Vorträge über das Hohelied

Kapitel 3,7 - 5,16

Hier geht es also nicht um das Lamm, das auf Erden verworfen und auf einem anderen Schauplatz verherrlicht ist. Danach schauen wir Christen aus; und daher sind wir willig, Ihm zu folgen – froh, Ihm auf diesem Weg der Verwerfung zu folgen. Aber hier ist es etwas anderes: Wir finden ein schönes Bild von dem, was sein wird, was Ihm gehört. „Sechzig Helden rings um dasselbe her von den Helden Israels. Sie alle führen das Schwert, sind geübt im Kriege; ein jeder hat sein Schwert an seiner Hüfte, zum Schutz vor dem Schrecken in den Nächten“; wir sehen, dass der Tag noch nicht gekommen ist. Daran müssen wir immer denken. Sie erwartet den Tag und hält nach ihm Ausschau. Wir finden sie hier; aber es ist eine Vision der Nacht. Sie liegt auf ihrem Bett; und wenn sie ausgeht, so geschieht es von ihrem Bett aus. Es ist noch nicht Tag. Der Tag wird erwartet, man schaut nach ihm aus, rechnet mit ihm, aber er ist noch nicht da.

„Der König Salomo – denn da ist es wieder der König; „der König Salomo hat sich ein Prachtbett gemacht von dem Holze des Libanon. Seine Säulen hat er von Silber gemacht“. Da sehen wir die Gnade. „Seine Lehne von Gold“ – göttliche Gerechtigkeit – für Israel in der Tat ebenso sehr wie für uns. Zu keiner Zeit geht es um menschliche Gerechtigkeit. „Seinen Sitz von Purpur“ – wie es einer königlichen Persönlichkeit geziemt. „Das Innere ist kunstvoll gestickt, aus Liebe, von den Töchtern Jerusalems –. Ich brauche nicht zu sagen, dass die Liebe die Grundlage für alles ist. „Kommet heraus, Töchter Zions, und betrachtet den König Salomo in der Krone, mit welcher seine Mutter ihn gekrönt hat am Tage seiner Vermählung und am Tage der Freude seines Herzens!“ Das ist ein Blick in die Zukunft. Er ist noch nicht da; aber so wird es sein, wenn Er für sie kommt. Wir haben hier also nicht den Blick auf einen, der in den Himmel entrückt ist. Darum geht es hier nicht. Es ist vielmehr so, dass einer kommt, und zwar auf diese Erde kommt.

Es ist einer, der gekrönt ist; und wieder sehen wir, dass die Mutter erscheint; denn ihr Herz ist gewandelt. Als Er hier war, was hatte sie da für Ihn? Sie hatte kein Herz für Ihn, absolut keines, nicht einmal Jerusalem – nicht einmal die, die als Seine irdische Braut eine Antwort auf Seine Liebe hätte sein sollen. Im Gegenteil, wenn es irgendeinen Unterschied zwischen Israel als ganzes gesehen und Jerusalem im Besonderen gab, so war Jerusalem am heftigsten gegen den König – gegen den Herrn Jesus. Aber wenn dieser Tag erscheint, tritt Seine Mutter wieder hervor, Denken wir immer daran, dass es nicht die Braut ist, es ist Seine Mutter, die hier hervorkommt; es geht also –nicht nur um die Braut.

Wenn wir nun das Neue Testament betrachten, wo wir die himmlische Braut finden, so haben wir wohl den Vater, aber keine Mutter. Warum dort den Vater und hier die Mutter? Weil für uns alles göttlichen Ursprungs ist. Der Vater – der Gott und Vater unseres Herrn Jesu Christi – Er ist auch unser Gott und Vater. Die Mutter dagegen ist mehr mit der Natur verbunden. Der Vater Christi, der die Quelle alles Seins ist, ist Derjenige, der uns unsere Stellung, unser Dasein und unsere Verwandtschaftsbeziehung gibt – nicht die Mutter. Wir finden hier Israels Verbindung als Mutter; und so denke ich, dass keiner, der gern Gewissheit hätte, noch zu zweifeln braucht. Jene jedoch zu überzeugen, die sich nicht überzeugen lassen wollen, ist ein aussichtsloses Unterfangen. Ich denke aber, dass jene, die willig sind, sich dem Wort Gottes zu stellen, nicht mehr zu fragen brauchen, was der wahre Zweck und die Tragweite dieses wunderbaren Buches ist.

