Christus vor Augen

Vers 3-8: Dank und Gebet des Apostels

Bereits in Vers 3 merken wir, dass wir im Kolosserbrief nicht das hohe geistliche Niveau des Epheserbriefs finden. Dort kann der Apostel sofort anfangen: „Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus …“, und er entwickelt dann den herrlichen Ratschluss Gottes in Bezug auf die Gläubigen der Gnadenzeit. Erst später geht er auf den persönlichen Zustand der Epheser ein.

Vers 3: Danken und Beten

Die Kolosser brauchten etwas anderes. Daher beginnt der Apostel mit einem Dankgebet und mit Bitten, die sich auf ihren Zustand beziehen. Sein Dankgebet richtet Paulus an den „Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus“. Ich habe als junger Mann ein kleines Büchlein gehabt. Darin war für jeden Tag im Jahr ein Name Gottes vermerkt – also 365. So viele Namen Gottes und sogar noch mehr gibt es in der Bibel. Herr Zebaoth, Herr der Heerscharen, Jehova (Jahwe), usw. Aber der schönste und höchste Name ist der, den wir hier in Vers 3 finden: „Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus.“

Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs

Warum ist dieser Name so besonders wertvoll? Als Mose von Gott zu den Kindern Israel gesandt wird (2. Mo 3), sagt er in etwa: „Wer bist Du, was soll ich denn meinen Leuten sagen, wer Du bist?“ Darauf antwortet ihm Gott: „Sage ihnen: Ich bin der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs.“ Ich habe oft gedacht: Das ist etwas Gewaltiges. Stellt euch einmal vor, Er würde sagen: „Ich bin der Gott von Christian Briem.“ Das würde ich nicht verstehen. Von solch einem irrenden Menschen sagt Er das? Natürlich, Abraham war ohne Zweifel viel größer, er war ein großer Mann, ein Patriarch. Abraham hatte unmittelbar mit Gott gesprochen, und Gott mit ihm, und zwar von Angesicht zu Angesicht. Und dennoch war auch Abraham von Natur ein sündiger Mensch. Trotzdem sagt Gott: „Ich bin der Gott Abrahams“ – das ist großartig!

Isaak hatte schon nicht mehr den hohen Stand wie Abraham, er stand in geistlicher Hinsicht bereits eine Stufe niedriger. Und Jakob erst recht – er war ein Überlister. Dennoch nennt sich Gott auch der Gott Jakobs. Ist das nicht Gnade? Aber Gott hatte mehr vor, als nur seine Gnade zu zeigen. Er wollte nämlich, wenn Er sich als der „Gott Abrahams“ offenbart, etwas Besonderes von sich zeigen; und das gilt auch, wenn Er sich als „Gott Isaaks“ vorstellt.

Jemand stellte mir vor vielen Jahren die Frage: „Wenn Gott sich der Gott Abrahams nennt, ist das doch ein Bild von Gott, dem Vater?!“ Ich sagte: „Ja, das glaube ich.“ „Und dass Er sich Gott Isaaks nennt, das ist doch ein Bild vom Sohn Gottes?!“ „Ja, auch das glaube ich.“

Dann sagte er: „Und wie ist es jetzt mit Jakob? Der Gott Jakobs: Das müsste doch eigentlich ein Bild vom Heiligen Geist sein?!“ Erst einige Zeit später wurde mir klar: Ja, Gott als „Gott Jakobs“ weist auf den Heiligen Geist hin. Dabei steht nicht die Person des Heiligen Geistes im Vordergrund, sondern seine Wirksamkeit. In Jakob wird uns ein Bild von der umgestaltenden Kraft des Heiligen Geistes im Leben des Gläubigen gegeben. Kann man diese deutlicher sehen als in Jakob? Gott machte aus ihm, dem Überlister, „Israel“, den Kämpfer Gottes.

Der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus

Wir haben in diesem wunderschönen Ausdruck „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ ein Beispiel davon, wie Gott sich im Alten Testament offenbart hat, wenn auch nur bruchstückartig. Aber sein Titel als „Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus“ geht viel weiter. Gott hat in dem Herrn Jesus, seinem Sohn auf der Erde, eine Person gefunden, in der Er sich völlig offenbaren konnte. Keiner von uns kann wohl ganz erfassen, was das für Gott war und heute noch ist, in einem Menschen auf der Erde alle Züge von sich selbst wiederzufinden – eine vollkommene Entsprechung zu haben.

Der „Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus“ bedeutet schlicht: Gott hat sich in Vollkommenheit in dem Herrn Jesus offenbart. Ich weiß nicht, ob wir in unseren Studien und Andachten, im Nachsinnen über göttliche Dinge, diesen Gedanken überhaupt einmal vor unserem Herzen haben. Im Allgemeinen sind wir mehr mit uns beschäftigt, mit unseren Segnungen, und das ist ja an sich auch recht. Aber viel erhabener ist das, was der Herr Jesus als Mensch für das Herz seines Vaters war und ist.

Ich bemerke an dieser Stelle nur noch, dass der Ausdruck „Gott und Vater“ zwei Beziehungen ausdrückt. „Gott unseres Herrn Jesus Christus“ kann nur bedeuten, dass der Herr Jesus Mensch ist. Nur als Mensch konnte der Herr Jesus von seinem Gott „Mein Gott“ sagen. Innerhalb der Gottheit kann Gott nicht zu Gott sagen: „Mein Gott“. Das ist undenkbar! Aber wenn der Herr Jesus am Kreuz hängt und dann in den drei Stunden der Finsternis ausruft: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, dann redet Er eben nicht als Gott zu Ihm, sondern als Mensch.

Es fällt auf, dass der Herr Jesus, so weit uns berichtet wird, Gott nur zweimal mit „Mein Gott“ anspricht. Das erste Mal geschah es, wie soeben bemerkt, als der Herr am Kreuz hing (Mt 27,46). Die zweite Gelegenheit finden wir in Johannes 20 nach der Auferstehung des Herrn, als Er zu Maria sagte: „Gehe aber hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater, und meinem Gott und eurem Gott“ (Joh 20,18).

