Die Versammlung Gottes

2) Das Werk des Dienstes

Die Frage der Geistlichkeit

Das Fehlen jedes geistlichen Standes bei den Zusammenkünften außerhalb der verschiedenen kirchlichen Organisationen fällt ohne Zweifel am meisten auf. Dies verwirrt oft aufrichtige Seelen, die an religiöse Formen gewöhnt sind. Ist nicht auch im Neuen Testament die Rede von Aufsehern, Ältesten und Dienern, von Hirten, Evangelisten, Lehrern, wie auch von Aposteln und Propheten?

Gewiss! Zunächst aber lasst uns feststellen, dass nirgend im Neuen Testament diese Männer oder eine Gruppe von ihnen als eine von den übrigen Gläubigen zu unterscheidende Körperschaft betrachtet werden, die allein die Aufgabe hätten, den Priesterdienst auszuüben, Gottesdienste zu leiten und gewisse Zeremonien zu verrichten. Im Gegenteil, im Neuen Testament werden ohne Unterschied alle Christen als Priester angesehen. Der Apostel Petrus macht keinerlei Unterschied unter ihnen, wenn er schreibt: „Auch ihr selbst werdet, als lebendige Steine, aufgebaut, ein geistliches Haus, ein heiliges Priestertum, um darzubringen geistliche Schlachtopfer, Gott wohlangenehm durch Jesus Christus“ (1. Pet 2,5). Der Begriff einer Geistlichkeit (Klerus) ist der christlichen Lehre des Neuen Testamentes fremd.

Die Heilige Schrift hat auch nirgend eine Nachfolge von Priestern oder Dienern vorgesehen, auf eine Weihe oder Anstellung gegründet, wie sie in verschiedenen „Kirchen“ üblich ist. Allerdings wird eine Geistlichkeit nach katholischer Art auch von vielen, besonders von den Freikirchen, verworfen. Was die zwölf Apostel betrifft, so ist es klar, dass der Herr Selbst sie auserwählt hatte; es ist aber ebenso klar, dass sie ihrerseits keine Nachfolger in der Apostelschaft bestellt haben. Wenn ein anderer das Aufseheramt des Judas empfangen hat, so waren es nicht die Apostel, die ihn dazu wählten. Das unter Gebet vor dem Herrn gegebene Los entschied (Apg 1,24-26). Auch Paulus betont ausdrücklich die Tatsache, dass er sein Apostelamt von Gott und nicht von Menschen empfangen habe (Gal 1,1; Apg 26,16-18), und er hat für sich keinen Nachfolger ernannt. Dieser Grundsatz ist daher für alle geistlichen Dienste maßgebend. Man wird etwas anderes im Neuen Testament nicht finden.

Wir finden wohl, dass die Apostel, bevor das Wort Gottes vollendet war, und während die Kirche sich noch in der Entwicklung befand, es für gut befanden, von sich aus Diener (Apg 6,1-3) anzustellen, und in den Versammlungen der Nationen Älteste (Apg 14,23), nach dem Vorbild, das von jeher in Israel bestanden hatte. (Vgl.  Apg 11,30 und Jakobus 5,14). Auch Paulus gab auf Grund seiner apostolischen Autorität dem Titus Anweisung, in Kreta Älteste anzustellen (Titus 1,5) und vielleicht auch dem Timotheus in Ephesus, obwohl dies nicht ausdrücklich gesagt wird (1. Tim 3). Wohl lesen wir auch in Apostelgeschichte 13,1-4, dass die Propheten und Lehrer der Versammlung in Antiochien dem Paulus und Barnabas die Hände auflegten, aber keineswegs, um sie selbst zu einem Dienst zu verordnen - denn sie wurden vom Heiligen Geist ausgesondert -, viel mehr um ihnen ihre Gemeinschaft und ihre Billigung zu bezeugen. Gewiss hatte Timotheus „nach den vorangegangenen Weissagungen“ (1. Tim 1,18) eine Gnadengabe empfangen „mit Händeauflegen der Ältestenschaft“ (1. Tim 4,14) und „ durch das Auflegen meiner Hände“, sagt Paulus (2. Tim 1,6); doch bestätigen die Ältesten nur das, was dem Paulus allein zu stand zu verleihen; und auch er verlieh nur auf ausdrückliche, durch Weissagung ergangene Anordnung des Heiligen Geistes. Das sind unbestreitbare Tatsachen. Vergebens suchen etliche daraus für eine offizielle Weihe oder Ordination eine Anordnung mit fortdauernder Gültigkeit herzuleiten. Nicht nur hatten die Apostel keine Nachfolger und spricht das Wort nirgend von einer möglichen Übertragung der apostolischen Autorität, sondern es schweigt ebenso vollständig über die Ernennung von Menschen zu einem öffentlichen Amt. Niemand kann sich heute auf eine von Gott gegebene Anordnung dieser Art berufen.1)

