Der 1. Brief an die Korinther

Kapitel 13

Der 1. Brief an die Korinther

Kapitel 13 ist berühmt geworden. Seine ungewöhnliche Kraft wird nicht nur von Christen anerkannt, sondern auch von vielen anderen Menschen. Zuerst einmal preisen sie es als prachtvoll, als eines der literarischen Weltwunder, ohne vielleicht die eigentliche Absicht der Unterweisung überhaupt wertzuschätzen. Was sagt es denn wirklich aus? Am Anfang von Kapitel 8 fanden wir, dass es die Liebe ist, die erbaut. Dieses Kapitel breitet diese Tatsache aus und zeigt uns an erster Stelle, dass die glänzendsten Gaben ohne die Liebe wertlos sind, und an zweiter Stelle, dass die Liebe die Kraft ist, die im Grund alles bewirkt, selbst wenn Gaben vorhanden sind.

Der erste Vers spricht Gaben an, die jemand besitzen mag, aber ohne Liebe ausübt. Wenn das so geschieht, so ist die Summe dessen, was sie bewirken und hervorbringen, gleich Null. Das Reden in Sprachen wird zuerst erwähnt, da das die besondere Gabe war, die den Korinthern eher zu einem Fallstrick wurde. Es folgen Prophezeiung, die später vom Apostel als vorrangig in ihrer Bedeutung gelobt wird, weiterhin Erkenntnis und Glauben, praktische Mildtätigkeit, die heute etwa „Nächstenliebe“ genannt wird, und schließlich ein Selbstopfer sehr auffälliger Art. Was für außerordentliche Feststellungen trifft Paulus hier!

Versetzen wir uns einmal in die Situation der Korinther: Ein Bruder steht in der Versammlung auf und spricht Worte von besonderer Lieblichkeit aus, die freudig erschauern lassen, auch wenn wir nichts davon verstehen. Wir mögen entdecken, dass er tatsächlich eine göttliche Mitteilung in einer Sprache des Himmels gegeben hat, wie Engel sie gebrauchen. Wie wunderbar! Mit Erstaunen ruhen unsere Blicke auf ihm! Jawohl. Aber wenn er dies ohne Liebe getan hat, hätte er ebenso gut eine alte Kupferpfanne mit in die Zusammenkunft bringen und mit einem Feuerhaken darauf schlagen können – anstelle des Guten, das er in Bezug auf die Interessen des Herrn in Seiner Versammlung getan hat.

Dann meldet sich ein anderer zu Wort, dessen Wissen und Verständnis in Erstaunen setzen. Er dringt nicht nur in den Kern göttlicher Gedanken ein, er vermag auch das, was er erkennt, aufgrund seiner prophetischen Gabe anderen weiterzugehen. Zugleich hat er auch einen Glauben von fast wunderbarer Kraft. Doch er hat keine Liebe! Es wird uns nicht gesagt, dass er gleich einer schallenden Zimbel ist, denn es ist möglich, dass wir Hilfe und Einsicht empfangen aus dem, was er sagt, und vielleicht werden wir auch von seinem bemerkenswerten Glauben angeregt. Aber es wird uns gesagt, dass er selbst nichts ist. Wenn wir selbst ungeistlich sind, könnten wir uns einbilden, er sei ein Riese. Tatsächlich ist er weniger als ein Zwerg. Er ist nichts.

Nehmen wir noch den Fall eines dritten an, der beschließt: „Ich werde alle meine Habe in Nahrungsmittel umsetzen und sie an Arme verteilen“. Außerdem ist er bereit, seinen Leib hinzugeben, um verbrannt zu werden! Da mögen wir wohl ausrufen: Was für eine Belohnung wird ihm an dem kommenden Tag zufallen! Doch ach, er hat keine Liebe! Dann wird ihm das alles nichts nützen. Er mag sein Vermögen und dazu noch sein Leben opfern, aber ohne Liebe bleibt das alles wertlos. Müssen diese Beispiele auch negativ bewertet werden, so leuchtet doch auf ihrem Hintergrund der überragende Wert der Liebe auf!