Wenn wir den Herrn Jesus in seinem göttlichen und menschlichen Wesen auch nicht zerteilen und analysieren dürfen, so müssen wir doch unterscheiden. Wenn Christus sagt: „Mein Vater“, oder wenn es heißt: „Vater unseres Herrn Jesus Christus“, dann wird uns die ewige Beziehung gezeigt, die der Sohn schon immer zu seinem Vater besaß. Es ist eine Beziehung zum Vater, die wir als Geschöpfe geschenkt bekommen haben. Im Fall des Herrn Jesus aber ist es eine wesenseigene Beziehung, die Ihm seit Ewigkeit gehört.

Der Herr Jesus sagt übrigens nie von sich und uns: „Unser Gott und Vater“. Das wird der Herr Jesus auch in Zukunft nie tun. Wir können wohl als Glieder der Familie Gottes sagen: Er ist unser Gott und Vater. Wir können aber nicht vom Herrn Jesus und uns sagen: Es ist unser (gemeinsamer) Gott und Vater. Nein, der Herr Jesus drückt die Segnung so aus: Mein Vater – euer Vater; mein Gott – euer Gott. Wenn es um die Ehre und die Person des Herrn Jesus geht, müssen wir die höchste Ehrfurcht und Vorsicht walten lassen.

Vers 4: Der Anlass zum Danken

Paulus findet Grund zum Danken. „Wir danken dem Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus allezeit, indem wir für euch beten.“ Was Paulus betet, wird erst ab Vers 9 vorgestellt. Wofür er dankt, sagt er jetzt auch nicht. Was mir aber in dieser Verbindung wichtig erscheint: Es wäre gut, wenn wir durch die Gnade Gottes dahin geleitet werden könnten, nicht nur für uns selbst zu beten, sondern auch für andere.

Das Beten in Übereinstimmung mit den Interessen des Himmels

Wie viel Prozent meiner Gebete beschäftigt sich mit mir, meinem Beruf und meinem Ehepartner? Dies ist absolut nötig, und ich möchte es auch nicht abschwächen. Aber wie viel beten wir für unsere Geschwister? Ich denke hier eben nicht nur an die Kranken. Es gibt Dinge, die das Werk des Herrn betreffen, die in ihrer Bedeutung einen anderen Stellenwert haben als das Gebet für Kranke, so berechtigt dieses ist. Manche Gebetsstunden sind geprägt vom Beten für Kranke. Das ist schade! Paulus lässt Trophimus krank zurück (2. Tim 4,20), aber er sagt nicht ein einziges Mal: „Bitte betet für ihn!“ Natürlich dürfen und sollen wir für Kranke beten, aber es gibt Dinge, welche die Ehre des Herrn betreffen und von höherer Bedeutung sind.

Sind wir in der Lage, uns mit den Interessen des Himmels einszumachen und für Menschen auf der Erde zu beten und zu danken, welche die Gegenstände des Interesses Gottes sind? Ich glaube, dass „danken“ noch schwerer ist als „beten“. Dank zu sagen für etwas, was Gott in anderen gewirkt hat, bedarf großer Gnade und einer gewissen Selbstverleugnung. Dann nimmt man sich selbst nicht so wichtig, sondern freut sich über das, was Gott in anderen tun kann.

Paulus war ein vorbildlicher Beter. Und da gab es noch einen: den treuen Diener Epaphras. Von ihm heißt es in Kapitel 4,12, dass er für sie in den Gebeten rang. Er war ein Mann, der nicht an sich selbst dachte. In diesem Punkt war ihm Timotheus sehr ähnlich (Phil 2,20-22). Epaphras hatte vielleicht keine großen Gaben, aber er setzte sich für die Gläubigen ein, identifizierte sich mit ihnen und betete für sie.

Glaube und Liebe der Kolosser

„Nachdem wir gehört haben von eurem Glauben an Christus Jesus und der Liebe, die ihr zu allen Heiligen habt.“ Ich möchte den Glauben und die Liebe mit einem Punkt und mit einem Kreis vergleichen. Der Glaube an den Herrn Jesus ist der Mittelpunkt, und die Liebe zu allen Heiligen ist der Kreis. Mich erfreut der Gedanke, dass wir mit dem richtigen Mittelpunkt auch den richtigen Kreis oder Umfang haben. Wenn Christus unser Mittelpunkt ist, haben wir keinen eingeschränkten Blickwinkel, was die Gläubigen angeht.

Wenn uns der Glaube an den Herrn Jesus beherrscht, wenn das der Mittelpunkt unseres Denkens und ganzen Seins ist, werden wir auch den richtigen Umfang in Übereinstimmung mit Gottes Blickfeld haben: nämlich die Liebe zu allen Heiligen. Nur zu denen, die uns sympathisch sind oder mit denen wir in der Frage des Brotbrechens, des kirchlichen Weges, übereinstimmen? Nein! Es geht um die Liebe zu allen Heiligen. Das ist der Umfang, von dem Gott spricht. Die Liebe mag sich unterschiedlich äußern, sie soll aber zu allen Gläubigen vorhanden sein.

Die verschiedenen Arten des Glaubens

Was meint Paulus, wenn er von dem Glauben „an [wörtlich: in] Christus Jesus“ spricht? Wir haben in der Schrift verschiedene Ausdrucksformen, wenn es um den Glauben geht. Zum Beispiel Johannes 14,1: „Ihr glaubt an Gott, glaubt auch an mich.“ Hier ist der Glaube an eine Person als Gegenstand des Glaubens gemeint – an eine Person, die unendlich weit über der Person des Glaubenden steht. Ich könnte in diesem Sinn zu niemand sagen: Glaubt doch an mich! Das kann kein Mensch sagen. Der Glaube an jemand macht diese Person zum Inhalt meines Glaubens, meines Vertrauens.

Dann gibt es noch den Blickwinkel, dass sich der Glaube auf etwas oder auf jemand stützt oder gründet. Diese Ausdrucksform der Glaubens findet sich oft in der Apostelgeschichte. Meist geht es um den Glauben aufgrund des Namens des Herrn. Gemeint ist ein praktisches Glaubensvertrauen, indem man sein Haus auf einen Felsen setzt, darauf vertraut und darauf baut.

