Gerechtfertigt aus Glauben

Kapitel 1

Gerechtfertigt aus Glauben

Kapitel 1,1–17

Der Gruß oder die Anrede, mit welcher der Apostel seinen Brief einleitet, ist ungewöhnlich lang und inhaltsreich. Paulus nennt sich zunächst einen Knecht (Sklaven) Jesu Christi. Ein Leibeigener Christi zu sein, betrachtete der Mann, der die christliche Freiheit kannte wie kein anderer, als eine besondere Ehre. Immer wieder nennt er sich so, und wahrlich, auch wir sollten es mit Freuden tun.

Aber er war nicht nur „Knecht“, sondern auch „Apostel“, und zwar ein „berufener Apostel“. Nicht dass die übrigen Apostel das nicht gewesen wären, aber doch war er es in besonderem Sinne. Die Zwölfe waren durch den auf Erden lebenden Messias berufen und ausgesandt worden; er hatte Gnade und Apostelamt unmittelbar vom Himmel her empfangen, durch den zur Rechten Gottes verherrlichten Menschensohn, und seine Sendung war dann durch den Heiligen Geist bestätigt worden (Apg 9; 13,1–4). Sein Apostelamt gründete sich auch nicht auf irgendeine Bestimmung oder Ausrüstung seitens der Menschen – „nicht von Menschen, noch durch einen Menschen“ (Gal 1,1) –, sondern allein auf Gott. Schon von seiner Mutter Leibe an durch Gott „abgesondert“, war er später durch Gottes Gnade „berufen“ worden (Gal 1,15).

„Abgesondert zum Evangelium Gottes.“ Gott hat eine gute Botschaft für die ganze Welt, für Juden und Heiden, eine Botschaft, die genau das Gegenteil von dem enthält, was die Menschen gewöhnlich von Gott denken. Denn wo ist der natürliche Mensch, der Ihn als den Gott kannte, welcher allen willig gibt und nichts vorwirft, der am Tode des Gesetzlosen kein Gefallen hat und zum Vergeben bereit ist? Jahrtausende waren allerdings schon dahingegangen, seitdem der Mensch von Gott abgefallen war, ohne dass Gott Sein Evangelium geoffenbart hätte. Aber unmöglich hätte Er in dieser langen Zeit über Seine Gnadenabsichten schweigen können; immer wieder hatte Er durch Seine Propheten in heiligen Schriften Verheißungen gegeben (V. 2), dass Licht aufgehen würde, und dass alle Enden der Erde Sein Heil sehen sollten. Und „als die Fülle der Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einem Weibe“ (Gal 4,4).

Zu diesem Evangelium war Paulus, wie er hier sagt, abgesondert worden. Der Herr hatte ihn zu einem Diener und Zeugen verordnet, indem Er ihn herausnahm aus dem Volke Israel und den Nationen, zu denen Er ihn senden wollte, um ihre Augen aufzutun und ihnen Vergebung der Sünden zu verkündigen (Apg 26,16–18). Den einen sollte er Befreiung vom Joche des Gesetzes, den anderen Erlösung aus der finsteren Macht Satans bringen. Und Der ihn berief und aussandte war Jesus, das verherrlichte Haupt Seines Leibes. Auf seine Frage: „Wer bist du, Herr?“ war ihm die Antwort geworden: „Ich bin Jesus, den du verfolgst“. Alles war in diesem Falle eigenartig: der Berufende, die Berufung und der Berufene. Darum konnte Paulus auch das ihm anvertraute Evangelium sein Evangelium oder das Evangelium der Herrlichkeit nennen. Es stellte ihn und die, welche seine Botschaft annahmen, auf einen ganz neuen Boden. Es nahm sie aus Juden und Heiden heraus und verband sie nicht mit einem lebenden Messias, sondern mit dem auferstandenen Menschensohn in der Herrlichkeit droben, dem Haupte einer neuen Schöpfung. Daher kannte Paulus auch „niemand nach dem Fleische“, selbst Christum nicht (2.Kor 5,16), obwohl er Ihn in anderem Sinne durchaus als den Sohn Davids anerkannte.

Diese wunderbare Person war Gegenstand und Inhalt des von ihm gepredigten Evangeliums. Es war „das Evangelium Gottes über seinen Sohn, der aus dem Samen Davids gekommen ist dem Fleische nach“ (V. 3). Als solcher, in Erfüllung der Verheißungen, in der Mitte Seines irdischen Volkes erschienen, war Christus verworfen worden. Damit hatte Israel als Volk alle Anrechte an die Verheißungen verloren. Fortan konnte es für die Nachkommen Abrahams wie für die Heiden, die, entfremdet dem Bürgerrecht Israels, ohne Gott und ohne Hoffnung in der Welt waren, nur einen Boden der Annahme geben, den der bedingungslosen Gnade. Dass Gott, dessen Gnadengaben und Berufung unbereubar sind, dereinst auch Sein irdisches Volk segnen und ihm alle Seine Verheißungen erfüllen wird, ist eine kostbare Wahrheit. Heute aber sammelt Er aus Juden und Heiden ein himmlisches Volk. Der Heilige Geist ist herabgekommen, um den „Sohn“ zu verherrlichen und Ihm aus allen Völkern der Erde eine Braut, ein Weib zuzuführen.

