Das Evangelium nach Matthäus

Kapitel 25

Das Evangelium nach Matthäus

Das Gleichnis von den zehn Jungfrauen eröffnet dieses Kapitel. Diese Welt bietet in jeder Hinsicht das Bild einer verworrenen Szene. Das Kommen des Herrn wird eine gründliche Klärung bringen. Wir haben das schon gesehen in den Gleichnissen vom Weizen und dem Unkraut, von dem Netz, das ins Meer geworfen wird (Kapitel 13), und auch in den Versen, die wir soeben am Ende von Kapitel 24 betrachtet haben. Dieselbe bedeutsame Tatsache tritt uns jetzt erneut in dem vorliegenden Gleichnis vom Reich der Himmel entgegen. Der Herr hatte die Kirche schon vorwegnehmend erwähnt, aber hier sagt Er nicht: „Dann wird die Kirche gleich geworden sein... „, sondern „das Reich der Himmel`, letzteres ist umfassender als die Kirche, obwohl es sie einschließt. Deshalb stellen „die zehn Jungfrauen“ nicht ausdrücklich die Kirche dar, obwohl sie im Blickwinkel des Gleichnisses mitgesehen wird.

Deshalb tun wir sicherlich recht daran, wenn wir das Gleichnis auf die Gläubigen der Jetztzeit, auf uns selbst, anwenden. Die Jungfrauen gingen aus, dem Bräutigam entgegen, und auch wir sind aus der Welt herausgerufen, um den Herrn zu erwarten. Doch da ist eine Zeit des Vergessens und des Einschlummerns in der Geschichte der Kirche eingetreten. Aber im Blick auf die Ankunft des Bräutigams ist ein alarmierender Ruf erschollen: „Gehet aus, Ihm entgegen!“ Das heißt: Kehrt um zu eurer ursprünglichen Stellung als ein Volk, das aus der Welt herausgerufen ist. Als alle schliefen, war nur ein geringer oder gar kein Unterschied zu sehen zwischen Echten und Falschen, aber im Augenblick des Erwachens und der Umkehr in die ursprüngliche Stellung zeichnet sich eine klare Unterscheidung ab, und solche, die kein Öl haben, werden offenbar. Das Öl ist ein Bild des Heiligen Geistes ‑ „wenn aber jemand Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein“ (Röm 8,9).

Man hat das Gleichnis gewaltsam benutzt, um den Gedanken zu stützen, dass nur hingebungsvolle und wachsame Gläubige dem Herrn, wenn Er kommt, entgegengehen werden und dass Gläubige mit geringeren Verdiensten dafür benachteiligt werden. Wir halten das für eine falsche Auslegung. Der in diesem Gleichnis wesentliche Punkt ist die Art und Weise, wie das Kommen des Herr eine vollständige Trennung durchführen wird zwischen solchen, die wirklich Sein sind, und solchen, die es nicht sind. In diesem Gleichnis sehen wir die Trennung, die im Bereich des Bekenntnisses gemacht wird, und das Siegel des Geistes besitzen nur die, die Christus wirklich angehören. Dass die Tür verschlossen wird, besiegelt die Zurückweisung der Falschen. Die Törichten sind nicht ein Bild von Rückfälligen, die den Herrn einst kannten und auch von Ihm gekannt waren. Das Wort lautet nicht: „Einst kannte ich euch, aber jetzt verleugne ich euch“, sondern vielmehr: „Ich kenne euch nicht“. Der Herr kennt dann nur, die Sein sind, andere aber sind Ihm fremd.

In Vers 13 wendet der Herr das Gleichnis auf Seine Jünger und damit auf uns an. Wir wissen nicht, wann der Sohn des Menschen kommt, und wir haben zu wachen. So lässt Er immer wieder Seine prophetische Belehrung auf unseren Charakter und unser Betragen einwirken. Er gibt uns kein Licht über die kommenden Ereignisse, damit lediglich unsere Neugierde befriedigt wird. Nachdem Er uns so zur Wachsamkeit ermahnt hat, zeigt Er uns in dem folgenden Teil des Kapitels, was Sein Kommen für uns als Knechte bedeutet und was es in der Tat auch für die Welt bedeutet. Alles wird vollständig an seinen rechten Platz gerückt.

Das Gleichnis von den Knechten und den Talenten folgt an dieser Stelle, um die Ermahnung zur Wachsamkeit in Vers 13 noch zu verstärken. Es zeigt, wie das Kommen des Sohnes des Menschen alle Seine Knechte einer Erprobung unterziehen wird, wobei unnütze Knechte hinausgeworfen werden. Die Absicht dieser Worte ist, uns allen Nüchternheit zu vermitteln, um zu verstehen, dass der Herr für die Zeit Seiner Abwesenheit Seinem Volk Seine „Habe“ anvertraut hat. Seine Interessen sind in unsere Hände gelegt worden, und wir können dem Kernpunkt des Gleichnisses nicht aus dem Weg gehen, indem wir sagen: „Ich habe keine besondere Gabe, und deshalb trifft das auf mich nicht zu.“

