Betrachtungen über das Lied der Lieder

Kapitel 8

„O wärest du mir wie ein Bruder, der die Brüste meiner Mutter gesogen! Fände ich dich draußen, ich wollte dich küssen; und man würde mich nicht verachten. Ich würde dich führen, dich hineinbringen in das Haus meiner Mutter, du würdest mich belehren; ich würde dich tränken mit Würzwein, mit dem Most meiner Granatäpfel“ (V. 1. 2). Diese Verse führen uns, was die Stellung und Erfahrung der Braut betrifft, offenbar wieder rückwärts. Wir verließen die Braut am Schluss des vorigen Kapitels inmitten der sich hell und glänzend entfaltenden Herrlichkeit der letzten Tage und in glücklicher Gemeinschaft mit ihrem Geliebten. Die finstere Nacht ihres Kummers und Alleinseins mit allen ihren schmerzlichen Erfahrungen lag hinter ihr, und der Tag ihrer Herrlichkeit war angebrochen mit all seinem Glanz und Segen. Hier aber kehren wir zu der eigentlichen Quelle der Übungen, durch die sie gegangen ist, zurück, nämlich zu dem heißen Verlangen ihres Herzens nach ungehinderter, ungestörter Gemeinschaft mit ihrem Messias. Sie verlangt nach der vollen Freiheit verwandtschaftlicher Liebe: „O wärest du mir gleich einem Bruder!“ Das entspricht dem Anfang unseres Buches: „Er küsse mich mit den Küssen seines Mundes, denn deine Liebe ist besser als Wein“.

Das 8. Kapitel steht, wie wir bereits früher gesagt haben, für sich selbst da und fasst die Grundsätze des Buches noch einmal kurz zusammen. Wir möchten deshalb auch wenig mehr tun als, soweit wir es vermögen, den Pfad des Geistes in diesem das Lied der Lieder beschließenden Kapitel kurz andeuten.

Das tiefe Sehnen der Braut, wie es hier durch den Geist der Prophezeiung zum Ausdruck kommt, findet seine sofortige und völlige Befriedigung. Sie verlangt nach dem vollen Besitz Christi und wünscht Gelegenheit zu haben, Ihn mit dem würzigen Most ihrer Granaten zu tränken. Sie weiß jetzt, dass Er einst den bitteren Kelch des Zornes Gottes für ihre Sünden trank; und sie verlangt danach, Ihm einen Kelch kostbaren Weins zu reichen, den ihre Dankbarkeit und Liebe für Ihn allein gemischt hat. Ähnlich dem zurückgekehrten verlorenen Sohn findet auch sie sich gleich nachher in den Armen ihres Geliebten wieder und ruht an Seinem Herzen. Die Töchter Jerusalems werden wiederum beschworen, sie nicht zu stören, solange sie die Liebe ihres Geliebten genießt. „Seine Linke sei unter meinem Haupt, und seine Rechte umfasse mich! Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, dass ihr nicht weckt noch stört die Liebe, bis es ihr gefällt!“ (V. 3.4). - „Wer ist sie, die da heraufkommt von der Wüste her, sich auf ihren Geliebten lehnt?“ (V. 5). Sie ist auf der Reise nach den sonnigen Hügeln Kanaans, in Abhängigkeit von ihrem Geliebten und unter dem Schatten Seiner Flügel; Ägypten und die Wüste liegen hinter ihr.

Hierauf erinnert der Bräutigam die Braut an die Quelle all ihrer Segnung: „Unter dem Apfelbaum habe ich dich geweckt“ (V. 5b). Der „Apfelbaum“ ist das bekannte Sinnbild von Christus Selbst. „Wie ein Apfelbaum unter den Bäumen des Waldes, so ist mein Geliebter inmitten der Söhne“ (Kap. 2,3). Ihr göttliches Leben und alle damit in Verbindung stehenden Segnungen verdankt die Braut Christus. Durch Ihn ist sie aufgeweckt und lebendig gemacht, und unter Ihm gesegnet mit aller irdischen Segnung in einem herrlichen Land. Der Christ hat nicht Leben und Segnung unter Christus, sondern in und mit Ihm. Diese wichtige Wahrheit kennzeichnet den Unterschied zwischen jüdischer und christlicher Segnung. Beide verdanken selbstverständlich ihr Leben und ihre Segnung Ihm allein. Aber von den Christen lesen wir, dass sie mit Christus lebendig gemacht, mit Ihm auferweckt und in Ihm mitversetzt sind in die himmlischen Örter (Eph 2,5.6). Israel als solches gehört der Erde an; wir als Christen dem Himmel. Dort sind unsere Namen angeschrieben, und dorthin sind wir in Christus jetzt schon versetzt.

