet die Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohne auch ist, sie kann leider leicht unterbrochen werden. Schon ein einziger törichter Gedanke, ein unbedachtes Wort genügen dazu. Denn wie könnte der Vater und der Sohn Gemeinschaft mit Sünde haben? Wir müssen deshalb wiederhergestellt werden. Aus diesem Grund finden wir hier die gnadenreiche Ergänzung: „Meine Kinder, ich schreibe euch dieses, auf dass ihr nicht sündiget“ (V. 1). Der Apostel fürchtet nicht, dass sie verloren gehen könnten. In dieser Beziehung haben auch die sonst harten und engherzigen Calvinisten vollkommen Recht. Ewiges Leben bedeutet wirklich ewiges Leben und nicht weniger. Aber es bedeutet zugleich viel mehr, als man unter diesen beiden Worten gewöhnlich versteht. Ihre Tragweite und Tiefe reicht weiter als viele Gläubige und selbst viele Märtyrer in ihnen fanden. Es ist klar, dass die Bezeichnung „ewiges Leben“, selbst oberflächlich betrachtet, mehr in sich schließt als nur unsere Errettung und Sicherstellung. Wir wissen jedoch, dass es leider lebendige Christen gibt, die noch nicht einmal diese Seite des ewigen Lebens bejahen. Nichts ist zu töricht oder sogar Gottes Wort entgegengesetzt, dass es nicht in christlichen Kreisen Eingang finden würde, abgesehen von der Grundwahrheit über Christus Selbst. Aber Gott wacht über Herz, Gedanken und Worte Seiner Kinder, so musste Er hier jeden Missbrauch Seiner unvergleichlichen Gnade, jede Geringschätzung Seiner anbetungswürdigen Person verhindern.

Die Gemeinschaft mit dem Vater und mit Seinem Sohne, die sich auf das ewige Leben in Christus gründet, macht uns passend für das Licht und befähigt uns zu einem Wandel im Licht. In Seiner Gnade reicht Gott uns nicht nur Einsicht für unseren Wandel, sondern auch Frieden und völlige Freude dar. Aber wie viele Kinder Gottes wissen gar nicht, dass sie jetzt schon einen Anspruch auf diese Vorrechte besitzen, weil dies den Gedanken des Vaters über sie entspricht! In ihrem täglichen Leben als Christen sind sie weit von der „völligen Freude“ entfernt, die nicht nur hier genannt, sondern auch von Paulus bezeugt und vorgelebt wurde.

Betrachten wir den Philipperbrief, den „Brief der Erfahrung“, der doch wie kein anderer von überströmender Freude angefüllt ist. Der Apostel war selbst von Freude erfüllt und wollte sie auch in den Herzen der Philipper finden, die er gleichermaßen liebte wie sie ihn. Man kann sagen, dass er die Arbeit in Philippi in einem Kerker um Mitternacht weitergeführt hat unter großen Schmähungen von Seiten der Menschen. Misshandlungen und Schande waren sein Teil und das seines Begleiters Silas gewesen. Aber an keinem anderen Ort begann die Evangeliumsarbeit so offenkundig mit Triumphgesängen vor Gott inmitten von Leid und Schmerz. Nicht nur die Mitgefangenen hörten ihnen zu, wie uns mitgeteilt wird, sondern auch Gott hörte sie; und Er antwortete mit einem Erdbeben, wie es, wie wir wohl annehmen dürfen, noch keines an einem anderen Ort seit Bestehen der Erde gegeben hat. Die Auswirkungen dieses Bebens hatten einen beispiellosen Erfolg: alle Fesseln wurden gelöst, trotzdem flüchtete keiner der Gefangenen, und niemand wurde getötet oder auch nur verletzt. Für den Kerkermeister gab es ein wunderbares Erwachen. Er hörte nicht nur, dass alle seine Gefängnisinsassen in Sicherheit waren, er erfuhr etwas unvergleichlich Besseres: den Heiland, der ihn durch göttliche Gnade rettete. Er war gewiss ein rauer, harter und rücksichtsloser Mann gewesen wie so mancher Gefängniswärter besonders jener Zeit, nun aber wurde er ein mächtiger Beweis göttlicher Barmherzigkeit. Er war ein Zeugnis der Antwort Gottes auf den Missbrauch der Autorität, aber zugleich auch auf das gläubige Ausharren Seiner Knechte, die Ihm im Kerker lobsangen. Von dort waren ihre Lobgesänge, die sie trotz ihrer vielen Striemen Ihm zur Ehre freudig anstimmten, wohlgefällig an Sein Ohr gedrungen. Wenn wir – unter unseren normalen Umständen – die Gnade und Wahrheit Gottes in Ruhe und Frieden genießen können, sollten sicherlich unsere Lieder im Geiste jederzeit zu Gott emporsteigen. Das heißt nicht, dass Christen immerzu singen sollten, sondern dass allezeit Lob und Dank aufsteigen sollten aus ihren Herzen. So würde es sicherlich auch sein, wenn alle Gläubigen die ihnen in Christus geschenkten Segnungen, wie sie in Gottes Wort offenbart sind, besitzen und genießen würden, frei von jeder Verdunklung der Wahrheit durch mangelnden Glauben.

