Das Buch Esther

Esthers schwerer Gang

Esther ging also, gehorsam der Weisung Mordokais, den schweren Gang in der Hoffnung auf die Gnade des Königs. Angetan mit dem geziemenden königlichen Kleid und Schmuck trat sie bescheiden und demütig in den Eingang des Hofes zum Thronsaal des Königs, wo sie wartend stehen blieb. Da sie dem auf seinem Thron sitzenden König direkt gegenüber stand, sah der König ihre Anmut, aber auch den bittenden Ausdruck ihres geängstigten und flehenden Herzens. Ahasveros, von beidem im Herzen bewegt, gibt ihr das Zeichen zum Nähertreten, fragt nach ihrem Begehr, wobei er ihr zum voraus Gewährung verspricht.

Esther trat bescheiden näher und berührte nur die Spitze des goldenen königlichen Zepters zum Beweis ihres Vertrauens, die Ehrerbietung nicht vergessend, die sie dem König schuldig war. So sollen auch wir, wenn wir auch wie Kinder vor Gott als unserem uns liebenden Vater treten dürfen, nie die Ehrfurcht, die wir dem heiligen und gerechten Gott schuldig sind, vergessen. Es geziemt uns nicht, zu fordern oder gar zu drängen: „Du musst!“. Bei allem Vertrauen auf Sein Wort und Seine Liebe müssen wir unsere Wünsche ganz in Seine Hände legen und es Ihm überlassen, zu handeln, so wie es Sein Wille für gut befindet. Vergessen wir nicht, wir vermögen die Tiefen und Höhen Seiner Gedanken nie zu ergründen.

Esther handelte, wie der Herr Jesus es uns gelehrt hat, „klug zu sein wie die Schlangen und zugleich ohne Falsch wie die Tauben“ (Mt 10,16). Sie fällt nicht gleich mit bitteren Klagen und drängenden Bitten zur Tür herein. Vielmehr lädt sie fürs erste den König zusammen mit Haman zu einem Mahl ein, und als Ahasveros dabei sein Anerbieten wiederholt, lädt sie beide zu einem weiteren Gastmahl ein. Dies tut sie einerseits, um den König ganz für sich zu gewinnen und andererseits den Haman in seiner Überhebung blindsicher zu machen. Wenn dann der König sein Versprechen wiederholt, also dreifach bestätigt hat, kann Esther ohne Gefahr ihre Bitte und ihr Geheimnis enthüllen in voller Gewissheit der Hilfe des Königs. So erlangte sie auch wirklich die Gnade, von der die Rettung ihres Volkes abhing und dessen Befreiung konnte nun ihren Lauf nehmen. Von dieser Gnade hing ja alles ab, andererseits war auch Esthers Treue und Gehorsam unerlässlich und fand im vorhergehenden Fasten und Beten ihren lebendigen Ausdruck. So wurde das Herz des Königs bereitwillig gemacht und durch Esthers schweren Gang der Weg zu dieser Gnade gefunden. So wird auch das ausharrende, inbrünstige Bitten und die Treue des gläubigen Überrestes in der großen Drangsalszeit das Eingreifen Gottes bewirken. Es wird dem Messias den Weg bereiten, denn Er wartet zuerst auf die Umkehr Israels, dann erst wird Er kommen und helfen (vergl. auch Joel 2).

Esthers Gang ist ein Lehrbeispiel auch für uns davon, dass man auf die Gnade Gottes niemals vergeblich hofft, vorausgesetzt, dass man in der rechten Stellung vor Ihn hintritt, gemäß der eigenen Unwürdigkeit und in der Anerkennung der hoffnungslosen Lage und des göttlichen Urteils. Denn unser Gott wartet ja nur darauf, dass wir zu Ihm kommen, und so kommt, wie man ist, aber Seine Gnade annimmt und davon Gebrauch macht. Wir werden uns dann auch die kluge Reserve Esthers auferlegen und demütig harrend und glaubend die Antwort des allweisen Gottes abwarten. Singen wir nicht mit Recht: „Gott lässt sich gar nichts nehmen, es muss erbeten sein“? Dies bedeutet nicht fordern, sondern ernstlich flehen und darauf warten. Obwohl Gott alles weiß, was wir nötig haben und was für uns gut ist, will er dennoch, dass wir darum bitten, damit wir Ihm durch die Tat beweisen, dass wir Ihm glauben und vertrauen. Wie sehr begehrt Gott unser Vertrauen und unsere Gemeinschaft!

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