Schließlich wird noch „glauben“ mit dem dritten Fall (Dativ) verbunden: jemandem glauben. Nicht so sehr die Person ist dann der Inhalt des Glaubens, sondern es sind die Worte, die jemand gesagt hat. Man glaubt deshalb, weil man Vertrauen zu demjenigen hat, der etwas gesagt hat: Wir haben Vertrauen zu Gott; daher glauben wir das, was Er gesagt hat. Diese Sichtweise finden wir besonders im Johannesevangelium. „Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat …“ Jemandem Glauben zu schenken bedeutet, sein Wort für wahr zu halten.

In Kolosser 1,4 wird jedoch eine Form benutzt, die uns in der deutschen Sprache eigentlich fremd ist: glauben in Christus Jesus. Das ist kein Wortspiel und auch keine Übertreibung. Wenn der Heilige Geist das so ausdrückt, meint Er etwas anderes, als wenn Er sagt: glauben an den Herrn Jesus. Ich ziehe aus den verschiedenen Stellen, die vom „Glauben in“ sprechen, den Schluss, dass „glauben in Christus Jesus“ bedeutet, die Wahrheit des Wesens dieser Person zu erkennen. Auch in Markus 1,15 heißt es: „Glaubt an [wörtlich: in] das Evangelium.“ Sie sollten das Wesen des Evangeliums oder die Wahrheit des Evangeliums glaubend erfassen; das, was es dem Wesen nach ist, sollten sie erfassen. Man könnte auch sagen: „glauben in“ bezieht sich auf den Bereich, in dem sich der Glaube bewegt.

Das ist für uns ein sehr schöner Gedanke. Wir glauben in den Herrn Jesus. Der Herr Jesus – Er und alles, was mit Ihm und seiner Person und seinem Werk zusammenhängt – ist der Bereich, in dem sich unser Glaube bewegen darf. In diesem Sinn heißt es viermal in den Timotheusbriefen von dem Glauben, der „in Christus Jesus ist“ (vgl. 1. Tim 1,14; 3,13; 2. Tim 1,13; 3,15). Das ist der Glaube, der in Christus ruht, in der Person und in dem Werk unseres Herrn.

Davon waren die Kolosser erfüllt. Paulus hatte das gehört, wahrscheinlich durch Epaphras, denn er selbst war ja in Rom. Epaphras hatte ihn in Rom besucht und ihm Kunde gebracht von den Geschwistern, die der Apostel nicht persönlich kannte. So hatte Paulus gehört von dem Glauben „in“ Christus Jesus und der Liebe, die sie „zu“ allen Heiligen hatten.

Die Liebe

Die „Liebe zu allen Heiligen“ ist nicht deswegen so wichtig und richtig, weil die Gläubigen alle so lieb oder liebenswert wären, sondern weil sie dasselbe Leben haben wie ich – wie wir alle. Das ist jetzt „johannitisch“, denn es stellt an sich mehr die Aufgabe von Johannes dar, dies zu betonen. Er sagt in seinem ersten Brief (Kapitel 3,14), dass wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben übergegangen sind, „weil wir die Brüder lieben“ – nicht, weil wir an den Herrn Jesus glauben. Die Liebe zu der Brüderschaft ist ein direktes Merkmal davon, dass wir von Neuem geboren sind, dass wir aus dem Bereich der Finsternis in den Bereich des Lichts gekommen sind.

Es ist also die Liebe zu Brüdern, weil sie Brüder sind, nicht weil sie so gut, treu oder liebenswürdig sind, die hier als Beweis des Lebens genannt wird. Müssen wir uns da nicht schämen? Ich glaube, dass wir die Brüder nur dann lieben können, auch mit ihren Schwächen, wenn wir den Herrn Jesus lieben. Wir können die Brüder, gerade solche, die wir gut kennen, nicht wirklich lieben, wenn nicht die Person des Herrn Jesus vor unserem Herzen steht. Wenn dies aber zutrifft, lieben wir sie. Und dann lieben wir sie so, wie Gott sie liebt, unabhängig von irgendwelchen Zügen, die uns vielleicht nicht gefallen.

Es ist natürlich auch wahr, dass Gott uns an keiner Stelle auffordert, die Verkehrtheiten unserer Geschwister zu lieben. Er liebt sie schließlich auch nicht. Aber Er möchte, dass wir die Personen als solche lieben – trotz ihrer Verkehrtheiten.

Vers 5: Der Grund des Dankes des Apostels

Jetzt kommt Paulus dazu, uns zu sagen, warum er dankt. Er dankt für etwas, was eigentlich nicht das Ergebnis ihrer Treue war. Er hatte etwas Gutes von den Kolossern gehört, aber sein eigentlicher Dank ist „wegen der Hoffnung, die für euch aufgehoben ist in den Himmeln“. Paulus war so erfüllt mit der Hoffnung des Christen, dass er dafür danken kann, dass diese auch für die Kolosser vorhanden war, auch wenn es für diese Gläubigen ernste Gefahren gab.

Es ist wunderbar, wie Paulus danken kann! Das erinnert an den Brief an die Korinther. Dort dankt er für alles, was Gott ihnen gegeben hat; aber es sind alles Dinge, die nicht ihrer Treue entsprangen, sondern der souveränen Gnade Gottes, die ihnen diese Gaben geschenkt hatte. Hier ist es die Hoffnung, die für die Gläubigen aufgehoben ist in den Himmeln. Es ist ein Gedanke, der auch in 1. Petrus 1,3.4 genannt wird: „Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der nach seiner großen Barmherzigkeit uns wiedergezeugt hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi aus den Toten, zu einem unverweslichen und unbefleckten und unverwelklichen Erbteil, das in den Himmeln aufbewahrt ist für euch.“

Die Hoffnung des Christen wird hier zusammengefasst, ohne dass näher erläutert wird, worin sie konkret besteht. Weder Petrus noch Paulus tun das an diesen Stellen, obwohl der Gedanke im Kolosserbrief etwas weitergeht als im Petrusbrief. Paulus denkt an die Hoffnung, an all das, was den Gläubigen in dem Herrn Jesus sicher war in der himmlischen Herrlichkeit. Das wurde dort für sie aufgehoben. Die Hoffnung selbst fand aber ihren Nährboden darin, dass Christus „in ihnen“ war (vgl. Kap. 1,27b). Christus war in ihnen, um sein Leben zu offenbaren, und Er war in diesem Sinn die Hoffnung der Herrlichkeit. Es ist noch bemerkenswert, dass Paulus hier das „Dreigestirn“ wahren Christentums aufgreift, das wir an einer Reihe von Stellen im Neuen Testament wiederfinden: Glaube – Liebe – Hoffnung.