Möge nun niemand denken, ich wolle damit sagen, wir seien nicht berechtigt, all die Liebe, die hier zum Ausdruck kommt, auch auf uns zu beziehen; denn in der Tat dürfen wir das tun. Wenn Christus für sie solche Liebe hat oder haben wird, wie viel mehr dann für uns! Denn unser Teil ist mehr das, was man eine gefestigte Liebe nennen mag: eine Liebe, die einer schon errichteten, und zwar von Seiten Gottes errichteten Beziehung entspringt. Ich gebe zu, dass eine gewisse Schönheit darin liegt, wenn Zuneigungen sich entwickeln, wie das bei Israel sein wird; aber sie sind dann anderer Art. Sie sind in hohem Maße mit der Hoffnung verknüpft, während es bei uns nicht nur das ist. Wir sind uns jetzt der Liebe des Herrn Jesus voll bewusst und gehen nicht etwa durch Übungen, um dann zu erfahren, dass jene Liebe auf uns ruht. Wir mögen Schwierigkeiten nötig haben. Wenn es irgendein Hindernis gibt, so müssen Übungen da sein, um das Störende zu überwinden und zu beseitigen; aber das ist nicht der normale Zustand eines Christen.

In Kapitel 4 sehen wir, wie der Herr wirkt, um die Liebe Seines Volkes zu wecken. Und hier haben wir eine wunderbare Anrede, die der Glaube an jenem Tage verstehen wird. Sie werden wissen, dass es der Messias ist, der dies von ihnen sagt, und es wird ein großer Trost für sie sein. „Siehe, du bist schön, meine Freundin, siehe, du bist schön. Deine Augen sind Tauben hinter deinem Schleier. Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die an den Abhängen des Gebirges Gilead lagern“. Und so beschäftigt Er sich ausführlich mit ihrer persönlichen Anmut und Schönheit. Ich kann natürlich nicht alle Einzelheiten behandeln; aber alles wird aufgeführt, was ihr in besonderer Weise eigen ist. Nicht, was sie tat – es waren nicht ihre Taten; denn das ist es nicht, was ein Herz vollkommen zur Ruhe bringt. Wir können nicht immer etwas tun, und wir mögen uns oft wegen der Armut unseres Tuns mit Gewissens-Vorwürfen überhäufen. Wenn wir Seine Liebe uns gegenüber betrachten – wenn Seine Liebe voll ans Licht kommt, offenbart, nicht nur als eine Sache des Empfindens, nicht als eine vorübergehende Vision oder etwas dergleichen, sondern gemäß dem unerschütterlichen, unveränderlichen Wort Gottes, wie gesegnet für die Seelen, die erwacht sind zu sagen: Das ist Seine Sprache mir gegenüber; das ist es, was Er uns gegenüber empfindet. Und dies wird ihnen an jenem Tage eindringlich vor Augen stehen. Wir sehen da den Unterschied zwischen Israel und uns.

Auch sie spricht. Es ist ein Austausch ihrer gegenseitigen Zuneigung – hier die Liebe der Braut zum Bräutigam. Aber ich will doch etwas Bemerkenswertes, einen überraschenden Unterschied, herausstellen: Wenn Er spricht, spricht Er stets zu ihr. Sie aber spricht immer von Ihm, nicht zu Ihm. Und genau so sollte es sein. Man kann fühlen, wie angemessen das ist und wie völlig passend für die Beziehung, in der sie zueinander stehen; denn sie möchte ja Gewissheit darüber haben, dass Er, dieser Heilige, dieser Vollkommene, sie lieben konnte, – sie, die von sich selbst (im ersten Kapitel) anerkennen musste, genau das Gegenteil gewesen zu sein. Die Gnade hatte gewirkt; sie wusste es und leugnete es nicht. Aber noch wünschte sie zu wissen, was Er empfand. Und Er spricht es aus; Er lässt es sie wissen.

In der ersten Hälfte des Kapitels bringt der Bräutigam dann zum Ausdruck, wie schön sie in seinen Augen ist. Dann kommt etwas anderes: Er kennt und anerkennt völlig die Gefahr, in der sie sich befand – die Fallstricke und die Feinde, die sie umringten. Das ist die Bedeutung des Wortes: „Mit mir vom Libanon herab, meine Braut, mit mir vom Libanon sollst du kommen“ (Vers 8). Das wird noch klarer, wenn Er fortfährt: „Vom Gipfel des Amana herab sollst du schauen, vom Gipfel des Senir und Hermon, von den Lagerstätten der Löwen“.

