Der 1. Brief an die Korinther

Kapitel 12

Der 1. Brief an die Korinther

Die Korinther kamen als Versammlung nicht nur zusammen, um am Mahl des Herrn teilzunehmen, sondern auch zur Ausübung geistlicher Gaben, insbesondere der Gabe der Prophezeiung oder Weissagung. In jenen Tagen gab es Propheten, die vom Heiligen Geist befähigt waren, der Versammlung inspirierte Aussprüche mitzuteilen. In dieser Weise schenkte Gott maßgebliche Unterweisung und Leitung in einer Zeit, in der die neutestamentlichen Schriften noch im Entstehen begriffen waren und sie daher den Gläubigen nicht in so reichem Maß zur Verfügung standen wie uns heute. Jedoch bestand in diesem Zusammenhang auch eine große Gefahr.

Wenn Gott in der Geschichte Israels Propheten erweckte, so stiftete Satan unverzüglich Verwirrung, indem er viele falsche Propheten erweckte. In den Tagen Ahabs kamen 850 falsche auf einen wahren Propheten! Der Widersacher verfolgte in den frühen Tagen der Kirche dieselbe Taktik und führte in die öffentlichen Zusammenkünfte der Gläubigen Männer ein, die ebenfalls inspirierte Aussprüche von sich gaben, inspiriert aber nicht von dem Heiligen Geist, sondern von Dämonen. Deshalb war ein Prüfstein nötig, wie er in Vers 3 dieses Kapitels beschrieben wird. Jesus als den HERRN zu bekennen, ist der Prüfstein. Es könnten manche Zeugnisse dafür angeführt werden, dass diese Prüfung nie ohne eindeutiges Ergebnis ist. In modernen spiritistischen Sitzungen pflegen die Dämonen oft scheinbar edle und schöne Empfindungen zu äußern, aber niemals werden sie Jesus als Herrn anerkennen.

Auch nahm man in der heidnischen Welt an, dass jeder Dämon seinen besonderen Bereich hatte, in dem er tätig war: einer war der Geist der Heilungen, ein anderer der Geist der Prophezeiung oder Wahrsagung, usw. Der Apostel belehrt deshalb die Korinther in den Versen 4-11, dass alle Gaben göttlichen Ursprungs, die sich in der Kirche kundtun, aus ein und demselben Geist hervorgehen - dem Heiligen Geist Gottes. Der Geist ist einer, die Offenbarungen Seiner Macht und Seiner Wirksamkeit sind viele. Ob es nun der Geist ist (Vers 4) oder der Herr (Vers 5) oder Gott (Vers 6), Mannigfaltigkeit, die aus der Einheit hervorgeht, ist das Merkmal. Gaben sind mit dem Geist verbunden, Dienste mit dem Herrn und Wirkungen mit Gott.

Nun werden Gaben oder Offenbarungen des Geistes in der Versammlung Gottes durch Menschen zum Ausdruck gebracht. Kein einzelner Mensch besitzt alle Gaben. Gelegentlich hat jemand mehrere Gaben, im Allgemeinen besitzt jeder aber nur eine Gabe. Ob es sich aber nun um eine oder mehrere Gaben handelt: das, was jeder besitzt, ist nicht allein zum Nutzen des Besitzers bestimmt, sondern zum Nutzen aller (Vers 7). Die Korinther verhielten sich offensichtlich eher wie Kinder, sie dachten, die ihnen übertragene geistliche Gabe wäre gleich einem neuen Spielzeug, das man gebrauchen und an dem man sich erfreuen könnte zum persönlichen Vergnügen und um sich hervorzutun. Aber so war es nicht; vielmehr dient eine Gabe, die ein Glied empfangen hat, dem Wohlergehen des ganzen Leibes.

Nachdem der Apostel deshalb die verschiedenen Gaben aufgezählt und noch einmal betont hat, dass alle aus demselben Heiligen Geist hervorgehen, verliehen nach Seinem souveränen Willen und Belieben, geht er in Vers 12 zu dem einen Leib über, zu dessen Förderung alles gegeben ist. Der menschliche Leib dient ihm zur Illustration. Er hat viele Glieder und stellt doch eine organische Einheit dar.

Dann fügt er hinzu: „Also auch der Christus“ - der bestimmte Artikel „der“ steht im griechischen Grundtext. Das ist ein bemerkenswerter Ausdruck. Nicht Christus persönlich ist gemeint, sondern vielmehr der eine Leib - die Kirche (Versammlung) - der Leib des Christus. Dieser Leib wird mit Seinem Namen genannt.