„Dort hat mit dir Wehen gehabt deine Mutter, dort hat Wehen gehabt, die dich geboren hat“ (V. 5c). Hier erinnert der Bräutigam Seine Geliebte an ihre Beziehung zu dem Volk Israel. Der Überrest des Volkes, in dessen Herzen die Gnade wirkt, wird die Braut des großen Königs. In besonderer Weise stellt sie, wie wir schon früher Gelegenheit hatten zu bemerken, den Überrest Judas dar, der in Jerusalem sein wird, bevor der Überrest Ephraims (oder der zehn Stämme) eingesammelt sein wird; grundsätzlich aber repräsentiert sie das ganze Volk. Und da Christus Selbst aus dem Stamm Juda entsprossen ist, heiligt der Geist sichtbarlich den Gebrauch von Familientiteln und den Ausdruck von Zuneigungen, die damit verbunden sind.

Ein Gefühl der Trauer und des Schmerzes beschleicht uns unwillkürlich, wenn wir daran denken, dass die, zu deren Ermunterung und Glaubensstärkung diese Beziehungen anerkannt und solche herrlichen Szenen beschrieben werden, sich noch in der tiefen Finsternis eines schrecklichen Unglaubens befinden. Die Decke liegt noch auf dem Herzen Israels. Aber der Weg der Liebe, der in dem Hohenlied eine so schöne Darstellung gefunden hat, wird bald von dem unglücklichen Volk erkannt und eingeschlagen werden. Inzwischen ziehen wir Nutzen aus dieser wundervollen Offenbarung innerer Gefühle und Zuneigungen, zumal das Hohelied gesegnete moralische Anwendungen auf uns zulässt.

Der aus dem Tode zum Leben geführte Überrest, die Braut des Messias in Seinem salomonischen Charakter, wünscht nun wie ein Siegelring an Sein Herz gelegt zu werden, entsprechend einer Liebe, die alle Erkenntnis übersteigt. „Lege mich wie einen Siegelring an dein Herz, wie einen Siegelring an deinen Arm! Denn die Liebe ist gewaltsam wie der Tod, hart wie der Scheol ihr Eifer; ihre Gluten sind Feuergluten, eine Flamme Jahs. Große Wasser vermögen nicht die Liebe auszulöschen, und Ströme überfluten sie nicht. Wenn ein Mann allen Reichtum seines Hauses für die Liebe geben wollte, man würde ihn nur verachten“ (V. 6.7; vergI. auch Seite 60 ff unserer Betrachtungen). Wo sollen wir eine Liebe finden gleich dieser? Sie ist nur in dem Herzen Jesu. Was ist so gewaltsam wie der Tod? was so hart wie der Scheol? was so schonungslos wie Feuergluten? Mit der Liebe ist nichts zu vergleichen. Würde ein reicher Mann auch all sein Hab und Gut für die Liebe bieten, er würde nur verachtet werden. Was sind alle Reichtümer und Schätze im Vergleich mit der Liebe! Große Wasser vermögen sie nicht auszulöschen, Ströme können sie nicht überfluten. Als die Liebe und der Tod in furchtbarem Kampf auf dem Kreuz einander begegneten, triumphierte die Liebe, und der Tod wurde für immer zunichte gemacht.

Der „Siegelring“ an dem „Herzen“ und dem „Arm“ des Geliebten erinnert vielleicht an das Brustschild und die Schulterstücke, wie sie von dem Hohenpriester getragen wurden. Die Namen der zwölf Stämme wurden „in Siegelstecherei“ in kostbare Steine eingegraben und auf dem Herzen (dem Bild der Liebe) und auf den Schultern (dem Bild der Kraft) des Hohenpriesters vor Jehova gebracht. So wird auch die glückliche Braut binnen kurzem wie ein Siegelring an das liebende Herz und den starken Arm ihres hochgelobten Herrn gelegt sein, ihres großen Hohenpriesters nach der Ordnung Melchisedeks.