Die Heilige Schrift besteht mit Nachdruck darauf, dass der Heilige Geist es ist, der geistliche Gaben und Dienste austeilt bzw. dazu beruft (Apg 13,2 und 1. Kor 12). Gerade diese Tätigkeit des Geistes wird in der gesamten christlichen Welt nicht erkannt. Wie könnte man auch Seiner Herrschaft freien Lauf lassen, wenn man in den meisten Fällen nicht einmal die Gegenwart des Heiligen Geistes auf der Erde als eine Person anerkennt? Notwendigerweise werden dann die Satzungen einer menschlichen Organisation an die Stelle des Geistes gesetzt, und es wird eine öffentliche Einsetzung verlangt, um den Dienst in der Kirche ausüben zu dürfen. Auch wenn behauptet wird, dass nur solche Männer zu Ämtern bestellt werden, die von Gott berufen sind, so ist der eigentliche Grund der Einsetzung doch der, dass eine menschliche Autorität als allein maßgebend eingeführt wird, die aber im Wort Gottes nicht zu finden ist. Nun mangelt es aber in der Schrift gar nicht an genauen Anweisungen über die Ordnung in der Versammlung und über ihre Auferbauung. Das Wort sagt: „Alles dieses aber wirkt ein und derselbe Geist, einem jeden insbesondere austeilend, wie er will“ (1. Kor 12,11). Es steht weder der Versammlung, noch einer aus ihr hervorgegangenen Geistlichkeit zu, die Gaben „ auszuteilen“.

Wir haben sehr nötig, vor Formen, besonders aber vor diesem klerikalen Geist bewahrt zu werden, der die gemeinschaftliche Ausübung des Dienstes unmöglich macht und die Sorge um die Versammlung einigen wenigen überträgt. Wir werden vor diesen Fehlern bewahrt, wenn wir in Einfalt an die Gegenwart des Heiligen Geistes in der Versammlung glauben. Er wirkt in ihr durch die „Gnadengaben“.

Die Gnadengaben

Unmöglich könnte die Versammlung ohne den Dienst der Gnadengaben bestehen. Eine „Gabe“ ist eine einer bestimmten Person von Gott gegebene Fähigkeit, zum Wohl der Versammlung zu handeln2) Christus lässt es Seiner Versammlung nicht daran fehlen. Er hat alles gegeben, was nötig ist, gibt alles und wird auch alles geben durch den Heiligen Geist, um die Versammlung zu nähren, zu verwalten und zu erbauen, solange sie auf der Erde sein wird.

Es gibt mancherlei Gnadengaben. Mehrere Schriftstellen zählen sie auf, doch in voneinander abweichenden Zusammenstellungen, die jede einem besonderen Zweck entsprechen und die offenbar nicht erschöpfend sind.