Die Kirche ist somit als Leib des Christus eine organische Einheit, genauso wie es der menschliche Leib ist. Durch ein Werk Gottes ist dieser Leib in der Kraft des einen Geistes gebildet worden. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, weil diese Tatsache seine Unverletzlichkeit verbürgt. Er kann weder durch den Menschen noch durch satanische Macht verletzt oder zerstört werden, obwohl seine sichtbare Darstellung auf der Erde entstellt werden kann, wie es auch geschehen ist. Aber die Sache selbst, als von Gott gebildet, bleibt und wird vollkommen in Herrlichkeit dargestellt werden.

Das Werk des Geistes in der Bildung des einen Leibes wird als “Taufe“ bezeichnet. In der Taufe wird ein Mensch untergetaucht und bildlich begraben. Auf einer solchen Grundlage wurde der eine Leib gebildet und sind auch wir eingefügt worden, in dem Sinn, dass wir als natürliche Menschen, als Kinder Adams, mit all unseren persönlichen Besonderheiten und kantigen Eigenarten in diesen einen Geist eingetaucht worden sind. Alle unsere natürlichen Unterschiede sind deshalb in dem einen Leib verschwunden. Es gab keine größere nationale Unterscheidung als die zwischen den Juden und den heidnischen Völkern, und keine tiefere soziale Kluft als die zwischen Sklaven und Freien. Aber diese Unterscheidungen und Gegensätze und was es sonst dergleichen gibt, sind in dem einen Leib verschwunden. Wie töricht und sündhaft waren aus dieser Sicht die Parteiungen, Schulmeinungen und Spaltungen unter den Korinthern, wie kindisch ihr Streben nach persönlichem Ruhm und Eigennutz. Und wie töricht und sündhaft und kindisch sind ähnliche Erscheinungen, die das Bild der Christen unserer Tage verunstalten!

Lasst uns das zu Herzen nehmen! Wir haben die wirkliche Kraft und Bedeutung dieser Taufe vergessen, durch die wir unseren Platz in dem einen Leib gefunden haben. Gott sei Dank, ich bin in dem einen Leib, aber ich bin dort infolge der Tatsache, dass mein altes „Ich“ untergetaucht worden ist. Auch du bist da als jemand, dessen altes „Ich“ untergetaucht worden ist. Und jedes andere Glied befindet sich dort, nachdem sein altes „Ich“ untergetaucht worden ist. Es gibt keine andere Möglichkeit, zu diesem einen Leib zu gehören, als die, dass das alte „Ich“ untergetaucht ist. Wenn wir alle diese Wahrheit verwirklichten, welche Veränderung würde dann im äußeren Anblick aller Dinge unter den Gläubigen eintreten.

Wir sind jedoch nicht nur alle in diesem einen Geist zu einem Leib getauft worden, sondern wir sind auch jeder einzeln und für sich selbst „mit einem Geist getränkt“ worden. Dies scheint eine Anspielung auf Johannes 7,37-39 zu sein. Jedes Glied des Leibes hat persönlich diesen einen Geist empfangen oder in sich aufgenommen, so dass es durch den Heiligen Geist charakterisiert und gesteuert wird. So kommt die Einheit auf zweifache Weise zustande: Jedes Glied ist in den Geist eingetaucht worden, und der Geist ist in jedem Glied, weil es Ihn persönlich empfangen hat.

Die Verse 12 und 13 beschreiben uns also, was Gott selbst in der Kraft Seines Geistes bewirkt hat, und folglich kommt menschliches Versagen hier nicht in Betracht. Dieses Werk Gottes ist etwas Ideales, aber es ist deshalb nicht idealistisch und unwirklich. Es ist nicht einfach eine schöne Idee in der höheren Region bloßer Ideen. Nein, es ist eine durch göttliches Handeln tatsächlich bestehende Wirklichkeit. Der Glaube nimmt das wahr und handelt dementsprechend. Wenn wir das nicht wahrnehmen, können wir nicht dementsprechend handeln.

Lasst uns daher Glauben haben, das wahrzunehmen, was durch das Werk des Geistes zustande gebracht worden ist und was wir dadurch empfangen haben, dass wir mit dem einen Geist getränkt worden sind. Möge unser ganzes Leben in der Beziehung zu Christus selbst und zu den anderen Gliedern des Leibes davon beeinflusst sein.

Wenn Vers 13 lehrt, dass alle wahren Gläubigen zu einem Leib getauft worden sind, so hebt der nächste Vers wiederum die damit übereinstimmende Wahrheit hervor, dass der Leib aus vielen Gliedern zusammengesetzt ist. Die Einheit, die Gott begründet hat, darf nicht mit eintöniger Gleichförmigkeit verwechselt werden. Eine solche Uniformität ist, besonders in unserer Zeit, weitgehend das Kennzeichen des Werkes des Menschen, aber nicht das des Werkes Gottes. Der Mensch hat Maschinen erfunden, die einen Artikel millionenfach herstellen können, und der eine gleicht dem anderen in jeder Einzelheit. In Gottes Schöpfung hingegen sehen wir größte Mannigfaltigkeit in Einheit - und Einheit in wundervoller Verschiedenheit.