Wir betrachten nun genauer die Kennzeichen, die der Liebe eigentümlich sind. Zuerst kommt ein sehr positives Merkmal. Die Liebe ist langmütig (oder: hat viel Geduld) und ist gütig. Könnte irgendetwas die Langmut und die Güte Gottes gegenüber dem rebellischen Menschen übersteigen? Nein. Nun, Gott ist Liebe.

Und in dem Maß, in dem wir die göttliche Natur offenbaren, werden wir Langmut und Güte erweisen gegenüber den Menschen im Allgemeinen, und ebenso natürlich gegenüber den Brüdern.

Diesem positiven Merkmal folgen negative. Liebe zeigt sich darin, dass gewisse hässliche Entstellungen in Wesen und Betragen, die uns als Menschen im Fleisch völlig natürlich erscheinen, nicht vorhanden sind. Paulus reiht sie auf. Hier sind sie: (1) Neid auf andere, (2) Grosstun oder Prahlerei (oder auch Anmaßung), (3) Einbildung oder Aufgeblasen-Sein von eigener Wichtigkeit, (4) ungeziemendes Benehmen, das die Folge der Aufgeblasenheit ist, (5) Selbstsucht, (6) Empfindlichkeit, schnell beleidigt und erzürnt sein, (7) ein Denken, das schnell bereit ist, anderen Böses zu unterstellen, (8) Freude über Ungerechtigkeit, indem man sie bei anderen herausfindet und anprangert. Die Schnur, an der diese acht Übel aufgereiht sind, ist die Eigenliebe.

Ach! Wie oft sind diese Merkmale auch an uns selbst wahrzunehmen, und doch sind wir Gläubige. Es geschieht allzu leicht, dass wir einem Schiff gleichen, das an einer schmutzigen, morastigen Flachstelle der Selbstliebe strandet. Was kann uns daraus befreien? Nichts als ein mächtiges Einströmen der Flut göttlicher Liebe. Wenn Gläubige sich selbst vergessen im Auftrieb dieser Flut, werden überaus wunderbare Veränderungen bewirkt.

Vers 6 erwähnte das achte negative Merkmal und weist auch auf das zweite positive Kennzeichen hin. Die Liebe freut sich, denn Freude gehört zu ihrer Natur; doch ihre Freude ist in oder mit der Wahrheit. Liebe und Wahrheit gehen Hand in Hand, und die Wahrheit ist freudevoll und beglückend für unsere Herzen.

Es folgen weitere positive Merkmale. Vier werden in Vers 7 erwähnt. Die Liebe erträgt alles oder deckt alles zu. Natürlich übersieht sie niemals Ungerechtigkeit, doch sie findet nie Gefallen daran, die Missetaten anderer Leute an die Öffentlichkeit zu bringen. Vielmehr glaubt sie alles, was sie von der Wahrheit erkennt, sie hofft, dass alles, was mangeln mag, noch zu guter Zeit ergänzt werden kann, bis dahin erträgt oder erduldet sie jede Unzulänglichkeit, die sie vorfindet. Es ist offensichtlich, dass der Ausdruck „alles“, der viermal wiederholt wird, innerhalb der Grenzen des Zusammenhangs verstanden werden muss. Denn jemand, der beispielsweise „alles“ ohne Einschränkungen glaubt, würde einfach in einem Sumpf von Ungewissheit und Enttäuschung landen.

Das siebte positive Kennzeichen der Liebe ist, dass sie niemals vergeht oder aufhört. Wir verstehen dies sogleich, wenn wir auf ihre Fülle in Gott selbst schauen. Wenn die göttliche Liebe geendet hätte, würde jeder Bereich, der jemals von der Sünde berührt wurde, in hoffnungslose Finsternis und ewige Nacht eingetaucht sein. Angesichts der großen Katastrophe, die die Sünde bedeutet, hat die göttliche Liebe nie geschwankt oder versagt. Sie entwarf vielmehr einen Weg der Gerechtigkeit, auf dem die Verhältnisse mehr als wiederhergestellt und Menschen gesegnet werden würden und der Name Gottes triumphierend gerechtfertigt würde. Wohl ist wahr, dass es eine Zeitlang scheinen mag, als habe sie aufgehört. Doch Gott hat einen weit reichenden Ausblick und plant mehr nach Jahrtausenden als nach Tagen. Die Liebe trägt am Ende immer den Sieg davon. Und so geschieht es auch, wenn göttliche Liebe in und durch schwache Gläubige wirkt, wie wir es sind. Es mag so aussehen, als ob sie hundertmal unterliegt, aber es kommt doch anders. Letztendlich siegt sie. Sie wird nicht vergehen.