Kapitel 2 beginnt mit einem rührenden Appell an das liebevolle Vertrauen derer, die der Apostel hier „meine lieben Kinder“ nennt (vgl. S. 278). Er hat eine derartige liebevolle Anrede bisher nicht verwendet; jetzt gebraucht er sie. Es heißt hier auch nicht mehr: „Wir schreiben“, als passender Ausdruck des gemeinsamen Zeugnisses in Kapitel 1, sondern: „Ich schreibe euch dieses“. Er wird hier in seinen Worten ganz persönlich. Der Apostel schrieb an jeden einzelnen und an alle gemeinsam, wie Gott ihn leitete, aber von sich aus ganz persönlich. Er war gewiss ebenso inspiriert, im ersten Kapitel den Ausdruck „Wir schreiben“ zu gebrauchen wie „ich schreibe“ im zweiten. Im ersten Kapitel handelte es sich um das, was auserwählte Zeugen durch die Gnade Gottes bezeugten und was von allen Gläubigen vollkommen genossen werden sollte. Wenn sie Gott um Mitternacht lobsingen konnten, dann würden sie Ihm sicherlich auch am lichten Mittag ihre geistlichen Loblieder darbringen. Aber hier spricht der Apostel eine ernste Warnung aus: „Ich schreibe euch dieses, auf dass ihr nicht sündiget. „ Wer könnte sich wundern, dass diese Warnung nun persönlich ausgesprochen wird? Sünde ist stets eine ernste Sache; wenn aber ein Gläubiger sündigt, wird der Herr besonders verunehrt. Wenn wir das Evangelium kennen, sollten wir wissen, dass das ewige Leben weiter besteht, auch wenn die Zeit aufhört. Der Christ besitzt das ewige Leben; es ist das Leben Christi, das ihm jetzt schon mitgeteilt ist. Ebenso besitzt er nicht, wie das Volk Israel unter Mose bei dem Auszug aus Ägypten, eine zeitliche, sondern eine ewige Erlösung (Heb 9,12). Wie alle unsere christlichen Vorrechte ist auch unsere Erlösung eine ewige. Hier in 1. Johannes 2,1 handelt es sich nicht darum, dass wir in dieser Beziehung die Befürchtungen zu hegen brauchen, die einen Israeliten bedrängen konnten. Als solche, die das Leben und den Charakter Christi offenbaren sollen, lässt uns aber die Gnade tief empfinden, was den Namen Christi verunehrt oder den Heiligen Geist Gottes betrübt, durch Den wir versiegelt sind auf den Tag der Erlösung. Aber es geht noch weiter, denn auch der Vater wird hier erwähnt. Wir sind nicht nur Teilhaber der göttlichen Natur geworden, sondern wir stehen auch in einem Kindesverhältnis zum Vater.

Wir können uns vielleicht vorstellen, wie groß der Schmerz eines Waisenkindes sein muss, das seine eigenen Eltern nie gekannt hat, wenn es sieht, welches Verhältnis andere Kinder mit ihren Eltern verbindet. Welche große Leere muss dieses Kind empfinden! In unserem Verhältnis zu Gott als unserem Vater gibt es jedoch keinen Grund zu derartigen Gefühlen. Wir haben nicht nur durch Gnade die göttliche Natur empfangen, die uns in allen Proben und Schwierigkeiten erhalten bleibt, sondern unsere Stellung in Christus als Kinder Seines und unseres Vaters bleibt unumstößlich bestehen. Was ist nun Sünde in Seinen Augen? Nichts anderes als ein direkter Schlag gegen das Wesen und die Natur Gottes. Durch unser inniges Verhältnis zu Ihm wird die Gott zugefügte Beleidigung nur noch vergrößert. Sünde in ihrem wahren Charakter bedeutet, dass jemand nach seinem eigenen Willen gegen den Willen Gottes handelt. Es handelt sich nicht um die Übertretung des Gesetzes oder „Unrecht“, wie Luther in 1. Johannes 3,4 übersetzt. Was der Apostel dort wirklich ausdrücken will, ist, dass die Sünde die Gesetzlosigkeit ist; das geht weiter und tiefer als eine Gesetzesübertretung. Das Gesetz konnte durch einen Juden aus Unachtsamkeit oder auch vorsätzlich gebrochen werden, indem er die hinter dem Gesetz stehende Autorität Gottes außer Acht ließ. „Gesetzlosigkeit“ hat dagegen einen schrecklichen Charakter. Gesetzlosigkeit kennzeichnet die Heiden, die kein Gesetz kennen; sie werden als „gesetzlos“ bezeichnet. Für uns Christen aber lautet die Definition der Sünde: „Sünde ist Gesetzlosigkeit.“ Eine Gesetzesübertretung ist stets Sünde, aber das Umgekehrte kann man nicht immer sagen, denn Sünde hat eine viel weiter gehende Bedeutung. Sünde ist Gesetzlosigkeit, d. h. ungezügelter Eigenwille.

Nachdem der Apostel im ersten Kapitel die Gemeinschaft mit Gott und die Natur Gottes beschrieben hat, ermahnt er nun in liebevollem Verantwortungsbewusstsein seine Kinder, nicht zu sündigen. Sündige ich, so ist das ewige Leben in mir nicht in Tätigkeit; ich beleidige in gröbster Weise die Liebe des Vaters und des Sohnes und verstoße gegen die sittliche Natur Gottes. Das ist etwas ganz anderes als eine Übertretung des Gesetzes Moses, so bedeutungsvoll und wertvoll dieses auch für jeden ist, der es kennt. Das Gebot ist heilig, gerecht und gut. Wir aber, selbst wenn wir ehemals Juden gewesen wären, sind jetzt mit Christus dem Gesetz gestorben und auf einen völlig anderen Boden gestellt worden. Wir stehen jetzt unter Gnade, nicht unter Gesetz. Das ist die neue, nach Christi Tod und Auferstehung offenbarte Stellung des Gläubigen. Aber Satan ist immer auf der Lauer, um uns dazu zu verleiten, den Herrn zu verunehren. Deshalb lesen wir hier die kurze aber bedeutungsvolle Mahnung: „Ich schreibe euch dieses, auf dass ihr nicht sündiget. „ Die Schlichtheit dieser Worte und die liebevolle Anrede: „meine Kinder“ unterstreichen noch ihren Ernst. Dann heißt es weiter: „ Und wenn jemand gesündigt hat“; d. h., wenn ein Gläubiger, jemand, der in dem beschriebenen Verhältnis zu Gott steht und Seine Natur besitzt, sündigt. Hier ist nur von einer sündigen Tat die Rede; es wird niemals vorausgesetzt, dass ein Christ bewusst in der Sünde lebt. Für eine solche Gleichgültigkeit Gottes Geboten gegenüber finden wir in der Schrift keinerlei Berechtigung und auch keine Entschuldigung. Zwar gibt es Seelen, die der bösen Theorie anhangen, dass in uns keine Sünde sei. Wie wir aber gesehen haben, betrügen solche sich selbst, und die Wahrheit ist nicht in ihnen. Wer leugnet, dass wir gesündigt haben, geht noch weiter. Er beweist damit, dass sein Gewissen verhärtet ist und ihm das göttliche Licht, das unser ganzes Leben im Eigenwillen offenbart, völlig fehlt. Welche Behauptung könnte der Aussage des Wortes Gottes über unseren Zustand mehr zuwiderlaufen?