In den Versen 14-26 dient der menschliche Leib zur Veranschaulichung dieser Tatsache, die in einer Fülle von Einzelheiten ausgeführt wird. Offensichtlich empfand es der Apostel als äußerst wichtig, dass diese Wahrheit klar verstanden werden sollte. Weshalb ist sie so bedeutsam?

Die Antwort darauf ist, so meinen wir, dass er die unausrottbare Neigung des menschlichen Herzens kannte. Es ist so natürlich, selbst bei Gläubigen, eine kleine Gruppe zu lieben, in der alle die gleiche Ausrichtung haben. Da richtet man sich behaglich und bequem ein, hat keine Reibungspunkte, wohl aber gemeinsame Freude an dem, worauf man besonders bedacht ist. Auf andere, die in ihrem Denken, ihren Tätigkeiten und Aufgaben so weit abweichen, kann man dann natürlich verzichten. Die Spaltung oder Trennung, wovon Vers 25 spricht, wird bald da sein.

Vers 21 verdeutlicht diesen Punkt sehr treffend. Das Auge ist das Organ des Sehens, die Hand das Organ des Handelns. Einige Gläubige sind „Seher“, ausgestattet mit Verständnis und geistlicher Einsicht. Sie erfreuen sich am Verständnis in göttlichen Dingen. Sie geben sich dem Forschen und der Betrachtung hin und haben wahrscheinlich wenig Zeit für praktische Arbeit. Andere Gläubige sind sehr aktive Arbeiter, sie legen Hand an manches mühevolle Vorhaben in den Dingen ihres Herrn. Sie arbeiten so fleißig, dass die Gefahr besteht, dass sie an einen Punkt kommen, wo sie ohne Anweisung weiterarbeiten und sich so vom Willen des Herrn entfernen. Jetzt ergibt sich die Gefahr, dass das „Auge“ zur „Hand“ sagen könnte: „Ich bedarf deiner nicht.“ Es wird nicht angenommen, dass die „Hand“ das zu dem „Auge“ sagt. Die Erfahrung beweist, dass gewöhnlich der einsichtige, weitschauende Bruder versucht ist, so zu dem weniger einsichtigen, aber viel angestrengter arbeitenden Bruder zu sprechen, und nicht umgekehrt.

Ebenso werden Haupt und Fuß einander gegenübergestellt. Nicht nur das Sehen ist auf das Haupt beschränkt, sondern auch das Hören, Riechen und Schmecken. Nur einer von den fünf Sinnen ist über den Körper verteilt. Wenn das Haupt seine Aufgabe erfüllen soll, bedarf es der Ruhe und Erholung. Die Füße hingegen sind Werkzeuge der Bewegung. Das Haupt wünscht die Stille und das Beharrliche, damit es imstande ist, zu beobachten und zu hören und zu denken, aber die Füße drängen auf Betriebsamkeit und Bewegung, was diese Ruhe stören könnte. Das Haupt mag dann stark versucht sein, zu den Füßen zu sagen: „Ich bedarf euer nicht.“

Im menschlichen Körper ist jedes Glied notwendig, Gott hat sie aufeinander abgestimmt. Er hat den Teilen reichlichere Ehre gegeben, die als wenig ehrenhaft angesehen werden könnten, und mit mehr Anmut bedacht, was unansehnlich erscheinen mag. Die medizinische Wissenschaft scheint dafür immer mehr Beweise zu erbringen, sie zeigt beispielsweise, dass verborgene Drüsen, an die früher keiner dachte, von sehr großer Bedeutung sind. Ihre Steuerung der Lebensvorgänge ist von solcher Wichtigkeit, dass der Leib stirbt, wenn sie ihre Funktionen nicht mehr ausüben können. Im Leib Christi verhält es sich auch so, und deshalb müssen die Glieder dieselbe Sorge und Aufmerksamkeit füreinander haben. Wenn eines betroffen ist, sei es zum Guten oder zum Üblen, sind alle betroffen.

Wir wollen bei dieser Illustration beachten, dass der menschliche Körper hier durchgehend als ein Werk Gottes betrachtet wird. Vers 18 drückt das aus, und wiederum erwähnt es Vers 24, darum ist jede Spaltung ausgeschlossen. Vers 21 besagt nicht, dass das Auge nicht zur Hand sprechen sollte: „Ich bedarf deiner nicht“, sondern dass es das gar nicht kann. In gleicher Weise wird der eine Leib Christi als ein Ergebnis des Wirkens Gottes betrachtet. Gott hat zusammengefügt, und Gottes Werk kann niemals von Menschen ungeschehen gemacht werden.