So ist denn das, was einst nur als „Verheißung“ bekannt war, zur Wirklichkeit geworden. Die Aussprüche der alttestamentlichen Propheten (denn nur diese kommen hier in Frage) sind in Erfüllung gegangen, insoweit sie die Menschwerdung des Herrn, Seinen Tod und Seine Auferstehung, sowie die herrlichen Folgen Seines Werkes betrafen. Die Dinge, welche sie einst für uns bedienten, sind uns jetzt verkündigt worden durch die Boten des Evangeliums in der Kraft des Heiligen Geistes (vgl. 1.Pet 1,10–12). Wohl sind auch uns kostbare Verheißungen für unseren Weg durch diese Welt gegeben, aber darum handelt es sich hier nicht. Die hier in Rede stehenden, auf das Evangelium Gottes bezüglichen Verheißungen sind erfüllt.

Der, von welchem dieses Evangelium redet, ist erschienen, ist in die Welt gekommen, und zwar in zweierlei Art oder unter zwei verschiedenen Beziehungen. Er ist der Sohn Davids, dem Fleische nach, das Er in Gnaden angenommen hat; und Er ist der Sohn Gottes, und als solcher „in Kraft erwiesen dem Geiste der Heiligkeit nach durch Toten-Auferstehung“ (V. 4). Als Sohn Davids war Er nicht nur der Gegenstand der Verheißungen Gottes, sondern auch der Erfüller derselben. Wir sagten bereits, dass das Volk Israel, dem die Verheißungen gehörten, durch die Verwerfung seines Messias alle Anrechte an dieselben verloren hat. Aber Gott hat gerade diese Tat dazu benutzt, um größere und herrlichere Dinge ans Licht zu bringen und Seinen ewigen Ratschluss zu erfüllen. Gott hat Den, der auf alle Seine Rechte als Sohn Davids verzichtete und sich in vollkommenem Gehorsam dem Kreuzestode unterzog, aus den Toten auferweckt und Ihm Herrlichkeit gegeben. So ist Er als Sohn Gottes in Kraft erwiesen worden. Gott hatte diese Kraft schon in der Auferweckung des Lazarus geoffenbart; sie wird sich in der Auferweckung aller Heiligen wiederum offenbaren, aber den stärksten Beweis derselben finden wir in der Auferstehung des Herrn Jesus selbst (vgl. Joh 12,28; Eph 1,20). Er, der mit unseren Sünden beladen, für uns zur Sünde gemacht war und als solcher gerechterweise den Tod als Sold der Sünde erleiden musste, ist als Sieger über Sünde, Tod und Teufel aus den Toten wieder hervorgekommen. Die „überschwängliche Kraft“ Gottes hat sich da geoffenbart, wo der Tod als Folge der Sünde eingetreten war. Christus ist auferstanden; Sein Fleisch hat die Verwesung nicht gesehen, Seine Seele ist nicht im Hades zurückgelassen worden (Ps 16,10; Apg 2,27).

Doch was bedeutet der Ausdruck: „dem Geiste der Heiligkeit nach“? Von dem Propheten Jeremia lesen wir, dass er schon vor seiner Geburt für Gott abgesondert war (Jer 1,5), und von Johannes dem Täufer wird gesagt, dass er von Mutterleibe an mit dem Heiligen Geiste erfüllt gewesen sei; aber Christus war, als Mensch, aus dem Heiligen Geist geboren, und Sein Leben war in jeder Beziehung der Ausdruck der Wirkungen dieses Geistes. Seine Worte waren Geist und Leben, und alle Seine Handlungen geschahen in der Kraft des Heiligen Geistes. Mit einem Wort, Er erwies sich in Seinem ganzen Leben als der Heilige Gottes, unschuldig, unbefleckt, abgesondert von den Sündern, und schließlich opferte Er sich ohne Flecken Gott durch den ewigen Geist (Hebr. 7,26; 9,14). Als das vollkommene Speisopfer: Feinmehl, mit Öl gemengt und mit Öl gesalbt, war Er allezeit der Ausdruck und Abglanz der Gottheit, deren Fülle leibhaftig in Ihm wohnte. Erprobt bis in den Tod am Kreuze, im heißesten Feuer geprüft, zeigte sich in Ihm nichts als Vollkommenheit und Wohlgeruch. Er starb (und Er musste sterben), weil Er unsere Sache übernommen hatte, aber der Tod konnte Ihn nicht behalten. Getötet nach dem Fleische, ist Er lebendig gemacht worden nach dem Geiste (1.Pet 3,18). Das will sagen: In Seiner Auferstehung war die ganze wunderbare Kraft des Heiligen Geistes wirksam. Das ändert nichts an der Tatsache, dass der Vater es Seiner Herrlichkeit schuldig war, Den aufzuerwecken, der Ihn hienieden verherrlicht hatte, und dass der Sohn die Gewalt besaß, Sein Leben zu lassen und es wieder zu nehmen. Die Auferweckung des Herrn war das überwältigende, öffentliche Zeugnis von der Kraft, die während Seines ganzen Lebens in Ihm gewirkt und Ihn als das erwiesen hatte, was Er war: der Sohn Gottes.

