Betrachtung über Galater (Synopsis)

Kapitel 2

Betrachtung über Galater (Synopsis)

Vierzehn Jahre später ging Paulus mit Barnabas hinauf nach Jerusalem (die nähere Mitteilung darüber finden wir in Apg 15) und nahm auch Titus mit sich. Titus war ein Grieche, war aber trotzdem nicht beschnitten worden: ein deutlicher Beweis von der Freiheit, in welcher der Apostel öffentlich stand. Es war seinerseits ein kühner Schritt, dass er Titus mitnahm und auf diese Weise die Frage zwischen ihm selbst und den jüdisch gesinnten Christen entschied. Er ging hinauf der eingeschlichenen falschen Brüder wegen, die die Freiheit auszukundschaften suchten, in welche Paulus (der sie im Geist genoss) die Gläubigen einführte; und er ging hinauf zufolge einer Offenbarung (V. 1–5).

Beachten wir hier, wie die Mitteilungen des Herrn innerlich unser Verhalten leiten können, obwohl wir Beweggründen nachgeben, die andere uns dargeboten haben. In Apg 15 finden wir die äußere Geschichte, hier hingegen das, was das Herz des Apostels beherrschte. Um jeden Mund zu verschließen und die Einheit zu bewahren, leitete Gott es so, dass die Sache zu Jerusalem entschieden wurde, indem Er dem Apostel nicht erlaubte, zu Antiochien die Oberhand zu haben, oder ohne weiteres das Verhalten der dortigen Versammlung zu regeln. Ebenso wenig erlaubte Er ihm, mit seinen eigenen Überzeugungen für sich dazustehen, sondern Er ließ ihn hinaufgehen nach Jerusalem, um den vornehmsten Aposteln mitzuteilen was er lehrte, damit in dem Zeugnis über diesen so wichtigen Gegenstand Gemeinschaft bestände, und damit auch jene Paulus als einen Mann anerkennten, der unabhängig von ihnen von Gott belehrt war. Zugleich sollten sie anerkennen, dass sein Dienst von Gott verordnet war und dass er ebenso sehr von Seiten Gottes wirkte wie auch sie. Denn obwohl Gott wollte, dass er ihnen mitteilte, was er andere gelehrt hatte, empfing er doch nichts von ihnen. Die Wirkung seiner Mitteilung war, dass sie die Gnade anerkannten, die Gott ihm verliehen, und den Dienst, den er für die Nationen empfangen hatte, und dass sie ihm und Barnabas die Rechte der Gemeinschaft gaben (V. 6–9).

Wäre er früher nach Jerusalem gegangen, so würden, wie groß auch seine Erkenntnis gewesen wäre, die Beweise seines besonderen und unabhängigen Dienstes nicht vorhanden gewesen sein. Jetzt aber hatte er seit vielen Jahren mit Erfolg gearbeitet, ohne dass er irgendeine Mission von anderen Aposteln empfangen hatte, und sie mussten jetzt nicht nur seine Apostelschaft als die unmittelbare Gabe Gottes anerkennen, sondern auch den Wahrheiten ihre Zustimmung geben, die Gott ihm mitgeteilt hatte: die Beweise dafür waren vorhanden. Geradeso wie Gott dieses Apostelamt gegeben hatte, so hatte Er sich auch zu ihm bekannt. Die Zwölf hatten weiter nichts zu tun als es anzuerkennen, wenn sie anders Gott für die Quelle all dieser ausgezeichneten Gaben hielten. Paulus war ein Apostel von Gott, ohne ihre Vermittlung. Sie konnten seinen Dienst und in demselben den Gott anerkennen, der auch ihnen gegeben hatte, was sie selbst ausübten.