„Wir haben eine Schwester, eine kleine, die noch keine Brüste hat; was sollen wir mit unserer Schwester tun“, fragt sie, „an dem Tag, da man um sie werben wird? Wenn sie eine Mauer ist, so wollen wir eine Zinne von Silber darauf bauen, und wenn sie eine Tür ist, so wollen wir sie mit einem Zedernbrett verschließen“ (V. 8. 9). Die „kleine Schwester“, von der die Braut im nächsten Vers redet, ist, wie wir nicht zweifeln und auch schon früher bemerkten, ein Bild von Ephraim oder von den so lange verlorenen zehn Stämmen. Die Gefangenschaft der zehn Stämme hat lange vor der Geburt Christi begonnen, und sie sind nie wieder in ihr Land zurückgekehrt. Sie wissen also nichts von den Übungen, durch welche Juda (oder die zwei Stämme) gegangen ist hinsichtlich der Geburt, des Todes, der Auferstehung und Wiederkunft des Messias. Nichtsdestoweniger treten auch sie in den Genuss der gesegneten Ergebnisse Seines ersten Kommens in Gnade und Seines zweiten Kommens in Herrlichkeit ein. Sie werden belehrt, auferbaut und befestigt in der Lehre Christi durch ihre bevorzugte Schwester Juda. „Ich bin eine Mauer, und meine Brüste sind wie Türme; da wurde ich in seinen Augen wie eine, die Frieden findet“ (V. 10). Sie ist stark in dem Herrn, in Seiner Erkenntnis gereift, und steht in der vollen Gunst des Königs. Das Israel Gottes ist wiederhergestellt! Die zwölf Stämme sind vereinigt, und nicht länger mehr in zehn und zwei geteilt wie heute.

„Salomo hatte einen Weinberg in Baal-Hamon; er übergab den Weinberg den Hütern: ein jeder sollte für seine Frucht tausend SiIbersekeI bringen“ (V. 11). „Baal-Hamon“ bedeutet: „Herr einer Menge“; dieser Name enthält offenbar eine Anspielung auf die Menge der Nationen, auf die ganze Welt, die dann den weiten Weinberg des Herrn bilden wird. „Des HERRN ist die Erde und ihre Fülle, der Erdkreis und die darauf wohnen“ (Ps 24,1). Das tausendjährige Reich ist angebrochen! Die Herrlichkeit des Herrn erfüllt die Erde; alle Herzen frohlocken; Jesus regiert, und die Hüter des Weinbergs bringen Ihm jetzt einen entsprechenden Ertrag. Alles ist unter dem Auge Christi und entspricht den Grundsätzen Seiner Regierung. Die Braut wünscht, dass von ihrem eigenen Weinberg der ganze Ertrag dem König Salomo zufließe, außer einem Teil für die Hüter. „Mein eigener Weinberg ist vor mir; die tausend sind dein, Salomo, und zweihundert seien den Hütern seiner Frucht“ (V. 12). Alle sollen ihr Teil haben an dem Ertrag der fruchtbaren, friede- und freudeerfüllten Erde im Tausendjährigen Reich. Aber Christus ist der Herr von allen.

Zum letzten Mal in diesem Lied wendet sich der Herr jetzt an Seine liebliche, so hoch bevorzugte Braut, indem Er ihr zuruft: „Bewohnerin der Gärten, die Genossen horchen auf deine Stimme; lass sie mich hören!“ (V. 13). Er ladet sie ein, ein Loblied anzustimmen. Sie soll gleichsam ihren Genossen, ja der ganzen Erde den Ton angeben. Und, mein lieber Leser, was wird es sein, wenn alle Völkerschaften, Sprachen und Zungen den Jubelgesang aufnehmen, und die frohlockenden Hosiannas sich fortpflanzen werden“ von Meer zu Meer und von dem Strom bis an die Enden der Erde“! Die ganze Schöpfung wird mit Glück und Freude erfüllt sein, und ihre lauten Lobes- und Dankeslieder werden das Ohr ihres erhabenen, herrlichen Königs erreichen. - Lass mich deine Stimme hören!

„Enteile, mein Geliebter, und sei gleich einer Gazelle oder einem Jungen der Hirsche auf den duftenden Bergen!“ (V. 14). - Unser Gesang ist zu Ende. Sein letzter Ton ist voll und reich. Die liebende Braut verlangt sehnlich nach der baldigen Rückkehr ihres Herrn. Sie bittet Ihn, dass Er ohne Zögern kommen möge. Die tiefe, innige Liebe ihres Herzens gibt sich kund in dem heißen Verlangen nach Seiner herrlichen Erscheinung. O möchten doch auch alle unsere Herzen sich mit der Braut vereinigen in dem ernsten und anhaltenden Flehen, dass Er bald kommen und Sein glorreiches Werk vollenden möge; dass Er kommen möge zur Aufnahme der Kirche, zur Herrlichkeit Israels und zum Segen der ganzen Erde!

Amen, Amen! Jesu eile,
Still' das Sehnen Deiner Braut!
Mächtiglich die Wolken teile,
Dass Dich unser Auge schaut!
Steige auf am Horizonte,
Morgenstern, durchbrich die Nacht;
O dass Deine Braut schon thronte
Dort mit Dir in Himmelspracht!

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