In der Heiligen Schrift gibt es nichts ohne eine gesegnete Bedeutung; stets wendet sie sich in vollkommener Gnade an den Leser, der darauf rechnet, dass Gott ihm Sein Wort auftut. „Von den Lagerstätten der Löwen, von den Bergen der Panther“. Das sind ganz klare Bilder von der größtmöglichen Gefahr. Sie deuten an, dass sie gewissermaßen in der Höhle des Löwen gewesen war. Und so war es ja auch gewesen. Die Bilder zeigen, dass sie umgeben war von diesen grausamsten Feinden, die nur darauf aus sind, sich auf ihre Beute zu stürzen. „Von den Bergen der Panther...“. Sie war also auf den Bergen der Panther gewesen! Aber: „Komm mit Mir“! Er ruft sie hinweg, gibt ihr die Gewissheit der Befreiung; denn wer ist Er? Hat ER nicht die Vollmacht, das zu tun? Kann Er versagen? Unmöglich. Dies ist deshalb nicht nur ein Schrei ihres Herzens. Das ist nicht der Charakter. Nicht sie beklagt hier ihre Not. Nicht sie bittet deshalb, von den „Lagerstätten der Löwen“ und den „Bergen der Leoparden“ befreit zu werden. Es ist vielmehr Er, der für sie empfindet – Er ist es, der da sagt: „Komm mit mir vom Libanon herab“! Und darin liegt kein Vorwurf.

Wie war sie denn dahin gekommen? Sie war von Ihm weggegangen! Wie konnte sie in den „Bergen der Panther – gefunden werden? War Er dort? Keineswegs. Ging sie dorthin, um Ihn zu finden? Ihr Eigenwille trieb sie, ihr böses Herz voller Unglauben, das sich von dem lebendigen Gott losgesagt hatte (Heb 3,12). Das war es, was das Unglück über Jerusalem gebracht und die Juden in alle Teile der Welt zerstreut hatte. Ohne Zweifel waren sie dort gewesen; und selbst dann, wenn sich dieser Gesang erfüllt und sie in Jerusalem sein werden, werden sie noch leiden. Sie werden wieder an demselben Platz sein, demselben Schauplatz, aber noch nicht in der ausgesprochenen Gunst und unter dem herrlichen Schutz von Jehova stehen. Weit davon entfernt. Die Löwen und die Panther werden noch mit ihnen zu tun haben, obwohl sie nicht länger unter den Heiden zerstreut sein mögen. Aber die Löwen und die Panther werden ihre Hand über ihnen haben – wir können auch sagen: ihre Pranke; denn wie wir wissen, werden die heidnischen Mächte in den Propheten so beschrieben –als Tier. Ich führe dies an als ein offensichtliches Bindeglied zwischen diesem Buch und z. B. den Psalmen. Aber die Psalmen beziehen sich mehr auf persönliche Übungen. Ein Psalm, nämlich der 45. – es mag auch andere Andeutungen geben – bildet ein Übergangsglied zwischen dem Buch der Psalmen und diesem wundervollen Hohenliede. In jenem Psalm habe wir die Braut, und zwar dieselbe Braut, von der hier die Red ist. Ich gebe diesen Hinweis nur, weil er vielleicht Seele helfen kann, die das nicht genügend berücksichtigt haben Nun, der Herr redet weiter zu ihr und lädt sie ein, dies böse und gefährliche Umgebung zu verlassen, und wieder spricht Er davon, was sie für Ihn ist. Ein sehr liebliches Wort wird hier hinzugefügt – und das, nachdem Er von ihr als in den Lagerstätten der Löwen, auf den Bergen der Panther gesprochen hat: „Honigseim träufeln deine Lippen, meine Braut, Honig und Milch ist unter deiner Zunge, und der Duft dein Gewänder wie der Duft des Libanon“ (Vers 10–11). D2 stimmt genau mit dem Geist in den Propheten überein – hier vielleicht etwas ausgeprägter: Während Jerusalem wirklich als das untreue Weib entlassen ist, wird der Herr s doch wie in der Trauer einer Witwe betrachten. Er wird s nicht tadeln, dass sie nun als ein schuldiges Weib verworfen ist, sondern mit Zärtlichkeit und Gnade wird Er zu ihr sprechen, so, als sei sie eine trauernde Witwe.

In Kapitel 5 haben wir eine weitere Erfahrung, die sie macht, insbesondere im 2. Vers. Der erste Vers gehört wohl eher zu dem vorherigen Kapitel.