Die Gaben sind für die Gesamtheit der Versammlung Gottes gegeben, „zur Vollendung der Heiligen, für das Werk des Dienstes, für die Auferbauung des Leibes des Christus“ (Eph 4,12). Christus Selbst, als das verherrlichte Haupt dieses Leibes, „hat die einen gegeben als Apostel und andere als Propheten und andere als Evangelisten und andere als Hirten und Lehrer“ (Eph 4,11). Man sieht, dass es sich hier im besonderen um den „Dienst des Wortes“ handelt, nämlich um den Dienst, den man allgemein unter dem Wort „Dienst“ im engeren Sinne versteht.

Der Dienst, den die Apostel getan haben, ist ein fortdauernder, da ihre Botschaft und ihre Werke in den inspirierten Schriften Platz gefunden haben, und das Wort Gottes vollendet wurde. Das vollendete Wort Gottes ist an die Stelle von Aposteln und Propheten getreten. - Die Evangelisten haben ihr Arbeitsfeld in der Welt, um aus ihr diejenigen herauszuziehen, die Gott der Versammlung hinzufügt. - Die Hirten haben die Aufgabe, die passende geistliche Nahrung zu geben. Sie wachen über die Herde, die von der Welt und von Satan ständig bedroht wird. - Die Lehrer stellen die Wahrheit in gesunder und klarer Weise heraus.3)

Im 12. Kapitel des ersten Briefes an die Korinther, welches in besonderer Weise die unumschränkte Autorität des Heiligen Geistes bei der Austeilung der Gaben hervorhebt, wird gesagt, dass Gott einige in der Versammlung gesetzt hat: „erstens Apostel, zweitens Propheten, drittens Lehrer, dann Wunderkräfte, dann Gnadengaben der Heilungen, Hilfeleistungen, Regierungen, Arten von Sprachen“ (Vers 28). Wenn auch die von den Korinthern so hoch geschätzten Gaben der Wunderkräfte und Sprachen, die den Ungläubigen ein Zeichen waren, nicht mehr unter uns vorhanden sind, sind es doch noch viele andere. Was die Apostel und Propheten betrifft, so sagten wir schon, dass das Wort Gottes an ihre Stelle getreten ist. Von Evangelisten ist hier nicht die Rede, denn dieses Kapitel beschäftigt uns mit „geistlichen Gaben“ (Vers 1).

In Römer 12 finden wir nicht nur den Dienst des Wortes, sondern eine Zusammenfassung der christlichen „Dienste“, die alle Gnadengaben genannt werden. Der Apostel beginnt mit der Weissagung, die nur etlichen gegeben ist, und schließt mit dem Dienst der Barmherzigkeit, dem sich gewiss keiner der Gläubigen, ob Bruder oder Schwester, entziehen dürfte. Ein jeder hat empfangen, und jeder wird ermahnt, zu geben. Aber zugleich - wird jedem gesagt, „dass er besonnen sei, wie Gott einem jeden das Maß des Glaubens zugeteilt hat“ (Vers 3), damit der ganze Leib in völliger Harmonie lebe.

Gemäß 1. Petrus 4,10.11 wird „die mannigfaltige Gnade“ einem „jeden“ zugeteilt, um damit als „gute Verwalter“ einander zu dienen. „Wenn jemand redet, so rede er als Aussprüche Gottes“. Hier haben wir offenbar in erster Linie an den Dienst am Wort zu denken nach Epheser 4,12: „...für die Auferbauung des Leibes des Christus“. Doch mahnt uns die Stelle nicht auch, mit unseren Worten besonnen und vorsichtig zu sein und daran zu denken, dass geschrieben steht: „Ich sage euch aber: Von jedem unnützen Wort, das die Menschen reden werden, werden sie Rechenschaft geben am Tag des Gerichts“ (Mt 12,36)? „Wenn jemand dient, so sei es als aus der Kraft, die Gott darreicht.“ Hier kommen wohl Dienste der Liebe und der Barmherzigkeit in Betracht, mit denen alle, Schwestern wie Brüder, einander in herzlicher Liebe begegnen und füreinander eintreten sollen.