Der Gegenstand des Evangeliums Gottes ist also Christus, als Sohn Davids gekommen zur Erfüllung der Verheißungen, und als Sohn Gottes in Kraft erwiesen dem Geiste der Heiligkeit nach durch Toten-Auferstehung. Von diesem Herrn, der inzwischen mit Ehre und Herrlichkeit zur Rechten Gottes gekrönt worden war und nun als Herr und Christus handelte, hatte Paulus Gnade und Apostelamt empfangen, um alle Völker der Erde in Seinem Namen zum Glaubensgehorsam zu führen (V. 5.). In derselben Stunde, in welcher die Gnade ihm begegnet war, und Licht von oben in sein finsteres Herz hineingeleuchtet hatte, war er berufen worden, von dem zu zeugen, was er gesehen und gehört hatte und worin der Herr ihm noch weiter erscheinen wollte (Apg 26,16). So war von vornherein der Inhalt und Bereich seines Dienstes weiter als der der Zwölfe. Darum ist hier auch wohl von Glaubensgehorsam die Rede, der sich willig unter die vom Himmel her gebrachte Botschaft beugt, welche sich jetzt nicht an Israel allein, sondern an die ganze Welt richtet.

Das also war der Apostel. Wie stand es nun mit den Gläubigen in Rom? Sie waren nicht zu Aposteln berufen, und doch waren sie Berufene: „Berufene Jesu Christi, Geliebte Gottes, berufene Heilige“, und das alles „durch Jesum Christum, ihren Herrn“. Fürwahr, herrliche Titel, die einerseits ihre neuen Beziehungen zu dem Vater und dem Sohne zum Ausdruck brachten, und anderseits darauf hinwiesen, dass ihre Träger, wenngleich Paulus mit der Gründung der Gemeinde in Rom nichts zu tun gehabt hatte, doch seiner Autorität als Apostel der Nationen unterstanden. Als solcher konnte er mit der Machtvollkommenheit Christi an sie schreiben und ihnen seinen gewöhnlichen, aber so tief bedeutsamen Gruß senden: „Gnade euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus!“ (V. 7). Sie waren jetzt Kinder dieses großen Gottes und Knechte dieses reichen und gnädigen Herrn, und es war die Freude des Heiligen Geistes, sie durch den Apostel als solche anzuerkennen.

Nie vorher waren solche Titel bekannt gewesen, weder zur Zeit der Patriarchen, noch unter der glorreichen Regierung eines David oder eines Salomo; nie auch waren Gefühle und Beziehungen kundgetan worden, wie sie uns in den nächsten Versen unseres Briefes entgegentreten. Wohl hatte Gott in mancherlei Weise sich geoffenbart und Seine herrliche Größe oder Seine wunderbare Güte, Geduld und Treue kundgetan, aber solche Titel oder eine ähnliche Sprache, wie wir sie hier finden, suchen wir im Alten Testament vergeblich. Sie waren vor dem Kommen des Herrn in diese Welt einfach unmöglich. Ja, selbst noch während Seines Lebens und Wandelns auf dieser Erde hätten Gedanken und Gefühle, wie sie in den Versen 8–15 zum Ausdruck kommen, in den Herzen der Jünger nicht aufsteigen können. Dafür musste das Werk auf Golgatha erst die Grundlage schaffen. Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass die Versammlung in Rom zum allergrößten Teil aus Gläubigen bestand, die früher Heiden gewesen waren, staunen wir umso mehr über die innige Herzensverbindung zwischen ihnen und dem Apostel, dessen Angesicht sie noch nie gesehen hatten.

„Aufs erste danke ich meinem Gott durch Jesum Christum euer aller halben, dass euer Glaube verkündigt wird in der ganzen Welt“ (V. 8). Die Liebe ist stets bemüht, das hervorzuheben und anzuerkennen, was es Gutes in dem anderen gibt. Paulus war in dieser, wie in so mancher anderen Beziehung, ein treuer Nachahmer seines Herrn. Die Lage und Bedeutung der Stadt Rom als Mittelpunkt des gewaltigen Römischen Reiches der damaligen Zeit macht es verständlich, dass die Kunde von der Treue der dortigen Gläubigen unter mancherlei Verfolgungen von außen und Versuchungen von innen in alle Welt gedrungen war, ähnlich dem Glauben der Thessalonicher, der an jedem Orte Macedoniens und Achajas ausgebreitet worden war, so dass der Apostel nicht nötig hatte, etwas zu sagen. Dafür dankte Paulus seinem Gott, und je mehr er das tat und die Gläubigen in Rom (samt so vielen anderen) in brennender Liebe und mit unablässigem Gebet auf seinem Herzen trug, umso tiefer und dringender wurde das Verlangen in ihm, sie zu sehen, um auch ihnen etwas geistliche Gnadengabe mitzuteilen und sie so im Glauben weiter zu befestigen (V. 9–11).