Wir wollen andererseits beachten, dass der Leib Christi, obwohl ein Werk Gottes, deswegen keineswegs eine idealistische Sache ist, die dem Bereich des gegenwärtigen und praktischen Lebens entrückt wäre und ohne Bedeutung für die Kirche in ihrem heutigen Zustand wäre. Ganz im Gegenteil, denn der Apostel fährt sogleich fort, die entsprechende Anwendung zu machen.

Er beginnt damit in Vers 27. Wie genau ist der Ausdruck: „Ihr aber seid Christi Leib.“ Auch im Griechischen steht hier kein Artikel. Dennoch ist bisweilen unrichtig übersetzt worden: „Ihr seid der Leib Christi“. Das hätte den Gläubigen in Korinth aber angezeigt, dass sie in Korinth schon ein geschlossenes Ganzes waren, und hätte weiter zu der weiteren Annahme führen können, sie in Korinth seien bereits der eine Leib. Dann könnte es auch einen Leib in Ephesus geben, und so weiter, bis hin zu der völlig widersprüchlichen und falschen Vorstellung, es gäbe viele „Leiber“. Er sagt deutlich: Ihr seid Christi Leib, das heißt, sie gehörten zu dem Leib Christi und trugen den Charakter des Leibes Christi in Korinth, und jeder einzelne von ihnen war ein Glied an ihm.

Somit waren sie Glieder des Leibes Christi, und von dieser Tatsache aus geht er im nächsten Vers weiter und spricht davon, wie Gott einige dieser Glieder in der „Kirche“ oder „Versammlung“ gesetzt oder zu etwas bestimmt hat. Wir tun gut daran, in unseren Gedanken zu unterscheiden zwischen dem Leib Christi, als gebildet durch ein göttliches Werk, und der Versammlung, wie sie in dieser Welt gesehen wird, ob örtlich in Korinth oder in ihrer Gesamtheit. Aber während wir unterscheiden, dürfen wir die beiden nicht voneinander trennen, weil das Handeln der Glieder in der Versammlung geschieht, und ihr Handeln sollte geregelt und gesteuert werden von der Wahrheit, die wir soeben in Bezug auf den Leib herausgestellt haben.

Die „Gaben“ oder „Offenbarungen“ des Geistes, die einigen Gliedern verliehen wurden, sind in Vers 28 genauer beschrieben. Auch die Reihenfolge ist zu beachten. Apostel kommen zuerst, Arten von Sprachen zuletzt. Die Korinther, die fleischlich waren, legten großes Gewicht auf die äußerlich auffallenderen Gaben, wie auch heutzutage viele fleischlich gesinnte Gläubige es tun. In einer unbekannten Sprache zu sprechen, hatte für sie anscheinend den höchsten Stellenwert. Doch mit dieser Einschätzung befanden sie sich im Irrtum. Die Gaben sind nach dem souveränen Willen des Geistes verteilt. Keine von diesen Gaben war jedem einzelnen gegeben worden. In der Regel hatte jeder eine besondere Gabe, die ihn von anderen unterschied.

In den Versen 29 und 30 finden wir sieben Fragen. Sie werden gestellt, aber nicht beantwortet, weil die Antwort auf der Hand liegt. Sie lautet immer gleich: Nein! Achte auf die sechste Frage, denn es gibt solche, die darauf bestehen, jemand habe den Heiligen Geist eigentlich nicht empfangen, wenn er nicht in Sprachen redet. Aber: „Reden alle in Sprachen?“ Keinesfalls. Und doch „Sind alle mit einem Geist getränkt worden“.

Was sollte nun unsere Einstellung zu den verschiedenen Gaben sein? Wir sollten ernstlich nach den besseren oder größeren Gaben streben, wie z.B. nach der Gabe der Weissagung oder der des Lehrens, wie die Eingangsverse von Kapitel 14 deutlich machen. Solche Gaben sind besser, weil sie von weit reichendem und allgemeinem Nutzen sind, und die Gaben werden dem einzelnen zum Nutzen aller gegeben. Und schließlich gibt es einen noch vortrefflicheren Weg, auf dem dieses Ziel erreicht werden kann. Es ist der Weg der „Nächstenliebe“ oder der göttlichen Liebe, wie sie in Kapitel 13 entfaltet wird. Der Apostel verlässt für einen Augenblick die Hauptlinie seines Themas, um die unvergleichliche Vortrefflichkeit dieser Liebe zu betonen, die eben das Wesen Gottes ist.

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