Der Meister übergab seine Habe seinen Knechten, „einem jeden“ von ihnen, und er wusste die Befähigung eines jeden einzuschätzen, so teilte er „einem jeden nach seiner eigenen Fähigkeit“ zu. Deshalb können wir unterscheiden zwischen den Gaben, die uns verliehen sind, und den Fähigkeiten, die wir besitzen mögen, wobei wir immer daran denken dürfen, dass der Herr die beiden Dinge aufeinander abstimmt. Unsere Fähigkeiten umfassen unsere natürlichen Kräfte ebenso wie unsere geistlichen, und wenn diese nicht sehr groß sind, würden fünf Talente, oder auch schon zwei, eine Last für uns sein. Wenn es so ist, weiß der Herr darum, und Er gibt uns nur eins. Wir könnten diesen Gedanken mit den Gaben in Römer 12,6‑15 verbinden, die in ihrer Art das ganze Volk Gottes betreffen. Mag die uns anvertraute Gabe nun groß oder klein sein, worauf es ankommt, ist, sie fleißig zu gebrauchen.

Den gleichen Fleiß bewiesen die Knechte, die fünf oder auch zwei Talente empfingen. Jedem gelang es, das anvertraute Gut zu verdoppeln und bei der Rückkehr ihres Herrn seine Zustimmung und Belohnung zu empfangen. Beachten wir, dass auch in diesem Gleichnis der Gegensatz nicht in dem Mehr oder Weniger an Redlichkeit und Fleiß treuer Knechte liegt, sondern zwischen solchen Knechten, die treu waren, obschon verschieden nach dem Maß ihrer Befähigung, und dem einen, der durchaus untreu war. Er verbarg das eine Talent, das er empfangen hatte, in der Erde, anstatt es im Interesse seines Meisters zu verwenden, und er tat dies, weil er seinen Herrn nicht wirklich kannte. Er beanspruchte zu wissen, dass er ein harter Mann wäre, der mehr forderte, als ihm gebührte, einer, der zu fürchten war. Sein Herr nahm ihn beim Wort auf dem Boden der Erkenntnis, die er für sich in Anspruch nahm, und zeigte ihm, dass seine Ausrede seine Schuld nur noch verschlimmerte, denn wäre er ein harter Mann gewesen, hätte der untreue Knecht um so mehr Ursache gehabt, das ihm übertragene Talent fleißig zu gebrauchen.

In Wirklichkeit war der Meister alles andere als ein harter Mann, wie die Behandlung der guten und treuen Knechte bezeugt. Der entscheidende Punkt war, dass dieser Knecht keine wahre Kenntnis seines Herrn und keine wirkliche Verbindung zu ihm hatte. Nun verlor er alles, was ihm anvertraut worden war, und er wurde hinausgeworfen in die äußere Finsternis, wo das Weinen und das Zähneknirschen sein wird, wie wir es auch bei dem heuchlerischen Knecht am Schluss des vorigen Kapitels gefunden haben. In dem ähnlichen Gleichnis in Lukas 19 wird zwischen den verschiedenen Knechten hinsichtlich ihres Eifers und ihrer Treue unterschieden, und danach werden sie belohnt. Der Knecht mit dem einen Pfund erleidet Schaden, aber er wird nicht in die äußere Finsternis hinausgeworfen. Es ist der Beachtung wert, dass in beiden Fällen das Versagen bei dem Mann gesehen wird, der mit dem Wenigsten betraut war. Wenn wir unsere eigenen Herzen untersuchen, werden wir erkennen, dass wir geneigt sind, gar nichts zu tun, wenn wir nur zu kleinen Aufgaben befähigt sind. Der Herr wird den Knecht, der bei geringer Fähigkeit geringe Dinge eifrig und sorgfältig tut, ganz sicher ehren.

Der letzte Abschnitt dieses Kapitels (Verse 31‑46) wird nicht als Gleichnis bezeichnet. Die Gleichnisse begannen mit Kapitel 24,32 und sind bis hierher abgeschlossen. Vers 31 nimmt den Faden der prophetischen Darlegung von 24,31 wieder auf. Wenn der Sohn des Menschen kommt, wird Er nicht nur Seine Auserwählten versammeln, sondern auch die Nationen vor sich laden, um über die ganze Erde hin Gute und Böse zu sichten. Alle Völker werden vor Ihm versammelt werden, und zwar auf der Erde. In der letzten Gerichtsszene, die in Offenbarung 20 vorhergesagt wird, wenn Erde und Himmel entflohen sind, erscheinen keine Nationen mehr. Dann sind es „die Toten, die Großen und die Kleinen“, denn im Tod sind alle nationalen Unterschiede verschwunden.