Welch eine Veränderung war doch mit diesem Manne vorgegangen! Einst ein fanatischer Vertreter des Gesetzes, ein Verächter und Lästerer des Namens Jesu und ein glühender Feind Seiner Jünger – heute ein liebeerfüllter, unermüdlicher Prediger der in Jesu geoffenbarten Gnade, ein Mann des Glaubens, der durch die Liebe wirkt, ein Sklave Jesu Christi, der in Mühen und Kämpfen, in Leiden und Drangsalen sich völlig für andere „verwandte“ und umso mehr lieben wollte, je weniger er geliebt wurde. Das war der Mann – und wie vieles andere könnte noch von ihm gesagt werden! – der sehnlich danach verlangte, „nun endlich einmal durch den Willen Gottes so glücklich zu sein“, auch zu ihnen nach Rom zu kommen (V. 10). Fürwahr, wenn es je einen Mann gegeben hat, der mit dem Herzen Jesu Christi für das geistliche Wohl der Herde besorgt war, dann war er es. Unwillkürlich drängt sich das Gebet auf unsere Lippen; „Herr, lass uns von ihm lernen! Lass uns seine Nachahmer sein, gleichwie er der Deinige war!“

Wie müssen solche Worte auch die Herzen der Gläubigen in Rom bewegt haben! Und Paulus konnte Gott selbst zum Zeugen anrufen, dass er die Wahrheit sagte. Ja, Ihm allein diente er „in seinem Geiste in dem Evangelium Seines Sohnes“. Es war nicht ein Dienst in nur äußerem Eifer zur Erfüllung einer obliegenden Pflicht, sondern in innerer Widmung für Gott und bedingungsloser, liebender Hingabe an das Evangelium Seines Sohnes. Beachten wir im Vorbeigehen den Wechsel im Ausdruck. Hörten wir im 1. Verse von dem Evangelium Gottes, so hier von dem Evangelium Seines Sohnes. Es ist selbstverständlich dasselbe Evangelium, nur dass uns im ersten Falle die Quelle desselben gezeigt wird, im zweiten die Art und Weise, wie Gottes Liebe darin gewirkt hat, der Weg, den Jesus gegangen ist, um Verlorene zu erretten.

Geradezu rührend und zugleich ein eindrucksvoller Beweis von der Demut und Bescheidenheit des Apostels ist der Inhalt des 12. Verses. Wir hörten schon, dass Paulus nach Rom zu kommen wünschte, um den Gläubigen dort etwas geistliche Gnadengabe mitzuteilen, um sie zu befestigen, „das ist aber“, so fügt er hinzu, „mit euch getröstet zu werden in eurer Mitte, ein jeder durch den Glauben, der in dem anderen ist, sowohl euren als meinen“. War es ein einfacher Bruder, einer gleich ihnen, der nach Rom kommen wollte, oder war es der große Apostel der Nationen (vgl. Phil 2,1–3)?

Die Versammlung in Rom sollte auch wissen, dass der Wunsch, sie zu besuchen, bereits alt war. „Ich will aber nicht, dass euch unbekannt sei, dass ich mir oft vorgesetzt habe, zu euch zu kommen, und bis jetzt verhindert worden bin“ (V. 13). Paulus hatte also oft den Vorsatz gehabt zu kommen, aber Gott hatte es in Seiner Weisheit nicht geschehen lassen; über die wahrscheinlichen Gründe haben wir bereits gesprochen. Dennoch war der Wunsch, „auch unter ihnen einige Frucht zu haben, gleichwie auch unter den übrigen Nationen“, durchaus berechtigt und Gott wohlgefällig, denn Paulus war ja als Apostel der Nationen ein Schuldner „sowohl Griechen als Barbaren (Fremdsprachigen), sowohl Weisen als Unverständigen“ (V. 14). Und dieser Schuld war er sich bewusst. Darum war er, soweit es ihn betraf, völlig bereit, auch denen, die in Rom waren, das Evangelium zu verkündigen (V. 15). Die Weite der Reise, Furcht vor etwaigen Gefahren in der großen heidnischen Weltstadt oder irgendwelche ähnliche Abhaltungsgründe konnten ihn nicht beeinflussen. Der Herr hat denn auch seinen sehnlichen Wunsch erfüllt, allerdings auf einem ganz anderen Wege, als er und die Gläubigen in Rom es damals ahnen konnten, nämlich als „ein Gefangener Christi Jesu für sie, die Nationen“ (Eph 3,1).