Wir in Christus – Christus in uns

Ich möchte noch einen kleinen Ausdruck erläutern, dessen Verständnis uns an manchen Stellen weiterhilft. Wenn in der Schrift davon die Rede ist, dass wir in Christus sind, oder dass Christus in Gott, in dem Vater ist (z. B. in Joh 17), dann redet das von einer Stellung. In unserem Fall weist es auf eine geschenkte Stellung hin. Im Fall des Herrn Jesus handelt es sich um eine wesenseigene Stellung. Aber es ist eine Stellung. Dass wir „in Christus“ sind, ist eine Stellung, die durch nichts angetastet werden kann – Gott sei Dank!

Wenn es aber heißt: „Christus in uns“, oder Gott in dem Herrn Jesus, in seinem Sohn, dann geht es um Offenbarung. Christus in uns bedeutet, dass Er in uns ist, dass Er uns sein Leben geschenkt hat, um es in uns zu offenbaren. Der Herr Jesus ist nicht mehr hier in dieser Welt, aber wir sind jetzt hier, und Er ist in uns und offenbart sich durch uns.

Die Hoffnung

Ohne Hoffnung kann keiner von uns den Weg durch die Wüste überstehen. Die Hoffnung ist wie ein Motor. Wenn der Motor nicht läuft und keine Kraft gibt, werden wir liegen bleiben. Das geht viel schneller, als wir glauben. Deswegen ist es so wichtig, dass Christus in uns Gestalt gewinnen und Kraft entfalten kann in unserem täglichen Leben. Es geht nicht nur um den Sonntag! Er möchte seine Kraft entfalten gerade am Montagmorgen, dann, wenn es losgeht und knüppeldick kommt – zu Hause, in der Schule, im Beruf. Dann brauchen wir Christus in uns als unsere Kraftquelle.

Diese Hoffnung, dorthin zu kommen, wo Er schon ist, gibt uns Mut weiterzugehen. Ich wüsste nicht, wie einer die Wüste durchschreiten kann, wenn er nicht weiß, welch ein herrliches Ziel auf ihn am Ende wartet. Ein Bruder aus England sprach einmal im Blick auf die Hoffnung und den schweren Weg der Kinder Gottes auf der Erde von einer Kette. Man stelle sich eine Kette vor durch einen Fluss, den Rhein. Sie ist auf der einen Seite festgemacht und liegt am Boden des Flusses und kommt auf der anderen Seite wieder heraus. Wo die Kette liegt, in der Zwischenzeit, sieht nur Gott allein. Hier geht sie auf jeden Fall hinein in den Fluss, und da drüben, das weiß ich genau, da kommt sie wieder heraus. Die Wege mögen undurchschaubar sein, in großen Wassern, und nur Gottes Auge kann sie erkennen. Aber wir wissen doch bei allen Wegen, die Gott mit uns geht: Dort kommt die Kette heraus!

Wir besitzen die Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes schon heute. In Römer 5,2 wird gesagt, dass wir uns in der Hoffnung der Herrlichkeit Gottes rühmen. Das heißt: Wir freuen uns darüber. Sofort im nächsten Vers heißt es dann, dass wir uns auch der Trübsale rühmen. Das kann niemand, der nicht das Ziel kennt. Deswegen sollten wir uns viel beschäftigen mit der Hoffnung, die unantastbar für uns aufbewahrt ist, und mit Dem, welcher der Garant und der Inhalt dieser Hoffnung ist: unserem Herrn Jesus Christus, der als verherrlichter Mensch im Himmel thront.

Das Evangelium

Nun beginnt der Apostel einen neuen Gegenstand. Paulus redet auf einmal vom Evangelium – das ist wunderbar. In Verbindung damit spricht er von vier Dingen:

  1. Die „Hoffnung“ ist Bestandteil des Evangeliums.
  2. Dieses Evangelium ist die absolute Wahrheit.
  3. Das Evangelium ist universal – es ist in der ganzen Welt.
  4. Dieses Evangelium bringt Frucht, wo immer es hinkommt, und es wächst.

Die „Hoffnung“ ist Bestandteil des Evangeliums

Im Allgemeinen sieht man nicht, dass das Evangelium die ganze Stellung und Hoffnung des Christen zum Inhalt hat. Wenn wir in der heutigen Zeit vom „Evangelium“ hören, verstehen wir darunter oft nicht mehr als die gute Botschaft für Ungläubige. Aber das ist zu wenig. Römer 1 zum Beispiel spricht von dem „Evangelium Gottes über seinen Sohn“ (V. 3). Das macht klar, dass das Evangelium weit mehr umfasst. Zudem dürfen wir nicht vergessen, dass Paulus es schon lange auf dem Herzen gehabt hatte, nach Rom zu kommen, um auch den Heiligen dort „das Evangelium zu verkündigen“ (Vers 15). Dabei waren sie längst gläubig geworden.

Das Evangelium im eigentlichen, umfassenden Sinn des Neuen Testamentes stellt uns also den ganzen Umfang der geistlichen Segnungen vor die Seele, die sich auf den Tod und die Auferstehung des Herrn Jesus gründen.