„Und wenn jemand gesündigt hat – wir haben einen Sachwalter.“ Geben diese Worte nicht einer tröstlichen Wahrheit einen besonders schönen Ausdruck? Es heißt nicht „er hat“, sondern „wir haben einen Sachwalter“. Diese Sachwalterschaft Christi beschränkt sich nicht nur darauf, die Trauer und Beschämung des gefallenen Gläubigen zu beseitigen, so groß diese Wohltat auch an sich ist. Obwohl es hier um die Behandlung einer einzelnen sündigen Handlung geht, hat das Wort „Sachwalter“ doch eine viel weiter reichende allgemeine Bedeutung. Da es sich um einen Gläubigen handelt, muss unser Sachwalter einer umso größeren Verunehrung Gottes entgegentreten. Was hatte das Tragen der Sünde und der Sünden den Herrn doch gekostet! Als Er „zur Sünde gemacht“ wurde, stieg Er in die tiefsten Tiefen hinab und ertrug unter der Hand Gottes das Gericht über die Sünde, damit wir es nicht erdulden müssten. „Wenn jemand gesündigt hat – wir (d. h. alle Gläubigen, die Gegenstände der Gnade Gottes geworden sind) „haben einen Sachwalter.“ Er weilt droben, um unseren Bedürfnissen zu entsprechen. Da Er ständig dort für uns da ist, besitzen auch wir Ihn ununterbrochen. Wie wir die Erlösung durch Sein Blut, die Vergebung der Sünden und das ewige Leben besitzen, so haben wir in Ihm auch nicht weniger einen Sachwalter bei dem Vater. Die Gnade Gottes hat in dieser wunderbaren Weise Vorsorge für uns getroffen. Das Wort „Sachwalter“ (griech. parakl~tos) ist dieselbe Bezeichnung, die Johannes in seinem Evangelium für den Heiligen Geist verwendet. Das Wort „Sachwalter“ deutet in der Schrift immer auf jemand hin, der für uns berufen ist, um in vollkommener Weise das für uns auszuführen, wozu wir selbst unfähig sind. Das allein zeigt uns, dass wir der Bedeutung dieses Wortes keine zu engen Grenzen setzen und es nicht auf die Beschäftigung mit der Sünde allein beschränken dürfen. Er ist zugleich auch unser Tröster und sorgt für alle unsere Bedürfnisse. Obwohl die Tröstung Gottes gnädige Vorsorge für uns darstellt, so wäre es doch seltsam und keineswegs angemessen, wenn einem Gläubigen, der gesündigt hat, nur auf diese Weise begegnet würde. Es mag zwar dem menschlichen Fleische gefallen, die Sünde so wenig wie möglich zu erwähnen, um „die Gefühle unseres armen gefallenen Bruders, der wirklich nichts dafür konnte“, zu schonen. Eine aufrichtige Seele wird aber stets den Wunsch haben, dass die Wunde sondiert und dem heimtückischen Übel bis auf den Grund nachgegangen wird. Sie wird im Selbstgericht vor Gott stehen, weil sie in etwas verstrickt wurde, was des Vaters und des Sohnes so unwürdig ist und den Heiligen Geist betrübt. Aber schon ehe die Sünde begangen wurde, war Jesus Christus, der Gerechte, als Sachwalter bei dem Vater tätig; Er ruht auch nachher nicht, um die so betrübende Tat zum Guten zu wenden. Er tut dies nicht in Seiner Eigenschaft als Gott. Das wäre angebracht, wenn wir unseren Platz als Christen verloren hätten. Aber obwohl die Sünde so beschämend ist, können wir die göttliche Gnadenstellung nicht verlieren. Wir dürfen darauf vertrauen, dass dies unsere Stellung ist und bleibt. Gerade in den Augenblicken, wenn wir durch unsere eigene Torheit in Sünde gefallen sind, haben wir es besonders nötig, uns unsere Stellung als Christen deutlich vor Augen zu halten. Wie könnten wir uns sonst aufrichtig und tief wegen unserer Sünde schämen, ohne dabei verzweifeln zu müssen? Wie sollte es uns tief niederbeugen, dass wir uns als Gegenstände unvergleichlicher Barmherzigkeit und Segnungen unseres Gottes in Ungerechtigkeit und Sünde verstricken, die Liebe und Heiligkeit unseres Vaters vergessen und uns mit dem sündigen alten Menschen wieder einlassen konnten!

Die innewohnende Sünde ist wie ein wildes Tier, das hinter Schloss und Riegel gehalten werden muss, damit es nicht ausbricht. Sie ist unser Todfeind, den wir jedoch unter dem Urteil des Todes zu halten befähigt sind, und zwar des einzig wirksamen Todes, des Todes Christi sowie unseres Todes mit Ihm. Fallen wir trotzdem, so beweist das einen Mangel nicht nur an persönlicher Wachsamkeit, sondern auch an praktischem Vertrauen auf Christus, eine mangelnde Tätigkeit unseres Glaubens an das, was Er am Kreuz für uns vollbracht hat. Dieses Werk geschah nicht nur zur Tilgung der Sünden, sondern auch, um die Sünde im Fleische an Ihm, dessen Fleisch vollkommen heilig war, richterlich zu verurteilen. Gott hat sie an Ihm gerichtet, und das ist uns durch Gnade zugerechnet; sie ist nicht vergeben, sondern gerichtet worden. Tatsünden müssen vergeben werden, aber die innewohnende Sünde hat Gott an Christus, als Er zur Sünde gemacht wurde, verurteilt und gerichtet. An dem gekreuzigten Christus wurde das Gericht über die Sünde ausgeführt, damit wir in Ihm befreit werden konnten. Das ist es, was wir nötig hatten, und durch die Gnade ist es uns nun zuteil geworden (Röm 8,3). Wir müssen aber stets wachsam sein, damit wir die Kraft haben, das Fleisch zu verurteilen, wo immer es sich zeigt oder auch nur innerlich wirksam wird, ohne dass andere es bereits sehen können.