Überdies hatte Paulus in der Erfüllung seiner Sendung immer unabhängig gehandelt. Als Petrus nach Antiochien kam, widerstand er ihm ins Angesicht, weil er zu tadeln war. Petrus stand Paulus nicht gegenüber wie ein Vorgesetzter, vor dem die Untergebenen ein ehrerbietiges Schweigen beobachten müssen. Obwohl Gott in Petrus mächtig gewirkt hatte, konnte doch sein Mitapostel (der Dem treu war, der ihn berufen hatte) nicht zulassen, dass das Evangelium, das von dem Herrn selbst seiner Sorge anvertraut war, verfälscht wurde. Feurig, wie er war, war der arme Petrus immer zu sehr um die Meinung anderer besorgt. Die in der Welt herrschende Meinung ist ja stets etwas, was auf das menschliche Herz Einfluss ausübt, und sie ist immer so beschaffen, dass sie dem Menschen nach dem Fleisch eine gewisse Ehre einräumt. Paulus, belehrt von oben und erfüllt mit der Kraft jenes Geistes, der durch Offenbarung der himmlischen Herrlichkeit ihn hatte fühlen lassen, dass alles, was das Fleisch erhob, diese Herrlichkeit verdunkelte und das Evangelium, das dieselbe kundmachte, verfälschte, – Paulus, der innerlich in der neuen Schöpfung, deren Mittelpunkt ein verherrlichter Christus ist, lebte und webte, der ebenso fest war wie feurig, weil er die unsichtbaren Dinge verwirklichte, und ebenso klar sehend wie fest, weil er in der Verwirklichung der geistlichen und himmlischen Dinge in Christus lebte, – Paulus, für den der Gewinn des also verherrlichten Christus alles war, erkannte klar den fleischlichen Wandel des Apostels der Beschneidung. Der Mensch schreckte ihn nicht; mit Christus, der sein Alles war, und mit der Wahrheit beschäftigt, schonte er niemand, der diese Wahrheit verkehrte, mochte seine Stellung in der Versammlung sein, welche sie wollte.

In Petrus war Heuchelei. Solange er allein war und der Einfluss der himmlischen Wahrheit ihn beherrschte, aß er mit denen aus den Nationen und gab sich das Ansehen, als ob er in derselben Freiheit wandle wie andere. Sobald aber gewisse Personen von Jakobus kamen, von Jerusalem, wo er selbst gewöhnlich wohnte, von jenem Mittelpunkt, wo das religiöse Fleisch und dessen Gewohnheiten (unter der langmütigen Güte Gottes) noch so viel Kraft besaßen, hatte er nicht länger den Mut, eine Freiheit zu gebrauchen, die von den jüdisch gesinnten Christen verurteilt wurde; er zog sich zurück. Welch ein armes Geschöpf ist der Mensch! Und wir sind schwach nach dem Maß unserer Wichtigkeit vor den Menschen; wenn wir nichts sind, so vermögen wir, insoweit menschliche Meinung in Betracht kommt, alles. Wir üben zugleich einen ungünstigen Einfluss auf andere aus, und zwar in demselben Grade, in dem wir dem Einfluss nachgeben, den der Wunsch, unseren guten Namen unter den Menschen zu erhalten, auf unsere Herzen ausübt; und die ganze Achtung, die man uns, wenn auch mit Recht, erweist, wird ein Anlass zum Bösen 1. Petrus, der die von Jerusalem gekommenen Judenchristen fürchtet, reißt alle Juden und sogar Barnabas in seiner Heuchelei mit sich fort.

Paulus, durch die Gnade energisch und treu, bleibt allein aufrichtig, und er tadelt Petrus vor allen. Warum die Nationen zwingen, zum Zweck der Herstellung einer völligen christlichen Gemeinschaft wie die Juden zu leben, wenn er selbst, der ein Jude war, sich frei gefühlt hatte, wie die Nationen zu leben? Sie selbst, von Natur Juden und nicht arme Sünder aus den Nationen, hatten das Gesetz als ein Mittel, sich der Gunst Gottes zu versichern, aufgegeben und zu Christus ihre Zuflucht genommen. Wenn sie aber das Gebäude gesetzlicher Verpflichtungen wiederaufzubauen trachteten, um Gerechtigkeit zu erwerben, warum hatten sie es dann vorher abgebrochen? Indem sie so handelten, stellten sie sich in dem Abbrechen als Übertreter dar. Noch mehr: um zu Christus zu kommen, hatten sie aufgehört, das Gesetz als ein Mittel zur Rechtfertigung zu gebrauchen und die Gerechtigkeit durch das Gesetz zu suchen; Christus war also ein Diener der Sünde, denn seine Lehre hatte sie zu Übertretern gemacht. Dadurch, dass sie das Gebäude des Gesetzes wieder aufbauten, bekannten sie augenscheinlich, dass sie es nicht hätten abbrechen sollen; Christus aber war es, der sie dazu veranlasst hatte!