Nebenbei bemerkt ist es nicht exakt, von einer frohen Botschaft zu sprechen. Die Vorsilbe „eu“ des Wortes „Evangelium“ (gr. euangélion) bedeutet nicht „froh“ sondern „gut“. Es ist eine gute Botschaft. Tatsächlich ist es eine gute Botschaft, wenn Gott mir sagt: „Du musst Buße tun!“ Froh ist sie nicht. Denn Buße zu tun ist keine Sache, über die ich mich freue. Niemand kann sich freuen, mit Gott über seine Sünden sprechen zu müssen. Und doch ist es eine gute Sache, denn sie führt zum Erkennen der Wahrheit Gottes, der Güte und Liebe Gottes. Die Kehrseite des Evangeliums ist sehr ernst. Denn wer es nicht annimmt, geht ewig verloren.

Aus Kolosser 1,5 lernen wir, dass es Gottes Wille ist, dass die Hoffnung des Christen Bestandteil der Verkündigung des Evangeliums ist. Daran erkennen wir, dass das Evangelium einen sehr weiten Blickwinkel hat in der Schrift. Wie dankbar konnten die Gläubigen in Kolossä sein, dass sie schon damals, als sie das Evangelium gehört hatten, auch die wunderbare Hoffnung des Christen kennengelernt hatten! Was Paulus ihnen jetzt schrieb, würde indes nichts anderes sein als das, was sie schon kannten. Diese Hoffnung ist eine „bewahrte“ Sache, die für uns in den Himmel „aufgehoben“ ist. Es ist jedoch nicht genug, dass Gott für uns das Erbteil aufbewahrt. Es ist auch nötig, dass wir dorthin kommen, dass wir dafür bewahrt werden – durch Glauben (1. Pet 1,5).

Das Evangelium ist die absolute Wahrheit

Der zweite Gedanke im Blick auf das Evangelium ist, dass es absolut wahr ist. So spricht Paulus von „dem Wort der Wahrheit des Evangeliums“. Die Unveränderlichkeit der Wahrheit dieses Evangeliums kann nicht stärker ausgedrückt werden als durch die Hervorhebung der Person, von der das Evangelium redet. Der Inhalt des Evangeliums ist Gott in seiner Liebe und Heiligkeit (vgl. „Gnade Gottes“ in V. 6) – wir können auch sagen: Christus persönlich. Damit ist das Evangelium eine absolute Größe, es ist unveränderlich. Das ist großartig! In der Welt weicht alles. Es gibt überhaupt nichts Konstantes, es gibt überhaupt nichts, von dem wir noch sagen können: Dies ist absolut zuverlässig. Aber die Botschaft Gottes ist, seitdem Er sie mitgeteilt hat, absolut unverändert. So unverändert, wie Gott unveränderlich ist. Es gibt also schon in dieser Zeit, die selbst flüchtig und von starken Veränderungen geprägt ist, etwas, was ebenso konstant ist wie Gott selbst, nämlich das, was Er gesagt hat.

Der Apostel verbindet hier das Wort der Wahrheit des Evangeliums mit Gott selbst. Dabei war das, was Paulus verkündigte, nichts anderes als das, was die Kolosser schon gehört hatten. Es ist ihm nicht wichtig, welches Werkzeug Gott benutzt. Ich finde es daher nicht glücklich, wenn man die Lehre von Paulus und die von Johannes trennt. Es gibt an sich nur die eine Lehre des Wortes Gottes und auch nur eine Wahrheit, nicht drei Wahrheiten, sondern die Wahrheit. Natürlich ist es nicht falsch, von „Wahrheiten“ zu sprechen, wenn man die unterschiedlichen Seiten der Wahrheit meint. Aber Gottes Wort redet an sich immer nur von einer Wahrheit. Es ist ein Merkmal wirklicher Treue, wenn wir bei dem bleiben, was wir als die Wahrheit erkannt haben. Ein Aufgeben dessen, was man einmal bekannt hat, ist verhängnisvoll. Man verliert das Wesen des Ganzen: die Wahrheit Gottes.

Vers 6: Das Evangelium ist universal – es ist in der ganzen Welt

Ein dritter Punkt, der hier mit dem Evangelium verbunden wird, ist dessen Universalität. Übrigens stehen alle vier Punkte in gewissem Gegensatz zum Gesetz. Das Gesetz war nicht der volle Ausdruck dessen, was Gott ist, sondern nur eine Teiloffenbarung. Es ist nicht die Wahrheit. Aber das Evangelium, das Wort Gottes des Neuen Testamentes, ist die Wahrheit, natürlich verbunden mit dem Alten Testament – sie sind nicht voneinander zu trennen. Aber es ist im universalen Sinn die Botschaft Gottes. Sie richtet sich nicht nur an ein begünstigtes Volk, wie das Alte Testament an das Volk der Juden, sondern das Evangelium ist eine allgemeine Botschaft. Und wenn es hier heißt, „dass zu euch gekommen ist, wie es auch in der ganzen Welt ist“, dann zeigt genau dies die Universalität des Evangeliums.

Wir sehen an dieser Stelle, wie sorgfältig Gott sein Wort eingegeben hat. Er schreibt sein Wort mit viel mehr System als wir wahrnehmen. Ich habe den Eindruck, Er schreibt zuerst von dem, was speziell ist, was typisch für die Kolosser war. Dann schreibt Er etwas, was universal ist, was allgemeingültig ist. Und danach kommt Er wieder auf das Spezielle zurück. Eigentlich heißt es: „Von der (d. h. der Hoffnung) ihr zuvor gehört habt in dem Wort der Wahrheit des Evangeliums, das zu euch gekommen ist, wie es auch in der ganzen Welt fruchtbringend und wachsend ist, wie auch unter euch.“

Wir sehen zuerst, dass dieses Wort der Wahrheit zu ihnen – zu den Kolossern – gekommen war: Das ist speziell. Es ist übrigens eine sehr interessante Ausdrucksweise, denn es heißt hier wörtlich: „Das Wort war zu ihnen gekommen und war jetzt bei ihnen gegenwärtig“; es war also etwas, das sie begleitete. Aber dieses Wort war auch in der ganzen Welt: Das ist universal. Es war zu ihnen persönlich gekommen und hatte seine Botschaft speziell an sie ausgerichtet, aber an sich war es seinem Charakter nach das Evangelium, das universal für die ganze Welt ist.