Das nun kann selbst von den größten Gaben nicht gesagt werden. Prophezeiungen mögen „weggetan werden“, nachdem sie ihrem Zweck gedient haben. Sprachen werden „weggetan werden“ (auch im Grundtext steht hier ein anderes Wort als für „aufhören“), sie würden zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr nötig sein. Sogar Erkenntnis würde „weggetan werden“. Was „weggetan werden“ bedeutet, erklären die nächsten Verse. Unser Erkennen und Prophezeien – selbst das des Apostels Paulus – ist stückweise. Bald werden wir in Bezug auf Erkenntnis und Prophezeiung zur Vollkommenheit gelangen, und dann wird alles vergehen, was stückweise ist, ebenso wie der Mond im Licht der Sonne verschwindet.

Der Apostel veranschaulicht diese Wahrheit, indem er an seine eigene Kindheit erinnert. Als er noch ein Kind war, redete, dachte, urteilte er wie ein Kind. Als er ein Mann wurde, tat er weg, was zu den Tagen der Kindheit gehörte. In Vers 12 wendet er dieses Bild an. Der Gegensatz liegt zwischen jetzt und dann, zwischen unserem gegenwärtigen Zustand, der durch Fleisch und Blut begrenzt ist, obwohl der Heilige Geist in uns wohnt, und dem himmlischen Zustand, in den wir eintreten werden, gleichförmig dem Bild Christi, den Leib eingeschlossen. Jetzt sehen wir undeutlich wie durch einen Spiegel, dann erkennen wir, wie auch wir erkannt worden sind.

Geistliche Gaben sind tatsächlich wunderbare Dinge, aber wir sind geneigt, sie zu überschätzen. Wunderbar, wie sie sein mögen, sind sie doch stückweise. Begabte Brüder, nehmt dies zur Kenntnis! Euer Erkennen und euer Prophezeien ist, selbst wenn es in der vollen Kraft des Geistes geschieht, nur stückweise. Es umfasst nicht das Ganze. Das muss in Erinnerung bleiben, sonst könntet ihr in eurer Erkenntnis arrogant werden. Wenn ihr das im Gedächtnis behaltet, werdet ihr demütig bleiben.

Wir sind sehr dankbar für Erkenntnis und Prophezeiungen, doch wir wissen, dass sie alle im Glanz des vollkommenen Lichts, in das wir hineingehen, verblassen werden. Es gibt Dinge, die bleiben, und am größten unter ihnen ist die LIEBE.

„Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei.“ Der Gegensatz liegt zwischen den glänzendsten Gaben, die vergehen, und den bleibenden Kennzeichen des göttlichen Lebens in den Gläubigen. Je mehr wir noch fleischlich empfinden, umso wahrscheinlicher lassen wir uns von bloßen Gaben blenden. Sind wir geistlich gereifter, schätzen wir mehr Glauben, Hoffnung und Liebe. Und umso klarer sehen wir dann, dass die Liebe die größte von allen ist.

Zuletzt wird sich zeigen, dass der größte unter den Gläubigen nicht der mit der eindrucksvollsten Gabe ist, sondern jemand – der oder die –, der am treuesten in der Liebe verharrte, denn „wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott in ihm“ (1. Joh 4,16).

Keine Gabe zählt viel, es sei denn, dass sie unter der Leitung und in der Kraft der Liebe ausgeübt wird. Die LIEBE ist wirklich der vortrefflichere Weg.

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