Welch ein Ergebnis der Schwachheit, die, um Menschen zu gefallen, zu jenen Dingen zurückgekehrt war, durch die das Fleisch befriedigt wurde! Wie wenig hatte Petrus daran gedacht! Wie wenig ahnen es viele Christen! Auf Satzungen ruhen heißt auf dem Fleisch ruhen; im Himmel gibt es keine Satzungen. Wenn Christus, der dort ist, alles ist, kann so etwas keinen Raum finden. Christus hat zwar Satzungen aufgestellt, um sein Volk von der Welt zu unterscheiden, um dadurch einerseits kundzutun, dass sie nicht von der Welt sind, sondern mit Ihm derselben gestorben, und um anderseits sie zu versammeln auf Grund dessen, was allein sie alle vereinigen kann, das ist auf dem Boden des Kreuzes und der vollbrachten Erlösung, in der Einheit seines Leibes. Wenn wir aber, anstatt diese Satzungen mit Danksagung nach seinem Willen zu benutzen, auf ihnen ruhen, so haben wir die Fülle, die Allgenugsamkeit Christi verlassen, um auf das Fleisch zu bauen, das sich auf diese Weise mit jenen Satzungen beschäftigen kann und in ihnen seine verderbliche Nahrung findet. Sie wirken dann wie eine Art Vorhang, der den vollkommenen Heiland vor uns verbirgt, von dessen Tode, in Beziehung zu dieser Welt sowie zu dem im Fleisch lebenden Menschen, diese Satzungen so deutlich zu uns reden. Auf christlichen Satzungen ruhen heißt nichts anderes, als die köstliche und erhabene Wahrheit, die sie uns darstellen, verleugnen, dass es nämlich, seitdem Christus gestorben und auferstanden ist, keine Gerechtigkeit nach dem Fleisch mehr gibt.

Dies fühlte der Apostel tief; er war auch berufen worden, gerade dies durch die Kraft des Heiligen Geistes den Augen und Gewissen der Menschen vorzustellen. Wie viele Trübsale, wie viele Kämpfe kostete ihn seine Aufgabe! Das Fleisch des Menschen hat so gern etwas Anerkennung; es kann nicht ertragen, als schlecht und zu allem Guten unvermögend betrachtet zu werden. Völlig ausgeschlossen und zur Vernichtung verdammt zu sein – und das nicht etwa durch seine Anstrengungen, sich selbst zu nichts zu machen, was ihm seine ganze Wichtigkeit zurückgeben würde, sondern durch ein Werk, welches das Fleisch in seinem wahren Nichts lässt und das unbedingte Todesurteil über dasselbe ausgesprochen hat, so dass es, von der Tatsache überführt, dass es nichts als Sünde ist, nur zu schweigen hat – das kann es nicht ertragen. Wenn das Fleisch in Tätigkeit tritt, so geschieht es nur, um Böses zu tun. Sein Los ist, tot zu sein und nichts anderes. Wir haben sowohl das Recht als auch die Kraft, es dafür zu halten, weil Christus gestorben ist und wir in seinem Auferstehungsleben leben. Er selbst ist unser Leben geworden. In Ihm lebend, betrachte ich das Fleisch als tot; ich bin nicht ein Schuldner desselben. Gott hat die Sünde im Fleisch verurteilt, indem sein Sohn in Gleichgestalt des sündigen Fleisches und für die Sünde gekommen ist. Dieser große Grundsatz, dass wir mit Christus gestorben sind, ist es, den der Apostel am Ende des Kapitels entwickelt, nachdem er zuvor die Kraft des Gesetzes, das Gewissen vom Tod zu überzeugen, anerkannt hat. Er hatte entdeckt, dass unter einem Gesetz zu sein nichts anderes war, als sich zum Tode verurteilt zu finden. Er hatte im Geist die ganze Kraft dieses Grundsatzes erfahren; seine Seele hatte den Tod in seiner ganzen Kraft verwirklicht. Er war gestorben; aber wenn er gestorben war, so war er dem Gesetz gestorben. Die Macht eines Gesetzes geht nicht über das Leben hinaus; wenn sein Opfer einmal gestorben ist, hat es keine Macht mehr über dasselbe. Nun, Paulus hatte diese Wahrheit erkannt, und, indem er dem Grundsatz des Gesetzes seine ganze Kraft zuerteilte, bekannte er, dass er selbst durch das Gesetz und darum dem Gesetz gestorben war. Aber wie? Hatte er die ewigen Folgen der Übertretung des Gesetzes getragen? Denn wenn das Gesetz tötete, so verdammte es auch (siehe 2. Kor 3,7+9). Keineswegs. Es handelt sich hier um eine ganz andere Sache. Paulus leugnete nicht die Autorität des Gesetzes; er erkannte die Kraft desselben in seiner Seele an, aber im Tod, damit er nun Gott leben möchte.