In unserer Schriftstelle handelt es sich jedoch um Tatsünde. Was geschieht, wenn ein Gotteskind, ich oder du, gesündigt hat? Es liegt in der Natur der Sünde, dass sie im Bösen immer weiter fortschreitet und uns zu größerer Gottlosigkeit fortziehen will. Das würde auch geschehen, wenn wir nicht einen solchen Sachwalter bei dem Vater hätten. Seine Tätigkeit für uns bewirkt, dass wir die Sünde als solche empfinden und unter Beugung vor unserem Gott und Vater richten. Es mag manchem Leser sehr merkwürdig erscheinen, dass es nicht heißt: „Wenn jemand Buße tut“, sondern: „Wenn jemand gesündigt hat, – wir haben einen Sachwalter“. Einer gesetzlichen Haltung, die an keine Gnade glaubt, würde diese Formulierung zweifellos besser entsprechen. Denn müsste es nicht richtiger lauten: „Wenn jemand Buße tut – wir haben einen Sachwalter“? – Aber Gottes Wort sagt: „Wenn jemand gesündigt hat“. Wohl hasst Gott die Sünde mit göttlichem Hass, aber Er liebt den Gläubigen, und als Vater liebt Er Sein Kind mit einer Liebe, die alle Schwierigkeiten überwindet. Sein Ziel ist es ja, den Gläubigen in Seine eigenen Gedanken einzuführen; er soll dahin gebracht werden, die Sünde so zu hassen, wie Gott Selbst sie hasst. Deswegen haben wir einen Sachwalter, und zwar nicht nur bei Gott – als hätten wir durch die Sünde alles verloren und müssten nun einen neuen Anfang machen –, sondern bei dem Vater. Durch die Sünde habe ich Seine Gnade und Wahrheit verunehrt, und Er will mich dazu bringen, dass ich meine Sünde verurteile und mich selbst dementsprechend richte. Es ist der Sachwalter droben, der dahingehend in mir wirkt. Er benutzt dazu auch noch einen anderen Sachwalter auf der Erde, den Heiligen Geist. Es ist daher einleuchtend, dass die richtige Übersetzung des Wortes parakletos „Sachwalter“ ist, und zwar sowohl im Johannesevangelium in Bezug auf den Heiligen Geist, als auch hier in Bezug auf den Herrn Jesus in Seiner Tätigkeit bei dem Vater. Der Ausdruck „Sachwalter“ deutet an, dass jemand alles für uns vollbringt, wozu wir selbst nicht in der Lage sind, bis hin zu dem extremen Fall eines Abgleitens in die Sünde. Eine ähnliche Bedeutung (soweit ein schwaches Beispiel aus der Welt es verdeutlichen kann) hatte das Wort „Patron“ bei den Römern der Frühzeit. Damals hatten Selbstsucht, Luxus und moralischer Verfall noch nicht so stark eingesetzt wie in späterer Zeit, und sie besaßen einen für ein heidnisches Volk hohen sittlichen Stand. Die Mitglieder und Nahestehenden der Sippe konnten zu ihrem Oberhaupt, dem „Patron“, gehen und seine Hilfe in Anspruch nehmen. Aufgrund der Tatsache, dass er ihr Haupt war, war er verpflichtet, sich persönlich und aktiv für die Interessen der Angehörigen seiner Sippe, die seine Hilfe benötigten, einzusetzen. Das war jedenfalls die Theorie, die dem System zugrunde lag, wenn es auch in der Praxis, wie immer bei den Menschen dieser Welt, nicht zur vollen Auswirkung kommen mochte. Es war das Prinzip der Sachwalterschaft, und was von Menschen sehr unvollkommen ausgeführt wurde, kann der Gläubige in dem Herrn Jesus jetzt in Vollkommenheit finden. Und nicht nur in Ihm, dem Sachwalter bei dem Vater, sondern auch in dem Heiligen Geist, der von dem Vater und dem Sohn gesandt wurde, um als Sachwalter in uns Wohnung zu machen. Es ist ein Teil Seiner Tätigkeit, Sich für Heilige in der Fürbitte Gott gemäß zu verwenden. Dies ist ein beständiges Eintreten des Heiligen Geistes für uns, wie wir es in Römer 8,26.27 finden, wenn auch nicht genau in der gleichen Weise, wie die Tätigkeit Christi im Himmel (Röm 8,34). Diese doppelte göttliche Sachwalterschaft entspricht in jeder Hinsicht allen unseren Bedürfnissen. Ob wir uns in Schwierigkeiten, Versuchungen oder Trübsal befinden, stets ist der Geist für uns da. Sind wir schwach oder unwissend, so kommt der Geist uns auf irgendeine Weise zu Hilfe, indem Er nicht immer direkt in uns wirkt, sondern manchmal andere dazu benützt. Ist diese Tätigkeit nicht beglückend für uns? Nach Gottes Gedanken stehen wir keineswegs unabhängig voneinander da. Durch die Kraft des Geistes sind wir als Glieder des einen Leibes Christi auch zu Gliedern voneinander gemacht worden. Es ist der Wille Gottes, dass wir dies auf der Erde zum Ausdruck bringen; doch wie weit tun wir es? – Jedenfalls wissen wir, dass unser Sachwalter droben niemals versagt, Ebenso wenig wie der Sachwalter hier auf der Erde. So ermutigt und umsorgt uns die wunderbare Gnade Gottes in doppelter Weise, um uns treu zu erhalten, wie groß auch unsere Schwachheit sein mag. Wie doppelt dankbar sollten wir Gott für diese zwei Hilfsmittel sein, die Er uns durch Johannes in seinem Evangelium und hier in seinem ersten Brief vor Augen stellt.