Solche Belehrungen des Wortes Gottes dürfen für uns keine theoretischen Betrachtungen bleiben. Ihre Tragweite in der praktischen Anwendung geht außerordentlich weit.

Es besteht eine große Verschiedenheit unter den Gaben. Wir sind geneigt, solche am meisten zu werten, die besonders hervortreten, vor allem bei dem Dienst am Wort. Wir wertschätzen diesen Dienst oft genug nach dem Maß, wie er die Zuhörer fesselt. Doch bedenken wir: Der Diener am Wort sollte nur ein „Kanal“ sein, der den Segen des Geistes Gottes der Versammlung vermittelt. Der Barmherzige mag ein „Heim der Liebe“ sein, und der, der in der Stille in treuer Fürbitte vor Gott steht, mag nicht den am wenigsten bewerteten Dienst in der Versammlung ausüben.

Diese mannigfachen Gnadengaben und Aufgaben für „das Werk des Dienstes“ verleihen nicht eine öffentliche Befugnis oder ein Amt, sie legen vielmehr dem, der sie empfangen hat, eine große Verantwortung auf. Er ist ein Diener nach Christi Vorbild. Möchte wohl jemand mehr sein als sein Meister? „Was hast du, das du nicht empfangen hast?“ (1. Kor 4,7b). Auch der, „der da vorsteht“ (Rö 12,8), ist nicht ein Führer in dem Sinn, wie man es allgemein unter Menschen versteht; sondern er ist wie seine Brüder, jedoch an eine besonders verantwortliche Stelle gesetzt. Für jeden, der eine Gabe empfangen hat, die ihn in den Vordergrund rückt, besonders die Gabe der Wortverkündigung, besteht die Gefahr, dass er sich erhebt und die Seelen bewusst oder unbewusst, an sich fesselt und so vom Herrn abwendet. Auf der anderen Seite ist die Gefahr für die übrigen nicht weniger groß, sich auf einige wenige begabte Brüder zu verlassen und infolge der Gewöhnung an ihren Dienst selbst untätig zu bleiben. Das könnte unbemerkt der Anlass zur Bildung einer „Geistlichkeit“ werden.

Jeder, der eine Gnadengabe hat, sollte sich dessen bewusst sein, was er vom Herrn empfangen hat, und Ihm darin in Abhängigkeit vom Heiligen Geist gehorsam dienen. Damit der ganze Leib wachse und gesund bleibe, muss jedes Glied das seinige beitragen, nicht zu viel und nicht zu wenig, wie uns in 1. Korinther 12 gesagt wird. Wir sind Glieder voneinander und sollten für das gemeinsame Wohl, nicht aber etwa zur eigenen Genugtuung, eifern nach den größeren Gnadengaben (Vers 31). Doch vor uns öffnet sich „ein noch weit vortrefflicherer Weg“, nämlich der Weg der Liebe. Lies 1. Korinther 13!

Mit Freude dürfen wir daran denken, dass der Herr es ist, der für die Bedürfnisse der Versammlung, die Er liebt, alles darreicht. Er wird nicht aufhören, sie mit den notwendigen Gaben zu versehen. Aber wie werden sie angewandt, und wie wird ihre Ausübung von denen anerkannt, für die sie gegeben sind? Bei dem gegenwärtigen Stand der Dinge gehen viele vorhandene Gaben verloren, weil sie nicht ausgenutzt werden. Deshalb die Ermahnungen in Römer 12! Lasst uns also wirken entsprechend der Gabe, die uns gegeben ist. Wenn wir dies nicht tun, welch ein Verlust wird es für alle sein! Der gegenwärtige Zustand der Versammlung offenbart nicht das Fehlen der Gaben, sondern deren Vernachlässigung und schlechte Anwendung. Timotheus wird ermahnt, „die Gnadengabe Gottes anzufachen“, die in ihm war (2. Tim 1,6), und dem Archippus wird gesagt: „Sieh auf den Dienst, den du im Herrn empfangen hast“ (Kol 4,17). Der Herr kann zu uns allen sagen: Was habt ihr gemacht mit dem, was ich euch gegeben habe?