Später (Vers 23) sagt Paulus dann, dass er ein Diener des Evangeliums sei, „das ihr gehört habt, das gepredigt worden ist in der ganzen Schöpfung, die unter dem Himmel ist, dessen Diener ich, Paulus, geworden bin“. Paulus war ein Diener dieses Evangeliums. Und es wurde gepredigt in der ganzen Welt – das ist der Charakter des Evangeliums und zugleich die Zielsetzung Gottes. Paulus hat danach gehandelt, soweit es ihm persönlich möglich war. Das bedeutet natürlich nicht, dass er in den Wald gegangen wäre, wie Franz von Assisi es gemacht haben soll. Wir wollen über diesen Mann überhaupt nicht herabsetzend reden, aber er hat geglaubt, er müsse entsprechend dieser Schriftstelle in den Wald gehen und müsse den Tieren und den Rehen und den Füchsen das Wort Gottes predigen. Das ist natürlich nicht der Gedanke.

Das Evangelium bringt Frucht und wächst, wo immer es hinkommt

Das Evangelium ist nicht beschränkt auf ein einziges Volk, sondern richtet sich an alle Menschen. Nachdem Paulus das gesagt hat, kommt er wieder auf das Spezielle zurück: „Und ist Frucht bringend und wachsend, wie auch unter euch.“ Das ist der vierte Charakterzug des Evangeliums: Es bringt Frucht, wo immer es hinkommt. Das war in der ganzen Welt so, aber auch ganz konkret bei ihnen in Kolossä.

Dass die Botschaft Gottes heute so universal ist, hat uns vielleicht noch gar nie so richtig beeindruckt und dankbar gemacht. Wir haben uns sehr daran gewöhnt, dass das Evangelium auch in unserem Land verkündigt wird. Viele haben gläubige Eltern und kennen gar nichts anderes, als von Jugend auf vertraut zu sein mit den Gedanken Gottes. Das ist ein großes Vorrecht. Wer wollte das gering schätzen? Aber dass wir gerade in einer Zeit leben, wo sich die Botschaft der Güte Gottes nicht nur auf ein bestimmtes Volk konzentriert, sollte uns dankbar machen. Denn das war nicht immer so.

Die Einschränkung auf ein Volk in dieser Welt muss Gott gleichsam wehgetan und beengt haben. So sagt der Herr Jesus: „Ich habe aber eine Taufe, womit ich getauft werden muss, und wie bin ich beengt, bis sie vollbracht ist!“ (Lk 12,50). Bis zu seinem Tod am Kreuz war Er beengt. Das will nicht sagen, dass Er Angst hatte. Nein, Er ist freiwillig in den Tod gegangen. Er ist gekommen, um hier zu sterben, nicht um hier zu leben. Aber Er war beengt, bis das Werk vollbracht war, denn Er konnte die Güte Gottes vor seinem Kreuz nicht in umfassender Weise allen schenken, die es hören wollten.

In den früheren Jahrtausenden hat Gott gewissermaßen von den Nationen überhaupt keine Kenntnis genommen. Natürlich gab es auch unter den Nationen Gläubige, wie zum Beispiel Hiob, einen der ältesten der Patriarchen. Aber die Nationen als solche standen nicht vor Gottes Augen, wenn es um seine Wege mit den Menschen ging. In dieser Hinsicht hatte Er nur ein Volk ausgewählt: Israel. Aber heute geht die Botschaft an alle Menschen. Wir leben in einer Zeit, in der die Segnungen, die mit dem Aufnehmen der Botschaft verbunden sind, über alle Grenzen menschlichen Verstehens hinausgehen. Das ist wirklich ein Grund zu danken!

Frucht bringen

Jetzt gilt: Wo immer das Evangelium hinkommt, da sammelt es und fügt es durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes Seelen zum Herrn hinzu. Dann kommt auch Frucht hervor. Wo immer es hingelangt, bringt es Frucht. Es bringt nicht immer so Frucht, wie es vielleicht wünschenswert wäre. Der Herr Jesus hat einmal in dem wunderbaren Gleichnis vom Sämann deutlich gemacht, dass der Boden des Herzens des Menschen einer Aufnahme des Samens entgegenstehen kann. Ich selber habe mich oft an diesem Gedanken getröstet. Wir sehen heute wenig sichtbare Ergebnisse, was aber nicht heißt, dass keine da sind. Aber wir sehen oft wenig Frucht nach der Verkündigung des Wortes und könnten manchmal den Eindruck haben: Es hat alles nicht viel gebracht.

Aber selbst als der vollkommene Meister, der nur guten Samen und nie falsche Methoden benutzte und der Wort für Wort die Wahrheit sagte – was keiner von uns sagen kann –, selbst als Er den Samen säte, konnte es geschehen, dass etwas auf einen Herzensboden fiel, der hart war wie ein Weg, auf dem schon viele Menschen gelaufen sind. Und dann nimmt der Teufel das weg, was dem menschlichen Herzen nicht willkommen ist.

Es kann uns auch heute passieren, dass der Herr sein Wort in unsere Herzen streut, aber wir nicht bereit sind, es anzunehmen. Dann kommt mit Sicherheit der Teufel und nimmt es weg. Wenn Du es nicht haben willst – er wird es dir wegnehmen. Doch selbst dort, wo gute Erde ist, ist die Frucht nicht überall bei 100 Prozent.

Wir merken, dass es um zwei unterschiedliche Dinge geht: das Aussäen des Wortes des Evangeliums einerseits und die Aufnahme durch unsere Herzen andererseits. Der Herr Jesus wird sich nie aufzwingen mit dem, was Er sagt. Aber wo das Evangelium hingelangt, da bringt es grundsätzlich Frucht hervor. Das ist eine große Ermutigung für Verkündiger des Evangeliums. Es wird Frucht bringen.