Andere Schriftstellen berichten uns von Gerichten, die Christus persönlich über Kriegsheere ausüben wird, wenn die mächtigen Armeen der verschiedenen Könige der Erde bei Harmagedon ihren Untergang finden. Doch von diesen Gerichten wird der große Teil der Zivilbevölkerung nicht betroffen, und diese alle müssen vor dem prüfenden Blick des Sohnes des Menschen vorübergehen, denn nur Er kann nach Seiner unfehlbaren Weisheit unterscheiden und aussondern. Und das wird Er tun dem Hirten gleich, der die Schafe von den Böcken scheidet. Dabei werden Seine richterlichen Entscheidungen von ewiger Tragweite sein, ebenso wie auch die Urteile des Gerichts am großen weißen Thron. Hier wie dort werden Menschen nach ihren Werken gerichtet werden.

Der wahre Zustand eines jeden Herzens ist, auch abgesehen von Werken, Gott völlig bekannt. Doch wenn ein öffentliches Gericht eingesetzt wird, dann wird immer nach den Werken beurteilt, da sie deutlich und unfehlbar den inneren Zustand anzeigen, und so wird die Gerechtigkeit des göttlichen Gerichts allen Betrachtern sichtbar. Diese Boten, die der König „meine Brüder“ nennt, waren als Seine Stellvertreter ausgegangen, und die Behandlung, die sie erfuhren, wechselte je nach der Meinung über den Sohn des Menschen, den sie vertraten. Solche, die an Ihn glaubten, machten sich eins mit Seinen Boten und dienten ihnen in ihrer Verwerfung und ihren Trübsalen. Solche aber, die nicht an Ihn glaubten, beachteten Seine Boten überhaupt nicht. Die Glauben hatten, machten ihn durch ihre Werke offenbar. Die, die keinen Glauben hatten, taten das gleicherweise durch ihre Werke kund.

Übersehen wir nicht die Tatsache, dass der König den Verurteilten nicht zur Last legt, dass sie Seine Diener verfolgt und ins Gefängnis gebracht haben, sondern nur, dass sie sie nicht beachtet haben und sie geringschätzig behandelten. Ein solches Verhalten erinnert an die ernste Frage in Hebräer 2: „Wie werden wir entfliehen, wenn wir eine so große Errettung vernachlässigen?“ An jenem Tag wird es offenbar sein, dass Menschen, die Christus nachlässig begegnet sind, dadurch, dass sie Seine Diener vernachlässigten, ewiger Verdammnis anheim fallen.

Wer sind „diese meine Brüder“? Wenn wir uns die ganze prophetische Rede vor Augen halten, um deren letzten Teil es hier geht, dann kann die Antwort nicht schwer fallen. An ihrem Anfang wandte der Herr sich an Seine Jünger persönlich und sagte ihnen, wie sie gehasst, bedrängt und verraten werden würden, dass aber das Ende erst käme, wenn „dieses Evangelium des Reiches“ zu einem Zeugnis für alle Nationen gepredigt worden wäre, und dass solche, die bis ans Ende ausharrten, errettet werden würden. Er sprach so, als ob die Jünger vor Ihm die Zeit des Endes miterleben würden, weil Er sie in einer stellvertretenden Stellung betrachtete. Die „Brüder“ im Schlussteil der Rede sind die Jünger der letzten Tage, die aber durch die Jünger der ersten Tage dargestellt wurden, zu denen der Herr sprach. Obwohl sie nun wenig später durch den Geist zu einem Leib getauft wurden, der die Kirche ist, wie Apostelgeschichte 2 berichtet, so waren sie doch in diesem Augenblick einfach ein Überrest Israels. Als solche hatten sie in Jesus den Messias erkannt und sich Ihm angeschlossen. Sie repräsentierten einen ähnlichen Überrest Israels, dessen Augen in den letzten Tagen aufgetan sein werden und der den abgerissenen Faden „dieses Evangeliums des Reiches“ wiederaufnehmen wird ‑ abgerissen, als Christus auf Erden verworfen wurde, und wiederaufgenommen und erneuert, kurz bevor Er zur Erde zurückkehrt, um zu regieren.

In dem letzten Abschnitt von Kapitel 25 ist das Ende gekommen. Der Sohn des Menschen ist König, die Jünger, die bis zum Ende ausharrten, sind gerettet, die Nationen werden gerichtet, die Aussonderung der Guten wie der Bösen ist abgeschlossen, die Gerichtsentscheidungen sind von ewiger Dauer. Dreimal kommt das Wort ewig vor. Die Strafe der Verfluchten und das Feuer, zu dem sie hingehen, sind ewig. Das Leben, zu dem die Gesegneten eingehen, ist ewig. Der Gegensatz zu Leben ist nicht ein Aufhören der Existenz, wie es der Fall sein würde, wenn Leben nicht mehr als Existenz aufgrund des Lebensfunkens in uns bedeutete. Es ist Strafe, denn ewiges Leben umfasst die ganze Sphäre gesegneter und ewiger Wahrheiten, die für immer das Teil des Gerechten sind. Es geht hier nicht darum, dass das Leben in ihnen ist, sondern dass sie darin eingehen. Mit diesem schönen Ausklang endete die prophetische Rede des Herrn.

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