Fern sei uns der Gedanke, dass alle von Gott gewirkten Gaben der heutigen Zeit sich allein bei den Brüdern fänden, mit denen wir uns versammeln; und wir maßen uns niemals an, zu wissen, wo die Gaben alle sind! Aber möge doch unter uns kein anderer Dienst ausgeübt werden als der, der durch den Heiligen Geist hervorgerufen wird; und möge jeder Dienende in der Abhängigkeit von Ihm handeln, je nachdem er etwas vom Herrn empfangen hat!

Die Ämter

4Das Neue Testament spricht des weiteren von Brüdern, die berufen sind, sich mit den Angelegenheiten der örtlichen Versammlung zu beschäftigen, nämlich als „Älteste“ oder „Aufseher“ und als „Diener“ (Apg 11,30; 14,23; 20,17 und 28; Phil 1,1; 1. Tim 3; Titus 1; 1. Pet 5,1; Jak 5,14; Heb 13,17). Diese Ämter, wie man sie nennt, schließen nicht die Gabe des Dienstes am Wort aus, wie wir bei Stephanus und Philippus sehen; doch sind sie nicht unbedingt damit verbunden. Die Ordnung in der Versammlung muss aufrecht erhalten werden, die Unordentlichen müssen zurechtgewiesen, die Seelen müssen gepflegt und ermuntert werden. Auch ist es nötig, dass treue Männer und Frauen (Phöbe war eine Dienerin der Versammlung in Kenchreä) sich mit Hingabe der irdischen Bedürfnisse annehmen, die alle, selbst die geringsten, von Wichtigkeit sind. Die gemäß Apostelgeschichte 6 eingesetzten Diener beschäftigten sich mit den Armen und teilten die Speisen aus. Möchten sich doch Gläubige finden, die nach einem solchen Amt trachten! Das heißt „ein schönes Werk begehren“ (1. Tim 3,1).

Die für das eine oder andere Amt notwendigen Voraussetzungen und Eigenschaften zählt Paulus in seinem 1. Brief an Timotheus, Kapitel 3, und in dem Brief an Titus, Kapitel 1, Verse 7-9 auf. Sie erfordern fest gegründete Christen, erfahren und gottesfürchtig. Der Mangel an solchen Eigenschaften macht sich in unseren Tagen peinlich im Leben der örtlichen Versammlungen fühlbar, so dass es an Aufsehern und Dienern fehlt. Wenn diese aber vorhanden sind, so lasst uns sie anerkennen und ehren! (1. Tim 5,17 und Heb 13,17).

