Betrachtung über Markus (Synopsis)

Kapitel 15

Betrachtung über Markus (Synopsis)

Noch muss sich das Wort des Propheten erfüllen: „Er wird in die Hände der Heiden überliefert werden.“ Vor ihnen wird Er angeklagt, Sich zum König gemacht zu haben. Das Bekenntnis: dass Er wirklich König sei, musste notwendig seinen Tod herbeiführen. Allein es war die Wahrheit.

Das vor den Hohenpriestern abgelegte Bekenntnis Jesus (Mk 14,61+62) bezieht sich auf sein Verhältnis zu Israel, wie wir in diesem Evangelium schon andere ähnliche Beispiele gefunden haben. Sein Dienst bestand darin, in der Gemeinde Israels zu predigen. Schon hatte Er sich als König, als Emmanuel, dargestellt. Jetzt bekennt Er, was Er für Israel ist: die Hoffnung des Volkes, und was Er hernach sein wird. „Bist du“, fragt der Hohepriester, „der Christus, der Sohn des Gesegneten?“ (Mk 14,61). Das war nach Psalm 2 der Titel und die herrliche Stellung Dessen, der die Hoffnung Israels war. Allein Jesus fügt in seiner Antwort hinzu, was Er von nun an sein würde, d. h. Er bezeichnet den Charakter, den Er, als verworfen von diesem Volk, anzunehmen im Begriff stand, den Charakter, in dem Er sich dem widerspenstigen Volk zeigen würde. In Ps 8 und Ps 110 sowie in Dan 7 finden wir diesen Charakter mit seinen Ergebnissen, nämlich den Sohn des Menschen zur Rechten Gottes und kommend auf den Wolken des Himmels. Ps 8 stellt Christus nur auf eine allgemeine Art dar, während Ps 110 und  Dan 7 in jener besonderen Weise von dem Messias reden, nach der sich Christus hier ankündigt. Der Vorwurf der Lästerung seitens des Hohenpriesters bedeutete nur die Verwerfung seiner Person; denn was Er sagte, stand in dem Wort geschrieben.

Vor Pilatus legt Jesus nur dann ein gutes Bekenntnis, ein Zeugnis von der Wahrheit ab, wenn die Ehre Gottes es erforderte, und wenn dieses Zeugnis der Macht des Widersachers gegenüberstand. Auf alles Übrige erwidert Er nichts. Er lässt allem seinen Gang, und der Evangelist geht in keine Einzelheiten ein. Dieses Zeugnis abzulegen war der letzte Dienst, die letzte Pflicht, die Er zu erfüllen hatte; und Er hat es abgelegt. Die Juden geben dem Barabbas, dem Aufwiegler und Mörder, den Vorzug; und Pilatus, horchend auf die Stimme der Volksmenge, die durch die Hohenpriester gewonnen war, überliefert Jesus der Kreuzigung. Der Herr unterwirft sich den Beschimpfungen der Kriegsknechte, die den Stolz und die Unverschämtheit ihres Standes mit der Gefühllosigkeit des Henkers vereinigten, dessen Amt sie verrichteten. Welch traurige Charakterzüge unserer Natur! Der Christus, der zur Rettung der Menschen gekommen, war für den Augenblick in ihrer Gewalt. Er bediente sich Seiner Macht, nicht um Sich selbst zu retten, sondern um andere von der Macht des Feindes zu befreien. Schließlich führen sie Ihn nach Golgatha, um Ihn zu kreuzigen. Dort angekommen, reichen sie Ihm eine betäubende Mischung von Wein und Myrrhen, die Er jedoch zurückweist. Dann kreuzigen sie Ihn mit zwei Missetätern, den einen zu seiner Rechten, den anderen zu seiner Linken, und erfüllen damit (denn das war alles, was sie taten oder tun konnten) bis ins einzelne, was über den Herrn geschrieben stand. Es war die Stunde der Juden und der Priester. Ach! sie hatten den Wunsch ihrer Herzen erreicht; aber sie stellten, ohne es zu wissen, nur die Herrlichkeit und Vollkommenheit Jesus ans Licht. Der Tempel konnte nicht wieder erstehen, ohne in dieser Weise niedergerissen zu werden; und als Werkzeug erfüllen sie die Tatsache, die Jesus angekündigt hatte. Außerdem rettet Er andere und nicht Sich selbst. Das sind die beiden Teile der Vollkommenheit des Todes Jesus im Blick auf den Menschen.