Unter denen, die für den Namen des Herrn Jesus lebten, dienten und litten, gab es keinen größeren Verwalter der Geheimnisse Gottes, keinen mächtigeren Arbeiter im Evangelium und in der Versammlung, als den Apostel Paulus. Trotzdem sind uns nicht alle Wahrheiten durch seine Schriften mitgeteilt worden. Der Apostel Johannes nimmt einen besonderen Platz ein, den nur er unter der Leitung des Heiligen Geistes ausfüllen konnte. Das verwundert uns nicht, wenn wir bedenken, dass er es war, der sich an die Brust Jesu lehnte. Es gab Ursachen und Gründe dafür, dass ihm ein so gesegnetes Vorrecht zuteil wurde. Wir dürfen heute Segen empfangen durch diesen Jünger, den Jesus liebte, und der durch die Gnade Gottes geformt und zubereitet wurde für ein Werk, das er viele Jahre später tun sollte, als die Versammlung Gottes sich in der bis dahin größten Bedrängnis befand. Heute allerdings erleben wir eine noch größere und umfassendere Not innerhalb der Christenheit. Aber auch heute bleibt uns der getreue Sachwalter droben und ebenso auch der „andere Sachwalter“, der bei und in uns ist. Glauben wir aufrichtig, einfältig und unerschütterlich an diese wunderbaren Tatsachen?

Es ist wichtig, den Unterschied zwischen der Sachwalterschaft und dem Priestertum des Herrn zu erkennen. Im Blick auf die Gläubigen stellt Johannes den Herrn nie als Priester vor. Als Sachwalter nimmt der Herr eine viel vertrautere Stellung zu uns ein. Doch Sein Priestertum ist trotzdem äußerst wichtig. Es wird dort besonders herausgestellt, wo es am meisten erforderlich war, nämlich im Brief an die Hebräer, von denen manche noch an dem alten Priestertum mit seinem Zeremoniell hingen. Diese für die Christen aus den Hebräern so notwendige Belehrung wird eigenartigerweise von dem Apostel Paulus gegeben. Er war ja nun nicht der Apostel der Juden, daher trägt dieser Brief an sie mehr den Charakter einer Belehrung als den der apostolischen Autorität. Dadurch, dass Paulus seinen Namen nicht erwähnt, tritt er selbst zurück und stützt sich ganz auf Schriftstellen aus dem Alten Testament, die mit unvergleichlichem Geschick herangezogen werden. Doch dieses Geschick wurde ihm durch den Heiligen Geist für diesen besonderen Zweck vermittelt. So war er zweifellos ein gesegnetes Werkzeug zum Dienst für den Herrn, den großen Priester im Himmel, während Johannes die vertrautere Stellung des Herrn als Sachwalter für die Seinen vorstellen durfte. Es ist verhältnismäßig einfach, den Unterschied zwischen diesen beiden Briefen zu erkennen, dem Brief an die Hebräer und dem des Johannes, mit dem wir uns beschäftigen, denn die jeweils besonders hervorgehobene Wahrheit wird nicht nur an einer Stelle erwähnt, sondern zieht sich durch den ganzen Brief. Der Brief an die Hebräer behandelt unser Hinzunahen zu Gott, den Zutritt zu Seinem Heiligtum. Es handelt sich hier nicht um unser Verhältnis zum Vater. Zwar wird in Kapitel 12 erwähnt, dass Gott zu den Gläubigen als zu Seinen Söhnen spricht und dass Er sich als Vater der Geister die Züchtigung derjenigen vorbehält, bei denen wirkliches Leben vorhanden ist. Aber es entspricht dem Charakter des Briefes, dass durchweg nur „Gott“ genannt wird, sofern auf die Gläubigen Bezug genommen wird. Es handelt sich daher um die Frage, wie wir in unserem menschlichen Zustand Gott im Heiligtum nahen können. Infolgedessen wird hier das Opfer Christi in seiner vollkommenen Allgenugsamkeit besonders eindrucksvoll vorgestellt. Es wird darauf hingewiesen, dass es im Gegensatz zu den Opfern Israels ein ganz besonderes Merkmal trägt: es ist das „ein für allemal geschehene Opfer“. Diese Einmaligkeit, die jeden Gedanken an eine erneute Anwendung des Blutes ausschließt, wird sorgfältig hervorgehoben. Und weshalb? Das Blut Christi hat eine Eigenschaft, die kein anderes Blut je besaß oder besitzen konnte. Es vermochte ein vollkommenes Sühnungswerk zu vollbringen, das daher „ein für allemal“ geschehen ist. Gerade diese Wahrheit wird heute leider nur noch selten völlig und uneingeschränkt geglaubt.

Obwohl sich die einzelnen christlichen Kirchensysteme und Bekenntnisformen voneinander unterscheiden, so stimmen doch alle, auch die Protestanten, darin überein, dass das Blut Christi immer wieder aufs Neue in Anspruch genommen oder angewendet werden muss. Im Grunde ist das eine Rückkehr zum Judentum, obwohl die jüdischen Gebräuche und Satzungen besonders durch den Apostel Paulus in aller Deutlichkeit für abgetan erklärt wurden. In seinen Briefen an die Thessalonicher, Korinther, Römer, Galater, Epheser, Kolosser und Philipper finden wir nicht die geringste Spur eines solchen Gedankens. Den Hebräern, die ja Judenchristen waren, erklärt Paulus mit aller Entschiedenheit, dass jeder Gedanke an eine wiederholte Anwendung des Blutes des Herrn ausgeschlossen ist. Wenn das nämlich der Fall wäre, so sagt er in Kapitel 9,26 dieses Briefes, „hätte er oftmals leiden müssen“. Er hat aber nur einmal gelitten. In diesem Punkt zeigt sich, welcher Irrtum, ja welche Torheit der römisch-katholischen Messe zugrunde liegt. Sie ist anerkanntermaßen ein „unblutiges Opfer“, das Tag für Tag zur Vergebung von Sünden wiederholt wird. Durch dieses „Sakrament“ wird aber tatsächlich erklärt, dass das Blut Christi nicht ausreicht und daher das Messopfer zur Vergebung der Sünden erforderlich ist. In Wirklichkeit handelt es sich nur um einen Betrug, um eine verwerfliche Erfindung, die von der Überheblichkeit der irdischen „Priesterschaft“ zeugt und eine große Verunehrung des Herrn Jesus sowohl auf der Erde wie im Himmel darstellt. Aber selbst die strengsten Protestanten sind nicht frei von dem Irrtum bezüglich der immer wiederkehrenden Inanspruchnahme des Blutes Christi.