Aber noch einmal sei betont, dass das Wort keine Anweisung für eine öffentliche satzungsgemäße Einsetzung in diese Ämter gibt.  „…in welcher der Heilige Geist euch als Aufseher gesetzt hat“, sagt Paulus zu den Ältesten von Ephesus (Apg 20,28). Die Kirchengeschichte zeigt, wie sich die Ältesten (presbyteroi, Priester) oder Aufseher (episkopoi, Bischöfe) und die Diener (diakonoi, Diakonen) nach und nach von den übrigen Gläubigen abgesondert und so den Klerus, die Geistlichkeit, gebildet haben. In der katholischen Kirche betrachten sie sich selbst und werden betrachtet als die einzigen, denen Gaben gegeben sind und die mit einem Dienst betraut werden können, sei es Lehre oder Gottesdienst oder irgendein sonstiger Dienst. Als eine abgesonderte Körperschaft halten sie sich allein für berechtigt, neue Priester anzustellen, und zwar nur aus ihren eigenen Reihen, indem sie vorgeben, diese Gewalt von den Aposteln in einer nicht unterbrochenen Nachfolge erhalten zu haben. Man braucht nur das Neue Testament zu lesen, um festzustellen, dass keine dieser Behauptungen in der Schrift gegründet ist, und dass sie alle in Widerspruch stehen zu der Machtvollkommenheit des Heiligen Geistes in der Versammlung. Anderwärts, in den meisten protestantischen Kirchen und Benennungen, bilden die „Ältesten“ und „Aufseher“, worunter auch Prediger und Bischöfe zu verstehen sind, zwar genau genommen, nicht eine gleich straff organisierte Geistlichkeit, doch sind sie eine öffentliche, von der Gemeinde gewählte Körperschaft. Auch das ist nicht in Übereinstimmung mit der Schrift. Denn als bei der Anstellung der sieben Diener in Apostelgeschichte 6 die Menge der Jünger sich umsah nach sieben Männern und diese vor die Apostel stellte (Verse 3 und 6), waren es die Apostel, die sie auf Grund ihrer unübertragbaren Apostelschaft bestellten. In der Tat gibt es heute auf der Erde keine menschliche Autorität, die zuständig wäre, Älteste oder Diener anzustellen; und wir erinnern nochmals daran: Der Herr gibt die Gaben und der Heilige Geist teilt sie aus.

Freiheit und Abhängigkeit

Wir müssen aber unbedingt darauf bestehen, dass das Fehlen einer Geistlichkeit und eines öffentlich anerkannten Amtes keineswegs eine gewisse religiöse Demokratie bedeutet, in welcher jedem Mitglied alle Rechte zuständen. Niemand hat Rechte über seine Brüder, vielmehr hat jeder Pflichten, wie der Herr sie ihm auferlegt. Es geht darum, dem Heiligen Geist freie Wirksamkeit zu lassen, damit jeder Teil des gesamten Organismus' zum Wohle der Gesamtheit und nach dem Willen Gottes tätig sein kann. Die religiösen „Systeme“ können sich ein Zusammenkommen ohne eingesetzte Leiter und ohne genau festgelegte Gottesdienstordnung nicht denken, weil die wirkliche Anwesenheit des Heiligen Geistes in der Versammlung nicht verstanden wird. Aber könnten wohl Menschen, und wenn es die bestgesinnten wären, weiser und mächtiger sein, als der Heilige Geist?

Doch hüten wir uns wohl, dass wir, unter dem Vorwand von jeder menschlichen Herrschaft und Leitung frei zu sein, in Unabhängigkeit gegenüber dem Heiligen Geist handeln, von dem der Herr sagt: „denn von dem Meinen wird er empfangen und euch verkündigen“ (Joh 16,14; vgl.  auch Joh 14,26), und der die Herzen und die Gewissen in die Gegenwart Christi bringt, Denn ohne den Heiligen Geist könnte die Versammlung nicht bestehen. Wenn Er in der Versammlung betrübt oder sogar ausgelöscht wird (1. Thes 5,19), verliert sie ihren Charakter.

Eine „Gnadengabe“ braucht nicht, um in Tätigkeit zu treten, auf die Zustimmung der Versammlung zu warten. Diese erkennt die Gabe an, wenn sie daran, dass die Gabe zur Auferbauung dient, erkennt, dass sie von Gott ist. (Vgl. 1. Kor 14,29; 1. Thes 5,19.21; 1. Joh 2, 20 und 4, 1.) Gott wird die Fähigkeiten je nach den Bedürfnissen, die Er allein kennt, schenken. Eine Gnadengabe ist von Menschen völlig unabhängig. Wohl versichert sich der „Evangelist“, „Hirte“ oder „Lehrer“ der Zustimmung der örtlichen Versammlung sowie der übrigen Brüder im Werke des Herrn und rechnet mit ihrer Fürbitte.