Der beglückende Gedanke, auch in Rom das Evangelium verkündigen zu dürfen, führt den Apostel jetzt dahin, näher über den Charakter und Inhalt dieses Evangeliums zu reden und so zu der eigentlichen Lehre des Briefes zu kommen. „Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist Gottes Kraft zum Heil jedem Glaubenden, sowohl dem Juden zuerst als auch dem Griechen“ (V. 16). Das Evangelium ist Gottes Kraft, nicht eine bloße Lehre, eine Richtschnur für den Menschen, wie das Gesetz es gewesen war; darum ist es auch für „jeden Glaubenden“. Es stellt nicht Anforderungen an den Menschen, sondern bringt ihm ein Heil, vollendet in Heiligkeit und Gerechtigkeit, unmittelbar von Gott kommend und Gottes Kraft offenbarend. Es verkündigt dem Sünder, kraftlos wie er ist, ein Werk, das durchaus vollkommen und ein für allemal vollbracht ist. Deshalb ist es, wie gesagt, nur für den Glauben. Das Gesetz forderte, das Evangelium gibt, gibt bedingungslos und umsonst, und zwar jedem, der es annehmen will, ob Jude oder Heide. Der Jude war infolge seiner äußeren Verbindung mit Gott zuerst berufen, wenigstens solang das damalige religiöse System noch nicht endgültig beseitigt war; aber der Heide stand nicht hinter dem Juden zurück. „Die Gnade Gottes ist erschienen, heilbringend für alle Menschen“ (Tit 2,11).

Im nächsten Verse beantwortet der Apostel die Frage, warum das Evangelium Gottes Kraft ist. „Denn“, sagt er, „Gottes Gerechtigkeit wird darin geoffenbart, aus Glauben zu Glauben.“ Es ist nicht eine menschliche Gerechtigkeit, die uns aus (oder durch) Glauben, d. i. auf dem Boden oder Grundsatz des Glaubens, zuteil wird, sondern die Gerechtigkeit Gottes selbst. Was anders als die Kraft Gottes 1 hätte so etwas zustande bringen können? Das Gesetz hätte eine menschliche Gerechtigkeit dem gegeben, der es hielt, aber da war niemand, der es halten konnte. Zudem hätte eine auf dem Boden des Gesetzes erlangte Gerechtigkeit dem Menschen nur Leben auf dieser Erde schenken können; denn „wer diese Dinge getan hat, wird durch sie leben“, d. h. am Leben bleiben, nicht sterben. Durch Glauben aber wird uns Gottes Gerechtigkeit geschenkt.

Was ist aber Gottes Gerechtigkeit? Diese Frage erscheint angesichts mancher Missverständnisse, die über den Sinn des Ausdrucks herrschen, wohl berechtigt. Es ist nicht etwa eine Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, wie Luther übersetzt hat; denn eine durch das Halten des Gesetzes erlangte Gerechtigkeit würde, wenn sie möglich wäre, tatsächlich Gültigkeit vor Gott haben. Aber die vollkommenste menschliche Gerechtigkeit könnte doch niemals Gottes Gerechtigkeit genannt werden.

Wir müssen uns zu Gottes Wort wenden, um eine Antwort auf unsere Frage zu erhalten, und was sagt dieses Wort? In Johannes 16,8–10 lesen wir, dass der Heilige Geist, dessen Kommen der Herr dort ankündigt, die Welt überführen würde von Sünde, von Gerechtigkeit und von Gericht. „Von Sünde“, sagt der Herr, „weil sie nicht an mich glauben, von Gerechtigkeit aber, weil ich zu meinem Vater gehe, und ihr mich nicht mehr sehet.“ Gottes Gerechtigkeit hat sich also darin erwiesen, dass Er Seinen Sohn zu Seiner Rechten setzte, weil dieser Ihn hienieden verherrlicht hatte (vgl. Joh 13,31+32). Mit anderen Worten: sie besteht darin, dass der Vater den Menschen Jesus Christus in die Herrlichkeit erhoben hat, die Er bei Ihm hatte, ehe die Welt war (Joh 17,5). Die Welt hat Den verworfen, den der gerechte Gott verherrlicht hat. So ist ihre Sünde vollkommen erwiesen, und es bleibt für sie nichts anderes übrig als Gericht.

Das Evangelium nun, welches Paulus predigte, verkündigte diese Gerechtigkeit Gottes, die sich einerseits darin erwies, dass sie Jesum aus den Toten auferweckt und mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt hatte, und anderseits darin, dass sie nunmehr jeden an Jesum Glaubenden in dieselbe Stellung versetzt, in welche Er als Mensch eingegangen ist. Denn das, was Christus zur Verherrlichung Gottes getan hat, hat Er zu gleicher Zeit für uns getan, so dass der Apostel an einer anderen Stelle sagen kann: „Den, der Sünde nicht kannte, hat er (Gott) für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm“ (2.Kor 5,21). Wie Gottes Gerechtigkeit zunächst in der Verherrlichung Christi erblickt wird, so wird sie heute in uns gesehen, die wir in Christo sind, und bald wird sie zur völligen Darstellung in uns kommen, wenn wir als die Frucht der Mühsal Seiner Seele in derselben Herrlichkeit mit Ihm erscheinen werden.