Doch wie auch die Gedanken Christi und seine Leiden von Seiten der Menschen (dieser Hunde, dieser Stiere Basans, Ps 22), sein mochten, so enthielt doch das Werk, das Er zu vollbringen hatte, Tiefen, die weit über diese äußeren Dinge hinausgingen. Finsternis bedeckte die Erde – ein göttliches und mitfühlendes Zeugnis von dem, was mit noch weit tieferen Schatten die Seele Jesus bedeckte, der der Sünde wegen von Gott verlassen war, aber darin ungleich mehr, als zu irgendeiner anderen Zeit, seine unbedingte Vollkommenheit entfaltete. Die Finsternis stellte in einem äußeren Zeichen seine völlige Absonderung von allen äußeren Dingen dar, indem das ganze Werk sich zwischen Ihm und Gott allein vollzog gemäß der Vollkommenheit beider. Wenig von anderen verstanden, trug sich alles zu zwischen Ihm und seinem Gott. Und indem Er noch einmal einen lauten Schrei ausstößt, gibt Jesus seinen Geist auf.

Sein Dienst war vollendet. Was hatte Er noch länger in einer Welt zu tun, in der Er nur lebte, um den Willen Gottes zu erfüllen? Alles war vollendet, und Er verschied notwendigerweise. Ich spreche hier nicht von einer Notwendigkeit in physischem Sinn, denn Er behielt bis ans Ende seine Kraft; aber von der Welt verworfen, gab es in ihr keinen Raum mehr für sein Erbarmen gegen sie. Der Wille Gottes war gänzlich durch Ihn erfüllt. In seiner Seele hatte Er den Kelch des Todes und des Gerichts der Sünde wegen getrunken. Nichts blieb Ihm noch übrig als zu sterben; und Er haucht aus, gehorsam bis ans Ende, um in einer anderen Welt (sei es für seine von dem Leib getrennte Seele oder in Herrlichkeit) ein Leben zu beginnen, wohin das Böse nicht gelangen kann und wo der neue Mensch vollkommen glücklich sein wird in der Gegenwart Gottes.

Sein Dienst war vollendet. Sein Gehorsam fand seinen Abschluss im Tod – Sein Gehorsam und mithin sein Leben, wie Er es inmitten der Sünder zugebracht hatte. Was wäre der Zweck eines Lebens gewesen, in dem kein Gehorsam mehr zu vollbringen war? Im Sterben vollendete sich sein Gehorsam, und so stirbt Er. Der Weg ins Allerheiligste ist jetzt geöffnet, der Vorhang von oben bis unten zerrissen (V. 38). Der heidnische Hauptmann erkennt in dem sterbenden Jesus die Person des Sohnes Gottes. Bis dahin gingen der Messias und das Judentum zusammen; in seinem Tod aber verwirft Ihn das Judentum, und Er ist der Heiland der Welt. Der Vorhang verbirgt Gott nicht mehr. Das war in dieser Beziehung alles, was das Judentum tun konnte. Die Offenbarung der vollkommenen Gnade ist in diesem Kreuzestod auch für den Heiden vorhanden, der anerkannte, dass der Fürst des Lebens, der Sohn Gottes, da war, weil Jesus mit einem lauten Schrei, der das Vorhandensein so vieler Kraft bewies, sein Leben aushauchte. Auch Pilatus ist erstaunt, dass Er schon gestorben sein solle, und er glaubt es nicht eher, bis der Hauptmann es ihm bezeugt. Was den Glauben betrifft, so beunruhigt sich dieser der Gnade und selbst der menschlichen Gerechtigkeit entfremdete Mann wenig um diesen Punkt.

Der Tod entriss Jesus nicht den Herzen jener Schwachen, die Ihn liebten; sie haben vielleicht nicht im Kampf gestanden, aber die Gnade ließ sie jetzt aus ihrer Verborgenheit hervortreten. Es waren jene frommen Frauen, die Jesus nachgefolgt waren und oft für seine Bedürfnisse Sorge getragen hatten, und Joseph, der, obwohl in seinem Gewissen berührt, Ihm bisher noch nicht nachgefolgt war. Die Aufrichtigkeit des Ratsherrn findet in den Umständen nicht einen Anlass zur Furcht, sondern einen Beweggrund, offen hervorzutreten und sich für Jesus zu erklären. Sowohl er als auch jene Frauen, ermutigt durch das Zeugnis von der Gnade und Vollkommenheit Jesus, beschäftigen sich in gleicher Weise mit dem Leib Jesus. So ist der Körper des Sohnes Gottes nicht ohne jene Dienstleistungen geblieben, die von Seiten der Menschen dem gebührten, der sie soeben verlassen hatte. Übrigens hatte die Vorsehung Gottes sowie sein Werk in ihren Herzen für alles gesorgt. Der Leib Jesus wird in die Gruft gelegt; und nachdem sich die Frauen den Ort gemerkt haben, warten sie das Ende des Sabbaths ab, um ihren Dienst an dem Körper des Herrn zu vollenden.

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