Leider ist das Fleisch geneigt, sich selbst Geltung zu verschaffen. Menschen können sich einen Dienst anmaßen, ohne dazu berufen zu sein; anderseits mögen sie eine Gabe wirklich besitzen, sie aber entweder gar nicht oder zur unrechten Zeit gebrauchen; oder sie gehen über das ihnen bestimmte Maß hinaus. Welcher Schaden wird der Versammlung Gottes durch unsere unaufhörlichen Fehler zugefügt! Wenn wir mehr mit uns selbst als mit Christus beschäftigt sind, halten wir oft mit der empfangenen Gabe zurück - denn viele Brüder, die die Versammlung erbauen könnten, tun niemals den Mund auf. Aus demselben Grund werden manchmal, wenn es sich um den Dienst der Wortverkündigung handelt, zu lange Vorträge gehalten, die die Zuhörer ermüden, anstatt dass man kürzer, umso mehr aber zur Erbauung redet. Mit Traurigkeit muss gesagt werden, dass es manchmal so zugeht, als ob das charakteristische Merkmal der Versammlungen - ohne menschlichen Vorsitzenden darin bestände, dass jeder das Recht hätte, sich nach Belieben zu betätigen. Nichts aber widerspricht dem Wort Gottes mehr als das, und es zeigt deutlich, wie vollständig das Wesen der Versammlung Gottes, die Rechte des Herrn und die Stellung des Heiligen Geistes missverstanden sind.

Die Kenntnis der Heiligen Schrift, die Fähigkeit, sie anderen aufzuschließen, und nüchterne Besonnenheit sind zum wenigsten notwendig. Diese sind sozusagen der sichtbare Beweis der „Gabe“. Aber wer eine solche Gabe hat, wird sie niemals ohne Sorgfalt und Abhängigkeit, ohne Liebe zu Christus und zu den Seinen zum Nutzen der Versammlung gebrauchen können. Denn weder Beredsamkeit noch Bildung, noch menschliche Wissenschaft machen eine Gabe aus; und wer sich klar oder auch fließend ausdrücken kann, ist nicht deshalb zum Dienst berufen. Doch wenn ein Gläubiger vom Herrn solche Fähigkeiten empfangen hat, sollte er sich fragen, wozu er sie empfangen hat, und ob er nicht gut daran tue, sie für Ihn, anstatt für die Welt, zu benutzen. Die menschlichen Fähigkeiten machen an sich nichts für die Wahrheit Gottes aus, es sei denn, der Heilige Geist kann sich ihrer bei denen, die Er beruft, bedienen. Die, welche die Neigung haben, sich vorzudrängen, müssen wohl achtgeben, dass sie nicht „eine Mauer einreißen“ (Pred 10,8); denn der Gott des Maßes hat ihrem Wirkungskreis ein Maß zugeteilt (2. Kor 10,13). Wenn andere dagegen schüchtern sind, ist es gut, sie zu ermahnen, dass sie sich nicht zurückhalten lassen, wenn sie sich zu einem Dienst vom Geist Gottes gedrängt fühlen, sondern dass sie sich zu dienen beeifern mit „viel Freimütigkeit im Glauben, der in Christus Jesus ist“ (1. Tim 3,13), von welcher in der Apostelgeschichte so häufig die Rede ist. Möchte doch niemand nach Anerkennung und Beifall von Seiten der Menschen trachten, sondern sich bemühen, dem Herrn allein zu gefallen, die Gemeinschaft der Heiligen begehren und willig eine gesunde Kritik annehmen, die daran erkennbar ist, dass sie durch den Gehorsam gegen das Wort und durch Liebe abgegeben wird.5)