Die Entstehung dieses Irrtums und des darauf aufgebauten Systems ist darauf zurückzuführen, dass man die „Waschung mit Wasser durch das Wort“ gewöhnlich übersehen hat. Diese Wahrheit wird einfach nicht erkannt und nur mit der Taufe in Zusammenhang gebracht. Die Heilige Schrift dagegen wendet sie auf das ständige Bedürfnis des Gläubigen an, nachdem er durch den Glauben auf der Grundlage des Blutes Christi ruht. Diese Waschung mit Wasser hat nach Gottes Wort zwei Seiten. Die „Waschung der Wiedergeburt“ (Titus 3,5) findet meist zum gleichen Zeitpunkt statt, zu dem wir durch den Blick auf das Blut Christi zur Ruhe gekommen sind, und wird nie wiederholt. Es gibt keine Wieder-Wiedergeburt! Ebenso wenig, wie es eine Wiederholung des Opfers Christi gibt, kann es eine Wiederholung der Wiedergeburt geben. Beides hat einen einmaligen Charakter. Das Blut Christi behält vor Gott und für uns stets seine vollkommene Wirksamkeit. Wenn es nicht so wäre, wären wir tatsächlich verloren, denn Christus kann nicht noch einmal für uns sterben. Manche Menschen glauben jedoch, dass das Werk Christi, zu dem sie Zuflucht genommen haben, durch Sünde in seiner Wirksamkeit unterbrochen wird, so dass zu unserer Reinigung eine erneute Anwendung des Blutes erforderlich ist. Sollte das stimmen, wo wäre die erneute Blutanwendung zu finden? Christus ist ein für allemal gestorben, und der Wert Seines Werkes bleibt auf immerdar (oder: ununterbrochen, fortwährend; gr. „eis to dienekes“) bestehen.

Dagegen ist die „Waschung mit Wasser durch das Wort“ fortlaufend möglich und erforderlich. Die Notwendigkeit unserer fortwährenden Reinigung wird bemerkenswerterweise nicht im Hebräerbrief oder in den drei ersten Evangelien, sondern nur im Evangelium des Johannes dargestellt. In Johannes 13 nahm der Herr ein Waschbecken, Wasser und ein leinenes Tuch, um die Füße Seiner Jünger zu waschen. Mit dieser symbolischen Handlung deutete Er Seine jetzige Tätigkeit im Himmel an, wenn unsere Füße hier auf der Erde beschmutzt worden sind. Er sagte den Jüngern, dass sie später verstehen würden, was diese Handlung zu bedeuten hatte. Sie soll die Verunreinigungen, die der Wandel des Christen mit sich bringt, hinweg tun. Hier sehen wir den Herrn deutlich in Seiner Eigenschaft als Sachwalter. Er deutete diesen Seinen Dienst an, indem Er sich niederbeugte, nicht um für sie zu sterben, sondern um ihre beschmutzten Füße zu waschen. Damit rief Er das Erstaunen des Petrus und zweifellos auch der anderen Jünger hervor. Petrus bewies durch seinen Einspruch das Unverständnis der Jünger und zugleich, wie töricht es war, die Ehre Seines Herrn nach seinen eigenen Gedanken aufrechterhalten zu wollen. Aber gerade in der Erniedrigung, zu welcher der Herr Sich in Seiner Liebe herabließ, zeigt sich Seine höchste sittliche Herrlichkeit. Die Liebe des Vaters wurde darin in vollkommener Weise befriedigt, und auch wir Gläubigen dürfen uns völlig daran erfreuen. Die Fußwaschung entspricht daher den Worten des Johannes in seinem Brief: „ Wir haben einen Sachwalter bei dem Vater“ (1. Joh 2,1). Es handelt sich nicht um die Anwendung des Blutes, sondern des Wassers. „Dieser ist es, der gekommen ist durch Wasser und Blut, Jesus, der Christus; nicht durch das Wasser allein, sondern durch das Wasser und das Blut.“ So schreibt der Apostel in Kapitel 5,6, wobei er sich offensichtlich auf die Worte in Kapitel 19,34.35 seines Evangeliums bezieht. Christi Tod ist das Mittel zur Versöhnung und sittlichen Reinigung des Sünders, der an Ihn glaubt. Dabei kommt das Blut ein für allemal zur Anwendung, das Wasser aber (nach Johannes 15,3 ein Bild des Wortes Gottes) nicht nur zu Anfang, sondern fortwährend bis hin zum Ende unseres Erdenwandels. Das Wort wendet Seinen Tod auf uns an, um uns durch den Glauben zu reinigen. Wie bereits erwähnt, ist im Hebräerbrief der Zutritt zu Gott aufgrund eines vollkommenen Opfers, „das Blut Seines Kreuzes“, gesichert. Durch Seinen Eintritt in das Heiligtum als der große Hohepriester über das Haus Gottes ist Er, unser Vorläufer, dort bereits für uns eingegangen, damit auch wir Freimütigkeit zum Eintritt haben mögen. Sein Priestertum dient dazu, uns in Versuchungen zu helfen und uns in unseren Schwachheiten Mitleid zu erweisen, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zur rechtzeitigen Hilfe. Im Himmel erscheint Er vor dem Angesicht Gottes für uns. Er ermuntert und stärkt uns in allen Anfechtungen, die die Wüste mit sich bringt, in all unseren Schwachheiten und Nöten. Sein Priestertum droben wird jedoch nirgendwo im Zusammenhang mit unseren Sünden gesehen; dafür ist ausdrücklich Seine Sachwalterschaft vorhanden. „Wenn jemand gesündigt hat – wir haben einen Sachwalter bei dem Vater. „ Es ist zwar derselbe Jesus, aber in einer anderen Tätigkeit, um die durch die Sünde unterbrochene Gemeinschaft mit dem Vater wiederherzustellen.