Wenn das aber so ist, wenn wir der Gerechtigkeit Gottes bedürfen, um vor Ihm bestehen zu können, so ist es offenbar, dass wir nur durch Glauben, auf Grund einer bedingungslosen Gnade, dazu gelangen können. Jedes Tun und Bemühen des Menschen ist hier nicht nur ausgeschlossen, sondern unmittelbar böse. Zugleich war auf diese Weise die Tür für alle Menschen geöffnet. Beide, Juden und Heiden, hatten in gleicher Weise auf dem Boden des Glaubens Anteil daran. Es war „aus Glauben zu Glauben“. Der Glaube war das einzige Mittel, um ein solches Heil zu erlangen, und es wurde dem Glauben, wo er sich auch zeigen mochte, zuteil, wie geschrieben steht: „Der Gerechte aber wird aus Glauben leben“ (Hab 2,4). Und wie es damals war, so ist es heute. Gott sei ewig dafür gepriesen! Gott erweist in der jetzigen Zeit Seine Gerechtigkeit darin, dass Er gerecht ist, wenn Er den rechtfertigt, der des Glaubens an Jesum ist (Kap. 3,26), ja, wenn Er ihm heute schon einen Platz in Christo gibt in den himmlischen Örtern (Eph 1).

Kapitel 1,18–32

Nach dem bisher Betrachteten verstehen wir, dass der Apostel sich des Evangeliums nicht schämte. Der Träger einer solchen Botschaft Gottes an die Welt hatte wahrlich keine Ursache, mit der Verkündigung derselben zurückzuhalten. Wo und wann war je Ähnliches gehört worden? Gottes Gerechtigkeit wurde frei und umsonst angeboten, und zwar allen Menschen ohne Unterschied, und ohne jedes menschliche Zutun, durch Glauben allein, wurde sie erworben.

Ganz von selbst kommt der Apostel jetzt zur Behandlung der Frage, wodurch eine solch allumfassende Liebestat Gottes notwendig geworden ist. Die veranlassende Ursache ist das hoffnungslose Verderben der ganzen Welt, die Schuldbarkeit aller Menschen, ob Juden oder Heiden. Wollte Gott der verlorenen Welt Seine Liebe beweisen, wollte Er Menschen erretten, deren sündiger, heilloser Zustand sie unrettbar dem Verderben entgegen führte, so musste Er einen Boden schaffen, auf welchem Er nicht nur unbeschadet, sondern auf Grund Seiner Gerechtigkeit ihnen gnädig sein konnte. So wie die Dinge lagen, konnte der heilige Gott nur Zorn offenbaren.

Wir begegnen deshalb auch im 18. Verse den bedeutungsvollen, obwohl im Allgemeinen wenig verstandenen Worten: „Denn es wird geoffenbart Gottes Zorn vom Himmel her über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, welche die Wahrheit in Ungerechtigkeit besitzen.“

Beachten wir zunächst die ganz gleichen Ausdrücke im 17. und 18. Verse: „es wird geoffenbart Gottes Gerechtigkeit“, und „es wird geoffenbart Gottes Zorn“. Beides geschieht in der gegenwärtigen Zeit, und zwar in Verbindung mit dem Evangelium. Gleichzeitig mit der in ihm dargebotenen Gerechtigkeit Gottes wird der Zorn Gottes vom Himmel her geoffenbart. Er wird noch nicht ausgeübt, die Zeit der Ausführung des Gerichts ist noch nicht da, aber der Zorn wird geoffenbart, und zwar neben dem Worte vom Kreuze herlaufend.

Das mag für den Augenblick befremdend klingen, wird uns aber verständlich werden, wenn wir an die durch das Kreuz Christi veränderte Sachlage denken. Auch früher schon hatte Gott zeitweilig ernste Gerichte über die Menschen kommen lassen. Wir brauchen uns nur an die große Flut, an Sodom und Gomorra, an das Rote Meer, an die Rotte Korah usw. zu erinnern. Aber alle diese Gerichte waren irdische Wege der Vorsehung Gottes gewesen, deutliche Zeichen Seiner Regierung, nicht aber eine Offenbarung Seines Zornes vom Himmel her. In diesen Heimsuchungen hatte Gott wohl Zeugnisse davon gegeben, dass Er gerecht und heilig ist und die Sünde hasst, aber Er war doch nie aus Seinem Dunkel hervorgetreten, der Vorhang verbarg Ihn. Erst als der Sohn Gottes Sein Sühnungswerk vollbrachte und darin die Grundlage zu unserer Errettung legte, trat es völlig ans Licht, wer Gott ist, freilich auch was der Mensch und was die Sünde ist.

Das Gesetz und die Wege Gottes im Alten Bunde hatten Teile Seines Wesens geoffenbart, aber niemals hatte Gott so deutlich gezeigt, wie unerträglich die Sünde und alles Böse für Ihn ist, wie es am Kreuze geschah, da, wo Er, der Sünde nicht kannte, für uns zur Sünde gemacht wurde und den Kelch des Zornes Gottes wider die Sünde trank. Zugleich war niemals Seine Liebe, Sein Erbarmen so ans Licht getreten, wie gerade dort. Mit der erschütterndsten Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes verband sich am Kreuze der höchste Beweis Seiner Liebe.