Wenn wir von „Frucht bringen“ hören, denken wir sogleich an den Weinstock (Joh 15). Da macht der Herr Jesus deutlich, dass Fruchtbringen Abhängigkeit voraussetzt, das Bleiben am Weinstock, auch wenn sonst die wesentlichen Bedingungen dafür bei uns durch den Besitz des neuen Lebens erfüllt sind. In Römer 7 lernen wir zudem, dass Frucht das normale Ergebnis unserer Verbindung mit einem auferstandenen Christus ist. In den Versen 4.5 heißt es: „Also seid auch ihr, meine Brüder, dem Gesetz getötet worden durch den Leib des Christus, um eines anderen zu werden, des aus den Toten Auferweckten, damit wir Gott Frucht brächten. Denn als wir im Fleische waren, wirkten die Leidenschaften der Sünden, die durch das Gesetz sind, in unseren Gliedern, um dem Tod Frucht zu bringen“. Eine ergreifende Ausdrucksweise der Heiligen Schrift! Ehe wir bekehrt waren, haben wir dem Tod Frucht gebracht. Alles, was wir taten, führte nur zum Tod.

Jetzt aber sind wir durch den Tod des Christus mit dem Herrn Jesus verbunden, der nicht nur lebt und im Himmel ist, sondern tatsächlich den allerhöchsten Platz einnimmt, den je ein Mensch eingenommen hat: den Thron seines Vaters. Mir ist erst vor wenigen Jahren bewusst geworden, dass kein Geschöpf – Christus ist kein Geschöpf! – diesen Platz mit Ihm teilen wird! Den Platz, den der Herr Jesus jetzt im Himmel hat zur Rechten Gottes, werden wir nie mit Ihm teilen. Wir werden mit Ihm über alles herrschen, weil wir sein Leib sind. Aber den Platz, den Er gegenwärtig hat als ein Geheimnis bei Gott, werden wir nicht haben. Er wird auch als Mensch immer etwas behalten, was wir nicht mit Ihm teilen werden.

Das macht mich glücklich, nicht etwa unglücklich. Denn je näher wir dem Herrn Jesus in unseren inneren Beziehungen und Erfahrungen kommen, umso mehr werden wir sehen, wie hoch Er über uns erhaben ist. Und desto mehr freuen wir uns über die Größe dessen, der uns so geliebt hat. Gerade durch unsere Verbindung mit diesem erhöhten Herrn im Himmel bringen wir jetzt Frucht für Gott.

Vers 6: Das Wachstum des Wortes der Wahrheit des Evangeliums

Das Wort der Wahrheit des Evangeliums bringt nicht nur Frucht für Gott hervor, sondern es wächst auch. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass dieses Wachsen zweifach zu verstehen ist. In Apostelgeschichte 12,24 heißt es: „Das Wort Gottes aber wuchs und mehrte sich.“ Dieses Wachstum ist sozusagen in dem Evangelium enthalten, es ist ihm eigen. Das Wort Gottes ging in jener wunderbaren Anfangszeit über alle Grenzen jüdischen Verständnisses hinaus und wuchs und mehrte sich. Im 2. Thessalonicherbrief heißt es sogar einmal, dass wir dafür beten sollen, dass das Wort Gottes „laufe“, als wäre es eine Person, die läuft. Und dann heißt es dort weiter, dass das Wort „verherrlicht werde“ (Kap. 3,1). Das Wort Gottes läuft und wird verherrlicht und wächst. Das ist typisch für das Wort, und auch für das Leben. Wo Leben ist, ist Wachstum.

Wir haben bei uns zu Hause eine Eberesche im Garten, die enorm gewachsen ist. Ich habe den Gärtner gebeten: „Bitte radikal schneiden, so viele Äste wie möglich abschneiden! Ich will endlich wieder Licht in meinem Garten haben.“ Der Gärtner hat den Baum dann stark beschnitten. Ein Jahr später sage ich zu meiner Frau: „Schau dir mal den Baum an. Wo wir einen Ast abgeschnitten haben, kommen mindestens zehn heraus.“ Dieser Baum wächst! Da ist Kraft. Genau das ist typisch für das Leben. Wo göttliches Leben ist, muss man keine Lupe nehmen und nachforschen: Ist da eigentlich Leben vorhanden? Nein, es wächst.

Das Evangelium wächst jedoch nicht nur, indem es sich in der Welt ausbreitet. Es wächst auch in uns. Wachstum ist etwas Wunderbares. Es ist nicht begehrenswert, wenn sich ein Kind wie ein alter Mensch verhält. Aber es ist auch nicht angenehm, wenn Alte wie Kinder sind – vielleicht ist das noch hässlicher. Lieblich dagegen ist es, wenn alles im Ebenmaß ist. Im Wort Gottes gibt es Kindlein, Jünglinge und Väter (1. Joh 2) – ein Beweis, dass sich das neue Leben in uns entfalten will.

Die Wahrheit Gottes als solche wird sich nie entwickeln. Sie ist immer konstant wahr. Aber das Leben in uns entwickelt sich, und dazu benutzt Gott sein Wort. Dieses ist immer das Instrument zum Wachstum. Die Kraft ist der Heilige Geist, der in uns wohnt. So wird das Wort Gottes, das Wort der Wahrheit, einen wachsenden Einfluss über uns gewinnen. Es wäre großartig, wenn der Herr uns dahin führen könnte, den an sich unermesslichen Reichtum des Wortes Gottes mehr und mehr zu erfassen.

Wachstum bei Paulus

Gott möchte, dass wir zunehmen in dem Erfassen der Wahrheit. Vor allen Dingen will Er, dass wir in der Erkenntnis der Person wachsen, von der diese Wahrheit redet. Es ist bemerkenswert, dass wir in der Apostelgeschichte drei Berichte haben über die Bekehrung des Saulus von Tarsus. Auffallend ist dabei, dass bei jeder Schilderung das persönliche Bewusstsein von dem Licht, das er gesehen hat, wächst. In Kapitel 9,3 heißt es: „Als er aber hinzog, geschah es, dass er sich Damaskus nährte. Und plötzlich umstrahlte ihn ein Licht aus dem Himmel.“ Das ist die Schilderung, die Lukas gibt.