Der Dienst der Frauen

Der Dienst der Frauen ist an seinem richtigen Platz äußerst kostbar; sei es zur Belehrung der Kinder in den Familien oder in Unterredungen mit einzelnen Gläubigen - wie Priscilla gemeinsam mit Aquila den Apollos belehrte oder wie die vier Töchter des Philippus weissagten -, oder sei es in allen den Diensten, wie derjenige der Phöbe, „einer Dienerin der Versammlung in Kenchreä“ , in welchen die Frau unersetzlich ist: Gastfreundschaft, Krankenpflege und vieles andere. Aber wenn es sich um den öffentlichen Dienst der Wortverkündigung in der Versammlung handelt, ist die Belehrung der Schrift so klar und entschieden, dass es genügt, sie anzuführen: „Eure Frauen sollen schweigen in den Versammlungen, denn es ist ihnen nicht erlaubt zu reden... denn es ist schändlich für eine Frau, in der Versammlung zu reden“ (1. Kor 14,34 und 35) …„Ich erlaube aber einer Frau nicht zu lehren... sondern still zu sein“ (1. Tim 2,12). Dies ist nicht eine Frage der Fähigkeit oder der Erkenntnis oder der Hingabe, sondern es handelt sich einfach darum, den Herrn in der Versammlung zu ehren, indem man die gottgewollte Ordnung beobachtet.

Die gleiche Stellung, die alle Kinder Gottes als Priester einnehmen, bedeutet also nicht Gleichförmigkeit. Das „allgemeine Priestertum der Gläubigen“ hat von Gott gegebene Einschränkungen; wir können daher den Dienst nicht nach unserem menschlichen Ermessen ausüben. „Es sind Verschiedenheiten von Gnadengaben, aber derselbe Geist“ (1. Kor 12,4). 

Fußnoten

  • 1 Anmerkung des Übersetzers: Vergleiche zu diesem Abschnitt die Be­trachtung von J. N. D. über 2. Tim 2,2.
  • 2 Die Heilige Schrift setzt oft die „Gabe“ und den, dem sie verliehen ist, gleich (Epheser 4,8 und 11).
  • 3 Es ist nützlich, an dieser Stelle die Aufmerksamkeit auf die Mittel zur Auferbauung zu lenken, die Gott uns gegeben hat in den Schriften der Brüder, die selbstverständlich nicht inspiriert sind wie das Wort Gottes, worin uns aber der Dienst der Brüder aufbewahrt ist, - die von Gott be­gnadigte Lehrer waren, um das Wort im Blick auf das gegenwärtige Zeug­nis anzuwenden und „recht zu teilen“. Sie haben darin nicht ihre eigenen Gedanken niedergelegt, sondern das, was der Herr für unsere Zeit durch die wieder ans Licht gebrachten Wahrheiten Seines Wortes mitzuteilen hatte. Man wendet sich leider allzu sehr von dieser kräftigen Nahrung ab, die durch einen Dienst nach den Gedanken Gottes dargeboten wurde. Das Lesen dieses schriftlichen Dienstes, der von unschätzbarem Wert ist, zu vernachlässigen, ist ein großer Verlust.
  • 4 Anmerkung des Übersetzers: In der Schrift „Gaben und Ämter in der Versammlung (Gemeinde) Gottes von J. N. D.“ wird der Unterschied, den die Schrift zwischen Gaben und Ämtern macht, sehr anschaulich und aus­führlich dargestellt. Es empfiehlt sich, diese Schrift, wenn möglich, in Ver­bindung hiermit zu lesen.
  • 5 Unter den vielen Schriften, die über den „Dienst“ in der Versammlung handeln, greifen wir die Schrift „Fünf Briefe über die Anbetung und den Dienst des Geistes“ von W. T. heraus, wo in der Zusammenfassung des Vorwortes gesagt wird: „Was uns not tut, ist Ausharren, Glaube an den lebendigen Gott, Liebe zu Christus, wahre Unterwürfigkeit unter den Geist, sorgfältiges Studieren des Wortes und aufrichtige Unterwürfigkeit unterein­ander in der Furcht des Herrn.“
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