„Ich schlief“. Noch derselbe Gedanke; es ist Nacht. „Ich schlief, aber mein Herz wachte. Horch! mein Geliebter, er klopft: Tue mir auf, meine Schwester, meine Freundin, meine Taube, meine Vollkommene“. Er ist nicht wirklich gekommen. Dies spielt sich in ihrer Seele ab; sie sieht es sozusagen als eine Vision in der Nacht. Es ist jedoch nicht Sein Kommen am Morgen, das nicht. Er wird kommen wie ein „Morgen ohne Wolken“ (2. Sam 23); aber ich wiederhole, wir müssen immer daran denken, dass der Morgen noch nicht da ist. Dies ist es deshalb, was ihr Herz bewegt; sie verlangt sehnsüchtig nach Seinem Kommen an jenem glänzenden Tage. Hier hört sie also gleichsam Seine Stimme, und sie zeigt, dass ihr Herz noch immer keineswegs für Seine Wiederkehr in der rechten Verfassung ist. Denn dies ist ihre Entschuldigung: „Ich habe mein Kleid ausgezogen, wie sollte ich es wieder anziehen? Ich habe meine Füße gewaschen, wie sollte ich sie wieder beschmutzen“? Obwohl nun also Gottes Liebe vor ihre Seele gestellt war, sucht sie, anstatt als Antwort gleich Ihm entgegenzugehen, Ausflüchte, weshalb sie nicht gehen könne, weshalb sie die Mühe nicht auf sich nehmen könne, die Tür zu öffnen; denn das ist alles, was nötig gewesen wäre.

„Mein Geliebter streckte seine Hand durch die Öffnung“. Wieder ein Appell an sie, aber diesmal soll er Selbstgericht bei ihr bewirken. Sie sagt, dass Er gleichsam zögerte, dass Er sich nicht sofort von ihr abwendet, obwohl sie Seine Liebe so übel belohnte. „Mein Geliebter streckte seine Hand durch die Öffnung, und mein Inneres ward seinetwegen erregt“ (5,4).

Das war wirkliche Zuneigung, obwohl sie keinerlei rechte Antwort auf Seine Liebe fand. „Ich stand auf, um meinem Geliebten zu öffnen, und meine Hände troffen von Myrrhe und meine Finger von fließender Myrrhe an dem Griffe des Riegels. Ich öffnete meinem Geliebten; aber mein Geliebter hatte sich umgewandt, war weitergegangen. Ich war außer mir, während er redete. Ich suchte ihn und fand ihn nicht; ich rief ihn, und er antwortete mir nicht“. Diese Zurechtweisung war für Israel – für Jerusalem – notwendig. Er ließ sie fühlen, dass dieses Beschäftigtsein mit sich selbst oder mit den Umständen, dieser Mangel an Frische des Herzens, um auszugehen, Ihm entgegen, etwas war, was sie sich selber zur Last zu legen hatte. Und nun, da sie zur Besinnung gebracht ist und empfindet, wie sie Seine Liebe verletzt hat, geht sie und ruft; sie sucht Ihn aufs neue. „Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umhergehen: sie schlugen mich“. Wir sehen, jetzt wird es schlimmer. Bei der ersten Gelegenheit konnten sie ihr keinen Rat geben, wo sie ihren Geliebten finden konnte. Aber nun wurde sie von ihnen geschlagen; denn was hatte sie auch zu solch nächtlicher Stunde auszugehen? So schlug man sie. „Die Wächter der Mauern nahmen mir meinen Schleier weg.“

Über die Echtheit ihrer Zuneigung gab es keinen Zweifel; sie wünschte, den Einen zu finden, den sie liebte. Aber noch war die Zeit nicht gekommen. Sie suchte Ihn am unrechten Ort, und damit mussten sich die Wächter auf jeden Fall befassen. So brachte sie gerade der Wunsch, den Bräutigam zu finden, in eine verkehrte Stellung. So sagt sie: „Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, wenn ihr meinen Geliebten findet, was sollt ihr ihm berichten? Dass ich krank bin vor Liebe“. – Und hier finden wir jetzt andere Personen – nicht die Wächter, sondern ihre Gefährtinnen – Jerusalem wird nicht allein sein. Es wird andere geben. Andere werden zu jener Zeit erwachen, zu denen sie sprechen kann. Diese sagen: „Was ist dein Geliebter vor einem anderen Geliebten, dass du uns also beschwörest“? Nun kommt das, worauf ich schon hinwies: sie bekennt, wie schön ihr Bräutigam ist. Sie spricht nicht zu Ihm. Aber wir sehen, wie ihr ganzes Herz sie drängt, von ihrem Bräutigam zu sprechen. Wie schön spricht Sie vom Herrn! Sie schämt sich nicht, von Ihm zu erzählen. Es geht jetzt nicht mehr nur darum, dass sie Ihn liebte, sondern im letzten Teil des Kapitels kommt zum Ausdruck, wer und was Er war, den sie liebte.

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