Dann lesen wir, dass Paulus einige Jahre später sagt: „Es geschah mir aber, als ich reiste und mich Damaskus näherte, dass mich gegen Mittag [Das ist bereits ein Zusatz: um die Mittagszeit. Es war die Zeit, zu der die Sonne im Zenit steht und im Orient gleißend hell ist.] plötzlich ein großes Licht aus dem Himmel umstrahlte“ (Apg 22,6). Vorher war es nur ein Licht, jetzt ist es ein großes Licht am hellen Mittag.

Und dann haben wir in Kapitel 26,12.13 den dritten Bericht, als Paulus – wieder etwas später – vor Agrippa steht: „Als ich dabei mit Vollmacht und Erlaubnis von den Hohenpriestern nach Damaskus reiste, sah ich mitten am Tag auf dem Weg, o König, vom Himmel her ein Licht, das den Glanz der Sonne übertraf, das mich und die, die mit mir reisten, umstrahlte.“ Es war nicht nur ein helles Licht. Es war ein Licht, das den Glanz der Sonne überstrahlte. Das ist es, was Gott bei uns bewirken möchte: dass wir wachsen und zunehmen.

Der Anfang des Glaubenslebens der Kolosser

Der Apostel bezieht sich im zweiten Teil von Vers 6 auf den Anfang des Glaubenslebens der Kolosser, als sie das Evangelium gehört hatten. Es ist schön, wie die Bekehrung hier beschrieben wird. Ich wüsste keine bessere Beschreibung dessen, was eine Bekehrung ist. „Von dem Tag an“ – es war ein ganz bestimmter Tag –, „da ihr das Wort gehört und die Gnade Gottes in Wahrheit erkannt habt.“ Ob jeder Leser nicht nur das Wort gehört, sondern auch die Gnade Gottes in Wahrheit erkannt hat? Das Wort bringt diese Gnade Gottes. Diese Wahrheit mit dem Herzen aufzunehmen und zu erkennen, dass es Gnade ist, gerettet zu werden: Genau das ist das Hinwenden zu Gott, das die Bekehrung ausmacht.

Vers 7: Epaphras

Dann erwähnt Paulus Epaphras. Das ist ein Mann, der uns sehr ermutigen sollte. Ich glaube nicht, dass Epaphras ein bekannter Bruder war. Vielleicht war er keiner, der „am Pult“ stand und öffentlich diente. Aber er war ein treuer Mann. Darauf kommt es an, nicht, ob wir in der Öffentlichkeit stehen oder nicht, ob wir Bruder oder Schwester sind. Den Platz, den die Güte Gottes uns zugewiesen hat, sollen wir in Treue ausfüllen. Ich glaube, dass eine Mutter, die ständig ein oder zwei oder mehr Kinder um sich herum hat und sie für den Herrn erzieht und alles macht, um sie auf den Weg hinter dem Herrn Jesus her zu bringen, eine wunderbare Aufgabe für den Herrn Jesus ausführen darf.

Entscheidend ist also, dass wir treu sind. Epaphras war ein treuer Diener. Vielleicht war er ein Mann, der von manchen Geschwistern aus Kolossä angegriffen wurde. Denn jene philosophischen, mystischen, jüdischen Lehren hatten ihre Verfechter in Kolossä, die sich auf Kosten treuer Leute bekannt machen wollten. Sie schmeichelten sich ein, versuchten, schönere Worte zu sagen als Epaphras. Daher nahm Paulus ihn in Schutz. Es muss für Epaphras eine außerordentliche Ermutigung gewesen sein, seinen Namen derart in diesem Brief erwähnt zu finden. Er war einer, der bei dem blieb, was er gelernt hatte. Wenn neue Gedanken auf uns zukommen, die nicht der Schrift entsprechen, ist es ein Zeichen von Treue, wenn wir sie ablehnen.

Epaphras bedurfte der Stützung durch den Apostel. Er war ein treuer Diener des Christus für euch. „Liebe Kolosser, Ihr hättet auf ihn hören sollen!“ Das ist der Gedanke hier. Aber was dann folgt, ist auch sehr schön: „Der uns auch eure Liebe im Geist kundgetan hat.“ Paulus hatte von ihm etwas Gutes über sie gehört: Sie hatten den Apostel lieb bei alledem, was an Problemen vorhanden war.

Vers 8: Die einzige Erwähnung des Heiligen Geistes im Kolosserbrief

„Im Geist“ ist eine schwierige Ausdrucksform. Gemeint ist die Liebe, die in der Kraft des Heiligen Geistes wirkt. Das ist übrigens die einzige Erwähnung des Heiligen Geistes in diesem Brief. Paulus spricht nicht von natürlicher Zuneigung, die auf Gegenseitigkeit beruht, sondern von einer Zuneigung, die durch den Geist Gottes gewirkt ist. Wie schon in der Einleitung erwähnt, gibt es im Epheserbrief kein Kapitel, wo der Geist Gottes nicht mindestens einmal genannt wird. Im Kolosserbrief dagegen finden wir hier die einzige Erwähnung. Es stellt sich die Frage: Warum dieser Unterschied?

Wenn der Gläubige Christus vor sich hat – die Frage ist, ob das auf uns zutrifft –, kann mir der Geist Gottes viel mitteilen über sein eigenes Werk in mir. Das ist sogar nötig und führt zur Verherrlichung des Herrn. Wenn aber der Christ den Herrn Jesus ein wenig aus dem Blickfeld verloren hat, wie es bei den Kolossern zum Teil der Fall war, weil sie ihr Ohr den Philosophien geliehen hatten, kann es sehr gefährlich werden, wenn der Geist Gottes uns mit dem beschäftigen würde, was Er in uns wirkt. Es verliehe uns durch unseren falschen Zustand eine gewisse Wichtigkeit. Das jedoch würde uns vom Herrn Jesus wegführen. Deswegen wird hier nicht der Geist Gottes und sein Wirken an der Seele vorgestellt, sondern direkt Christus, von dem der Blick der Kolosser leider weggegangen war.

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