Betrachtung über den Propheten Jesaja (Synopsis)

Kapitel 5-6

Betrachtung über den Propheten Jesaja (Synopsis)

Sodann beginnt der Geist Gottes mit dem Volke zu rechten, und zwar auf zwei verschiedenen Grundlagen – einmal mit Bezug auf das, was Gott für Sein Volk getan hatte, und dann mit Bezug auf das Kommen Jehovas in der Person Christi. Hatte das Volk der Fürsorge, welche Jehova ihm in so reichem Maße hatte angedeihen lassen, in geziemender Weise entsprochen? War es in einem passenden Zustande, um Jehova in seiner Mitte zu empfangen? Das 5. Kapitel behandelt die erste Frage, welche sich an die Verantwortlichkeit Israels im Blick auf die Fürsorge und die Regierung Gottes richtet. Was hätte noch an Seinem Weinberge geschehen können, das Er nicht an ihm getan hätte? Aber er hatte Ihm nichts als Herlinge gebracht. Daher kündigt Jehova die Seiner gerechten Regierung entsprechenden Folgen davon an. Sein Zaun, der Schutz, womit Er ihn umgeben hatte, soll weggenommen und der Weinberg von den Heiden verwüstet werden. Indem Gott mit Israel rechtet, führt Er ihm alle seine Sünden einzeln vor Augen; und dann streckt Er Seine Hand aus gegen Sein Volk, und schreckliche Gerichte befallen es. „Bei dem allem wendet sich sein Zorn nicht ab, und noch ist seine Hand ausgestreckt.“ Er wird mächtige Nationen gegen Sein Volk herbeiführen, deren Vordringen nichts zu hemmen vermag und die dasselbe in Gefangenschaft führen werden. Bedrängnis und Klage werden im Lande sein, und das Licht des Himmels wird ihnen verdunkelt werden. Zunächst bezieht sich diese Prophezeiung auf die Ereignisse unter Nebukadnezar und selbst unter Sanherib; doch völliger noch wird sie in Erfüllung gehen, wenn die Nationen in den letzten Tagen gegen Jerusalem heranstürmen und es erobern werden, nachdem sie das ganze Land überflutet und geplündert haben. Die Einzelheiten hiervon werden wir später finden.

Indes lag es in den Ratschlüssen Gottes, daß Seine Gegenwart inmitten Seines Volkes in Herrlichkeit stattfinden sollte, und dies wird in der Person Christi am Ende des Zeitalters in Erfüllung gehen. Daher wird die Mitteilung über das Fortschreiten der Gerichte gleich nach der ersten allgemeinen Darstellung derselben unterbrochen, und schon im 6. Kapitel erblickt der Prophet jene Herrlichkeit. Doch ist die Wirkung davon zunächst eine gerichtliche und dient dazu, die Augen des Volkes zu verblenden und es zu verurteilen. Das vorhergehende Gericht (Kap. 5) bezog sich auf die Tatsache, daß das Gesetz gebrochen und das Wort des Heiligen Israels mißachtet worden war, aber als Folge der Feindschaft gegen Christum und Seiner Verwerfung treten gerichtliche Blindheit und die Absonderung des Überrestes ein.

Daß es sich hier um die Herrlichkeit Christi handelt, erfahren wir aus dem 12. Kapitel des Evangeliums Johannes (Joh 12). Der Prophet fühlt sogleich den schroffen Gegensatz zwischen dem Zustande des Volkes und der Erscheinung dieser Herrlichkeit. Unreine Lippen können sie nicht besingen; eine glühende Kohle aber, vom Altar genommen, reinigt die Lippen des Propheten, und er bietet sich selbst Jehova als Bote an. Das Herz des Volkes aber wird betreffs der Herrlichkeit Christi fett gemacht, bis alles verwüstet ist. Dennoch wird ein Überrest vorhanden sein: „Und ist noch ein Zehntel darin, so wird es wiederum vertilgt werden, gleich der Terebinthe und gleich der Eiche, von welchen, wenn sie gefällt sind, ein Wurzelstock bleibt; ein heiliger Same ist sein Wurzelstock“ (Kap. 6, 13; vgl. Jes 1, 9). Das will sagen. Zur Zeit seiner Wiederkehr wird dieser Überrest selbst dem Gericht und der Vertilgung anheimfallen; doch ein heiliger Same wird vorhanden sein, welchem Leben entsprießen wird, wie dem Wurzelstock eines gefällten Baumes.

Wir finden demnach in diesen beiden Kapiteln das Gericht Israels von zwei verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet. Zunächst ist es das Gericht unter der Regierung Gottes (unter diesem Gesichtspunkte wird das Volk, als durchaus schuldig, den Nationen überliefert), sodann das Gericht im Hinblick auf die Herrlichkeit der Gegenwart Jehovas, wenn Er, gemäß den Ratschlüssen Seiner Gnade, kommen wird (dazu paßte der Zustand des Volkes nicht). Da es sich jedoch in diesem zweiten Falle um die Ratschlüsse Gottes handelt, so wird gemäß der Gnadenwahl ein Überrest vorhanden sein, in dessen Mitte die Herrlichkeit wiederhergestellt werden wird. Diese Unterscheidung ist notwendig, wenn es sich um die Regierung Gottes und Sein äußerlich sichtbares Tun handelt. Im 5. Kapitel, welches den ersteren Charakter des Gerichts bespricht, gibt es keinen Überrest; wir finden da einfach das öffentliche und vollständige Gericht des Volkes. Im 6. Kapitel handelt Gott gleichsam innerhalb Seines Volkes, Seinem eigenen Verhältnis zu diesem Volke entsprechend. Daher finden wir einen Überrest und die Gewißheit der Wiederherstellung Israels; denn die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar. Auch finden wir hier Christum. Gott konnte Sein Volk nicht für immer verstoßen, und der prophetische Glaube fragt. „Wie lange?“ wie es anderswo heißt: „Kein Prophet ist mehr da, und keiner bei uns, welcher weiß, bis wann“ (Ps 74, 9). Denn wenn der Sohn des Menschen kommt, wird Er den Glauben auf Erden finden?

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