Noch einmal denn: Wird im Evangelium einerseits Gottes Gerechtigkeit geoffenbart und jedem Glaubenden umsonst geschenkt, so zeigt Gott in Verbindung mit ihm anderseits deutlicher und eindringlicher als je, dass Sein Zorn „alle Gottlosigkeit“ (welcher Art sie sein mag) treffen muss; und nicht nur sie, sondern auch „alle Ungerechtigkeit der Menschen, welche die Wahrheit in Ungerechtigkeit besitzen“. Es ist nicht länger ein einzelnes Volk, an welchem Gott die Missetaten heimsucht, wie einst an Israel (vgl. Amos 3,1+2), das Sein Wort besaß, auch handelte es sich nicht nur um Wege Seiner vergeltenden Regierung an Menschen und Völkern ihres Tuns wegen, sondern Er richtet jetzt alles Böse, alles, was mit Ihm, der Licht ist, im Widersprach steht. Sein Zorn wird vom Himmel her geoffenbart gegen alle Menschen ohne jegliche Ausnahme. Alle stehen ihrer Sünden wegen unter Seinem Zorn und bleiben darunter, wenn sie nicht im Glauben von dem ihnen angebotenen Heil Gebrauch machen (Joh 3,36). Die Schuldbarkeit der einzelnen mag verschieden groß sein, aber alle sind schuldig, alle sind Kinder des Zorns, die ganze Welt ist dem Gericht Gottes verfallen.

„Gottlosigkeit“ ist die charakteristische Bezeichnung des Zustandes der Heiden. Ohne Gott und ohne Hoffnung in der Welt, unwissend und verstockt, verfinstert am Verstande und entfremdet dem Leben Gottes, so lebten und leben sie dahin (Eph.2,12; 4,18). „Ungerechtigkeit“ kennzeichnet mehr den Zustand des Juden, der nicht nur die Verheißungen Gottes besaß, sondern im Gesetz auch mit Gottes gerechten Forderungen an Sein Geschöpf bekannt gemacht worden war. Aber obwohl er die Gedanken Gottes über Gut und Böse wohl kannte, hat er doch die Ungerechtigkeit geliebt und die heiligen, guten Gebote Gottes tausendfach übertreten. Die Vorzüge, die der Jude vor dem Heiden besaß, haben also nur dazu gedient, seine Verantwortlichkeit und Schuld zu mehren, geradeso wie heute die Schuld der Namenchristenheit infolge der ihr zuteil gewordenen Vorzüge riesengroß geworden ist.

Da die Versammlung oder Gemeinde in Rom zumeist aus früheren Heiden bestand, ist es erklärlich, dass der Apostel sich zunächst, (bis zum 16. Verse des zweiten Kapitels) mit dem Zustand der heidnischen Welt beschäftigt und erst nachher (Kap. 2,17–3,20) von der Ungerechtigkeit der Juden redet. Er zählt drei Gründe für die Schuldbarkeit der Heiden vor Gott auf:

1. Sie besitzen das Zeugnis der Schöpfung. Das von Gott Erkennbare, Seine ewige Kraft und Göttlichkeit, wird von Erschaffung der Welt an in den von Ihm gemachten Dingen wahrgenommen (V. 19+20).

2. Sie haben im Anfang die Kenntnis Gottes gehabt (V. 21).

3. Sie haben ein (wenn auch irregeleitetes) Gewissen, das in ihrem Innern zeugt, so dass „ihre Gedanken sich unter einander anklagen oder auch entschuldigen“ (Kap. 2,14+15).

Die Heiden besitzen also viel mehr, als man gewöhnlich meint. Was aber haben sie mit dem ihnen Anvertrauten gemacht? Ach, sie sind ohne „Entschuldigung“! Obwohl sie durch die wunderbaren Werke und Gesetze der Schöpfung immer wieder von Gottes Größe, Macht und Weisheit überführt wurden, haben sie doch „weder ihn verherrlicht, noch ihm Dank dargebracht“, sondern sind in ihrem Hochmut und Dünkel immer mehr der Torheit und Herzensverfinsterung verfallen. Gericht ist über sie gekommen. Dreimal begegnen wir in unserem Kapitel dem ernsten Wort: „Gott hat sie hingegeben“.

In Seiner Güte ließ Er sich nicht an ihnen unbezeugt. Er gab ihnen „vom Himmel Regen und fruchtbare Zeiten und erfüllte ihre Herzen mit Speise und Fröhlichkeit“ (Apg 14,15–17), aber sie vergalten Seine Güte mit Undank und Verachtung.