Unsere Aufmerksamkeit wird aber noch auf eine weitere Tatsache gelenkt. Als Sachwalter wird Jesus Christus „der Gerechte“ genannt; das ist sehr bedeutsam. Aber mehr noch, „er ist die Sühnung für unsere Sünden“ (V. 2). Wir haben hier also eine zweifache Grundlage. Erstens gründet sich Seine Sachwalterschaft auf die Tatsache, dass Er der Gerechte ist. Wir besaßen keine Gerechtigkeit; aber Er, der Gerechte, ist uns von Gott nicht nur Weisheit, sondern auch Gerechtigkeit geworden (1. Kor 1,30). Außerdem ist Er die Sühnung für unsere Sünden und wurde zu diesem Zweck von Gott, dem Vater, hernieder gesandt. Er tat alles, was nötig war, um unsere Sünden im Gericht Gottes ein für allemal zu sühnen. Als Sachwalter aber beschäftigt Er Sich mit den Sünden der Gläubigen, die den Genuss ihrer Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohne unterbrochen haben. Das hat nichts mit Seinem einmaligen Leiden unter dem Gericht Gottes zu tun – denn diese Frage wurde am Kreuz völlig abgeschlossen-, sondern nur mit der Wiederherstellung der so leicht unterbrochenen Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohne. Wie beschämend ist es, geliebte Geschwister, wenn wir diese Gemeinschaft gering achten und kein Gefühl dafür haben, dass sie bereits durch ein leichtfertiges Wort, eine törichte Tat unterbrochen wird! Doch „wir haben einen Sachwalter bei dem Vater, Jesus Christus, den Gerechten“.

Christus weilt für uns droben in all Seiner Gnade. Trotzdem bleibt die Gerechtigkeit in unvermindertem Ausmaß bestehen, ebenso wie das durch Sein Blut vollbrachte Sühnungswerk. Es ist ein Grund der Freude und des Ruhmes für den Christen, dass der auferstandene Christus und die Wirksamkeit Seines Werkes am Kreuz für uns durch nichts angetastet werden können. Wenn auch die Welt für diese Wahrheit blind und taub ist, wird doch im Himmel ihre Bedeutung im Blick auf die Verherrlichung Gottes und auf unsere Reinigung nie vergessen.

Wir müssen hier jedoch noch etwas anderes beachten. Der Apostel sagt, dass Christus nicht nur die Sühnung für unsere Sünden ist, „sondern auch für die ganze Welt“. Die Sühnung der Sünden bezieht sich in der ganzen Schrift immer ausdrücklich auf diejenigen, die glauben, neutestamentlich also auf die Kinder Gottes. Christus ist zwar die Sühnung für die ganze Welt in einem allgemeinen Sinn, aber im engeren Sinn nur „für unsere Sünden“. Wenn von der Welt die Rede ist, wird stets ein deutlicher Unterschied gemacht. Man geht also weiter als Gottes Wort, wenn man den Satz ergänzt: „sondern auch für die Sünden der ganzen Welt“. Der Hinweis auf „die Sünden“ der Welt ist in diesem Satz durchaus unrichtig. Wenn der Herr die Sünden der ganzen Welt gesühnt hätte, so würde die ganze Welt auch in den Himmel kommen! Wenn Er ihre Sünden in der gleichen Weise wie die unsrigen getragen hätte, was hätte Gott dann noch an der Welt auszusetzen? Nein, Er ist die Sühnung für unsere Sünden; Er hat sie auf ewig hinweg getan, ausgetilgt durch Sein Blut. Gelte dies auch für die Welt, so wäre sie ja mit Gott im reinen!

Die Calvinisten zeigen auch in diesem Punkt eine oberflächliche, harte und falsche Auffassung. Sühnung gilt nicht nur für die Kinder Gottes. Unabhängig von unserer Errettung musste Gott im Blick auf die Sünde verherrlicht und Seine Liebe selbst hinsichtlich Seiner ärgsten Feinde erwiesen werden. Wir finden diese beiden Wahrheiten im Bilde des großen Versöhnungstages (3. Mose 16) dargestellt. Das Volk Israel musste an diesem Tage zwei Ziegenböcke darbringen. Einer davon war für Jehova, der andere für das Volk. Aber nur auf den Bock, der für das Volk war, wurden alle ihre Sünden bekannt. Bei dem ersten Bock war das nicht der Fall; er wurde als Sündopfer dargebracht. Der wichtige Unterschied liegt darin, dass der erste Bock für Jehova dazu diente, Seine Herrlichkeit, die in dieser Welt durch die Sünde verdunkelt worden ist, ans Licht zu bringen und Seine Forderungen in Gnade zu erfüllen. Gott musste im Blick auf die Sünde unbedingt verherrlicht werden. Damit war aber noch nicht die Frage der Schuld des Sünders geregelt. Um Vergebung zu erlangen, mussten die Sünden ausdrücklich bekannt werden. Das tat Aaron, indem er seine beiden Hände auf den zweiten, lebendigen Bock, der für das Volk war, legte. Der erste Bock wurde geschlachtet, sein Blut in das Heiligtum gebracht und innerhalb und außerhalb des Zeltes gesprengt. Hier haben wir im Vorbild die Sühnung, die sich insoweit auf die ganze Welt erstreckt, als nun jedem Sünder die Frohe Botschaft verkündet werden kann. Diese Lehre finden wir auch an anderen Stellen der Heiligen Schrift, aber durch dieses Vorbild wird der Unterschied besonders deutlich. Das Opfer Christi hat Gottes Natur vollkommen verherrlicht, so dass Er jetzt in Seiner Unumschränktheit der ganzen Schöpfung das Evangelium verkündigen lassen kann. Aber um gerettet zu werden, ist für den Sünder mehr erforderlich. „Christus hat ihre Sünden an seinem Leibe auf dem Holz getragen“ (l. Petr. 2, 24). Das wird niemals in Bezug auf die Welt gesagt; das Wort ist sehr genau in den diesbezüglichen Aussagen. Aber da Gott durch das Opfer Christi im Blick auf die Sünde vollkommen verherrlicht worden ist, kann Er durch Seine Diener sogar Seine Feinde bitten und ermahnen lassen: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ Gottes Liebe ist die Triebfeder, Christi Tod der Weg und die Grundlage für die Frohe Botschaft des Heils. Das besagt nicht, dass die ganze Schöpfung tatsächlich gerettet werden wird, aber dass Gott in Christus verherrlicht worden ist. Selbst wenn keine einzige Seele errettet würde, so ist Gott doch durch den duftenden Wohlgeruch Christi und Seines Werkes verherrlicht worden.