Wo aber konnte er dieses Leben finden, da das Gesetz ihn nur getötet hatte? Das erklärte er. Nicht er in seiner eigenen Verantwortlichkeit hätte das vermocht, da er ja den endgültigen Folgen der Übertretung des Gesetzes verfallen war – wer hätte je im Gesetz das Leben finden können? Aber Christus war gekreuzigt worden, Er, der den Fluch des Gesetzes Gottes tragen, den Tod erleiden und dennoch leben konnte in dem mächtigen und heiligen Leben, das nichts wegzunehmen vermochte, und das es dem Tod unmöglich machte, Ihn zu behalten, obgleich Er in Gnade den Tod schmeckte. Dieselbe Gnade aber hatte den Apostel erreicht, und indem er nun als ein armer, dem Tod unterworfener Sünder der Wahrheit gemäß das Geschehene anerkannte und den Gott pries, der ihm die Gnade des Lebens und der freien Annahme in Christus verliehen hatte, war er in den Ratschlüssen Gottes mit Christus in seinem Tod einsgemacht worden. Jene Ratschlüsse waren jetzt verwirklicht durch den Glauben und praktisch zur Wahrheit geworden durch Christus, der gestorben und wieder auferstanden war und so das Leben des Apostels ausmachte. Er war mit Christus gekreuzigt, so dass das Verdammungsurteil des Gesetzes für ihn beseitigt war.

Christus war es, den der Tod unter dem Gesetz erreicht hatte. Tatsächlich hatte das Gesetz Saulus, den Sünder, erreicht in der Person Dessen, der sich für ihn dahingegeben hatte (zugleich aber hatte es auch ihn selbst in seinem Gewissen erreicht und den Tod eingeführt, d. h. den Tod des alten Menschen; siehe Röm 7,9+10), und so hatte das Gesetz jetzt kein Recht mehr an ihn; denn das Leben, an das die Herrschaft des Gesetzes geknüpft war, hatte auf dem Kreuz sein Ende gefunden 2. Dessen ungeachtet lebte er; doch nicht er, sondern Christus, und zwar in jenem Leben, in dem Christus aus den Toten auferstanden ist: Christus lebte in ihm. Also verschwand die Herrschaft des Gesetzes über ihn (obgleich er demselben seine ganze Kraft beließ), weil diese Herrschaft verbunden war mit jenem Leben, dem er sich in Christus für gestorben hielt. Christus hatte sich ja zu diesem Zweck dem Tod wirklich unterzogen. Und Paulus lebte in jenem mächtigen und heiligen Leben, in dessen Vollkommenheit und Kraft Christus aus den Toten auferstanden war, nachdem Er den Fluch des Gesetzes getragen hatte. Er lebte Gott und hielt das verderbte Leben seines Fleisches für tot. Sein Leben leitete seinen ganzen Charakter, sein ganzes Wesen von der Quelle her, aus der es floss.

Doch das Geschöpf muss einen Gegenstand haben, für den es lebt; das war auch mit der Seele Pauli der Fall, und zwar durch den Glauben an Jesus Christus. Er lebte wirklich durch den Glauben an Jesus Christus. Der Christus, der die Quelle seines Lebens, der sein Leben war, war auch der Gegenstand desselben. Das ist es, was stets das Leben Christi in uns kennzeichnet. Er selbst ist der Gegenstand desselben, Er allein. Wenn die Tatsache stets vor unserer Seele steht, dass Er durch sein Sterben für uns in Liebe (Er, der allein dazu fähig war, der Sohn Gottes) uns, die also freigemacht sind von der Sünde, dieses Leben als unser eigenes gegeben hat, dann ist Er in unseren Augen bekleidet mit der Liebe, die er uns also erwiesen hat. Wir leben „durch den Glauben an den Sohn Gottes, der uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat“. Und hier ist es das persönliche Leben, der persönliche Glaube, der uns mit Christus verbindet und Ihn uns köstlich macht als den Gegenstand des innigsten Glaubens der Seele. Auf diese Weise wird die Gnade Gottes nicht ungültig gemacht; denn wenn Gerechtigkeit sich auf dem Grundsatz des Gesetzes aufbaute, so wäre Christus umsonst gestorben, weil wir, indem wir selbst das Gesetz hielten, in unserer eigenen Person Gerechtigkeit erwerben würden.

Fußnoten

  • 1 Es ist für das praktische Leben wichtig zu beachten, dass Weltlichkeit oder Nachgiebigkeit in irgendeiner Sache, die nicht aus Gott ist, auf Seiten eines frommen Mannes dem von ihm erlaubten Bösen das Gewicht seiner Frömmigkeit verleiht.
  • 2 Christus hatte auch seine Sünden getragen, doch davon ist an dieser Stelle keine Rede; es handelt sich hier um die Herrschaft des Gesetzes über ihn, während er auf Erden lebte.
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