Doch nicht nur gab es eine Möglichkeit, in der Schöpfung Gott zu erkennen, die Menschen haben im Anfang tatsächlich auch Gott gekannt (V. 21). Bis zur großen Flut hören wir kein Wort von Götzendienst, und wenn auch des Menschen Bosheit groß wurde, hat es doch in jener ganzen langen Zeit, von Adams Erschaffung bis auf Noah, (mehr als 1600 Jahre) nie an einem Zeugnis für Gott gefehlt. Auch als auf der durch das Gericht gereinigten Erde die Geschichte des Menschen von neuem begann, gab es in der Familie Noahs, welche die Kenntnis Gottes besaß, wieder ein Zeugnis für das neu entstehende Menschengeschlecht. Aber anstatt auf dieses Zeugnis zu achten und das göttliche Licht auf Herz und Wege leuchten zu lassen, wandte der Mensch sich von Gott ab, vergaß allmählich, dass es nur einen lebendigen Gott gibt, und verfiel in Narrheit. „Indem sie sich für Weise ausgaben, sind sie zu Narren geworden und haben die Herrlichkeit des unverweslichen Gottes verwandelt in das Gleichnis eines Bildes von einem verweslichen Menschen und von Vögeln und von vierfüßigen und kriechenden Tieren“ (V. 22+23).

Mit wenigen Strichen malt der Apostel hier das vielgestaltige Verderben, in welches der Mensch nach der Flut in religiöser Hinsicht geraten ist, um dann den furchtbaren sittlichen Verfall zu beschreiben, der die nie fehlende Folge der Gottentfremdung und des Götzendienstes ist. „Darum hat Gott sie auch dahingegeben in den Gelüsten ihrer Herzen in Unreinigkeit, ihre Leiber untereinander zu schänden; welche die Wahrheit Gottes in die Lüge verwandelt und dem Geschöpf mehr Verehrung und Dienst dargebracht haben als dem Schöpfer.“ Wer ein wenig die Schriften der alten heidnischen Völker kennt, weiß, wie sie an vielen Stellen von diesen Schändlichkeiten mit einer Offenheit Bericht geben, die unbegreiflich wäre, wenn wir nicht wüssten, bis zu welch einem Grade die Sünde zu verhärten und jedes Schamgefühl zu töten vermag.

Dabei hat man nicht verfehlt, die Wahrheit Gottes in die Lüge zu verkehren und dem Geschöpf mehr Ehre zu geben als dem Schöpfer. Es ist ja nicht anders möglich. Wenn der Mensch aus der ihm geziemenden, einzig möglichen Stellung eines abhängigen Geschöpfes heraustritt, wird er die Beute seiner Leidenschaften und Lüste, ein Spielball Satans, des Vaters der Lüge, und rasch sinkt er hinab, bis er am Ende weit unter dem Tiere steht. Die Dinge, die in den Versen 26 und 27 genannt werden, können uns nur mit Abscheu und Ekel erfüllen. Und wie ernst ist der Gedanke, dass sie sich heute in der so genannten christlichen Welt Zug um Zug wieder finden! Auch das in 2.Tim 3,2ff. gezeichnete prophetische Bild von den „letzten Tagen“ der Christenheit gleicht genau dem hier in Vers 28–31 von der Heidenwelt entworfenen. Da fehlt nichts. Wie furchtbar wird das Gericht sein, das in Bälde über ein solches Verderben hereinbrechen muss!

Die Menschen haben es nicht „für gut gefunden, Gott in Erkenntnis zu haben“, so lautet das Endurteil des Geistes Gottes (V. 28). Darum „hat Gott sie dahingegeben in einen verworfenen Sinn, zu tun was sich nicht geziemt“; und nun folgt jene lange finstere Liste, die mit „Ungerechtigkeit und Bosheit“ beginnt und mit „Treulose, ohne natürliche Liebe, Unbarmherzige“ endet. Was alles hat Gottes heiliges Auge in den vergangenen Jahrhunderten auf dieser Erde geschehen sehen, und was alles sieht es heute!

Und nicht nur hat der unter der verwüstenden Macht der Sünde zu einem Götzendiener und Narren gewordene Mensch an sich selbst den gebührenden Lohn seiner Verirrung empfangen und ist einem verworfenen Sinn übergeben worden, um alles Schändliche mit Gier zu tun, nein, es kitzelt seine Lust, andere es tun zu sehen, ja, es treibt ihn, solche, die noch verhältnismäßig rein geblieben sind, in denselben Schmutz hineinzuziehen, in welchem er sich bewegt. Er „erkennt Gottes gerechtes Urteil, dass, die solches tun, des Todes würdig sind“, aber trotzdem übt er es nicht nur selbst aus, sondern hat „Wohlgefallen an denen, die es tun“ (V. 32).

Könnte das herrliche Geschöpf, das einst in dem Bilde Gottes geschaffen wurde, sich noch mehr herabwürdigen, noch tiefer erniedrigen? Fürwahr, seine Schuld (nicht nur seine Sünde) ist unzweideutig erwiesen, und Gott ist nur gerecht, wenn Er den Schuldigen Seiner Heiligkeit gemäß richtet.

Fußnoten

  • 1 Dass zu gleicher Zeit die Liebe und die Gnade Gottes sich in dem Werke geoffenbart haben, ist wahr, wird aber an dieser Stelle nicht in Betracht gezogen.
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