Zwischen diesen beiden Tatsachen besteht ein großer und wichtiger Unterschied. Wenn Gott dem Menschen alles überlassen hätte, hätte niemand gerettet werden können. Nur durch die Gnade sind wir gerettet worden. Gott bewirkt den Glauben in den Auserwählten, und erst dann wird die Sühnung unserer Sünden wirksam. Kein gottesfürchtiger Mensch nimmt an, dass alle Menschen gerettet werden, oder aber leugnet, dass die Gnade den Unterschied zwischen einem Gläubigen und einem Ungläubigen ausmacht. Der große Versöhnungstag bezeugt uns, dass die Verherrlichung Gottes an erster Stelle steht und unabhängig von der Sühnung der Sünden Seines Volkes ist. Von größerer Wichtigkeit war, dass Seine Wahrheit, Heiligkeit und Gerechtigkeit, Seine Liebe und Majestät durch das Kreuz Christi unter Beweis gestellt wurden. Hier trafen wie nie zuvor Gut und Böse aufeinander. Das Ergebnis war Gericht und Sieg über das Böse und der Triumph des Guten, wodurch nicht nur alle Glaubenden, sondern auch alle Dinge (nicht alle Menschen!) mit Gott versöhnt werden und die Grundlage für neue Himmel und eine neue Erde von ewigem Bestand gelegt wurde. Diese Grundlage wird uns durch den geschlachteten Bock, der für Jehova war, angedeutet. Um das Volk aber von seinen Sünden zu befreien, stellte Gott Seine große Barmherzigkeit unter Beweis. So sehen wir, dass die Sünden des Volkes ausdrücklich bekannt und auf den lebendigen Bock gelegt wurden, der sie in ein ödes Land trug, damit ihrer nie mehr gedacht würde. Darin besteht der Unterschied zwischen Sühnung und Stellvertretung.

Der Herr Jesus ist, wie wir hier lesen, die Sühnung für unsere Sünden, „nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die ganze Welt“. Die „Kinder Gottes“ und die „Welt“ werden dabei sorgfältig unterschieden. Deshalb ist es nicht richtig, wenn man übersetzt: „für die Sünden der ganzen Welt“. Es ist gefährlich, den Worten der Schrift etwas hinzuzufügen; wir sollen aber nur ihren klaren Worten Glauben schenken. Durch menschliche Zusätze entstehen Schwierigkeiten, die durch das Festhalten am Wort Gottes vermieden werden können. Dieses Wort genügt, um der ganzen Welt die Barmherzigkeit Gottes zu verkünden, Sein Wesen und Seine Liebe zu rechtfertigen. Es bezeugt allen Menschen, dass Er ein Heiland-Gott ist. Gott lässt Seine Botschaft der Gnade zu allen Menschen ausgehen und gebietet ihnen allenthalben, Buße zu tun. Um gerettet zu werden, bedarf es nach dem Gnadenratschluß Gottes zuerst des Rufes an den Sünder, danach der Wirksamkeit des Heiligen Geistes im Herzen des Glaubenden, damit er Christus ergreift. Das kann aber nicht von der „ganzen Welt“ gesagt werden, und es ist müßig, diese Tatsache leugnen zu wollen. Gottes Wort erklärt uns das deutlich.

Zu jemand, der an den Herrn Jesus glaubt, dürfen wir aufgrund des Wortes sagen: „Er hat deine Sünden getragen.“ Wir haben aber nicht das Recht, einem Ungläubigen oder der „ganzen Welt“ diese Zusicherung zu geben. Nur der Glaube hat ein Anrecht darauf.

Der große Versöhnungstag gibt uns tatsächlich ein besonders deutliches Zeugnis für einen großen Grundsatz im Wort Gottes, der in der Lehre des Neuen Testaments klar erläutert wird. Denken wir an den Unterschied, der zwischen „Erlösung“ (Eph 1,7) und „Erkaufen“ (2. Pet 2,1) besteht. Diese beiden Wahrheiten werden oft miteinander verwechselt (z. B. von den Calvinisten und Arminianern), so dass Wahrheit und Irrtum vermengt werden. Durch Seinen Tod hat der Herr die ganze Schöpfung einschließlich aller Menschen, auch der falschen Lehrer, „erkauft“. Wer Seine Rechte leugnet und sich gegen seinen göttlichen Gebieter auflehnt, tut dies zu seinem ewigen Verderben. Doch nur diejenigen werden „erlöst“, die durch den Glauben an Sein Blut die Vergebung ihrer Vergehungen empfangen. Sowohl die „Erlösung“ des einzelnen als auch das „Erkaufen“ der ganzen Welt werden in der Schrift gelehrt, aber es entsteht ein großer Irrtum, wenn beide Wahrheiten miteinander vermengt oder verwechselt werden. Durch Seinen Tod am Kreuz fügte der Herr Seinen Rechten als Schöpfer einen weiteren Anspruch auf alle Kreatur hinzu, indem Er den unermesslichen Kaufpreis für sie bezahlte. Alle gehören nun Ihm und nicht mehr sich selbst, wenn auch nur der Gläubige dies völlig anerkennt. Durch die Erlösung werden wir von Satan und Sünden befreit, doch dies ist nur das Teil des Glaubens.

Die gleiche Wahrheit finden wir in anderen Worten in Hebräer 2, 9.10. Durch Gottes Gnade schmeckte Christus den Tod für alles (griech. hyper pantos), auch für alle Menschen (vgl. V. 7 und 8); alle wurden erkauft. Aber wir finden eine ganz andere Ausdrucksweise in Vers 10, wo uns mitgeteilt wird, dass Gott, indem Er „viele Söhne“ zur Herrlichkeit brachte, den Anführer ihrer Errettung durch Leiden vollkommen machte. Bringt man diese beiden Wahrheiten durcheinander, so geht nicht nur die Genauigkeit des Wortes Gottes verloren. Auch die Wahrheit wird beeinträchtigt, einerseits durch das mangelnde Verständnis über den für alles bezahlten Kaufpreis, andererseits durch eine geringe Wertschätzung der Erlösung des einzelnen.

Möge Gott die betrachteten Wahrheiten zur Verherrlichung Seines Sohnes an uns segnen.

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