Dies ist das ewige Leben
Eine Auslegung des ersten Johannesbriefes

Einleitung

Dies ist das ewige Leben

Seit jeher haben die Schriften des Apostels Johannes eine besondere Anziehungskraft auf die Kinder Gottes ausgeübt. Zum einen wohl deshalb, weil sich diese Dokumente direkt an sie als Familie Gottes richten. Zum anderen aber – und das mag von noch größerem Gewicht sein – sehen sie darin die Person des Herrn Jesus unmittelbarer vor sich gebracht als in jedem anderen Teil des Neuen Testaments. Beides werden wir im ersten Brief des Johannes bestätigt finden, dessen Studium wir uns jetzt mit Gottes Hilfe widmen wollen. Beides ist auch geeignet, uns mit unaussprechlichem Glück zu erfüllen.

Historische Bemerkungen

Ähnlich wie der Brief an die Hebräer wendet sich dieser Brief nicht an eine örtliche Versammlung, und wie jener erwähnt er auch keinen Verfasser. Doch ist seine sprachliche und gedankliche Verwandtschaft mit dem vierten Evangelium kaum zu übersehen, so dass wir als sicher davon ausgehen können, dass beide Bücher denselben menschlichen Autor haben: Johannes. Das wird übrigens auch durch Polycarp, einen der frühesten Kirchenväter, bestätigt, der Johannes noch persönlich gekannt hat und ihm diesen Brief zuschreibt. In einer seiner Schriften zitiert er fast Wort für Wort den dritten Vers von Kapitel 4. Auch sein Schüler, Irenäus, führt mehrfach diesen Brief an und nennt Johannes als dessen Verfasser.

Dabei muss das Evangelium vor dem Brief geschrieben worden sein. Denn manches im ersten Brief hätte den Empfängern unverständlich sein müssen, wäre ihnen das Evangelium nicht schon bekannt gewesen. Man nimmt heute allgemein an, dass der erste Brief um 90 n. Chr. entstanden ist, jedoch vor der Offenbarung, deren Entstehung auf 96 n. Chr. datiert wird. Daraus wird auch ersichtlich, dass der Apostel Johannes der letzte noch lebende Apostel war und dass seine Schriften die spätesten des Neuen Testaments sind und somit den Kanon der Heiligen Schriften abschließen. Der Gedanke, dass der Apostel Paulus schon an die zwanzig Jahre bei seinem Herrn im Himmel weilte, bevor schließlich auch Johannes zur Feder griff, um sein Evangelium und noch einige Jahre später auch diesen Brief zu schreiben, lässt uns gewiss nicht unberührt und erfüllt uns mit Ernst.

Irrtümer

Der Herr ließ Seinen Knecht Johannes fast das Ende des ersten christlichen Jahrhunderts erleben und damit eine Zeit, in der bereits ernste Gefahren die junge Versammlung (Gemeinde) bedrohten. Schon kurz nach dem Tod des Apostels Paulus, etwa um 67 n. Chr., entstand unter den Christen – besonders unter denen in Kleinasien – eine Sekte, die später als „Gnostiker“ bekannt wurde. Die Führer dieser Sekte maßten sich an, eine höhere Erkenntnis (gr. gnósis) von Gott zu besitzen als die einfachen Kinder Gottes. Daher die Bezeichnung „Gnostiker“. Sie ließen zwar das Christentum als Ausgangspunkt, als elementare Sache zunächst stehen, behaupteten aber, sie hätten inzwischen neues Licht empfangen, das sie in die Lage versetzt habe, das Christentum weiter zu entwickeln. Für einfache, ungebildete Fischerleute sei es zu Anfang schon ganz recht gewesen, doch nun sei es veraltet und müsse den neuen Erkenntnissen angepasst werden.

Im Besonderen verbreiteten sie – und das machte die Bewegung für die junge Familie Gottes so außerordentlich gefährlich – neue Ideen über Jesus. Wir müssen uns hier nicht mit den falschen Vorstellungen im Einzelnen befassen. Es genügt zu wissen, dass die „Gnostiker“ keine in sich geschlossene, einheitliche Gruppe bildeten, sondern sich in mehrere Richtungen entwickelten. Die eine leugnete die wahre Menschheit Jesu, die andere Seine wahre Gottheit, und wieder eine andere die Möglichkeit, dass Jesus beide Naturen in einer Person besessen haben könne. Es ist beschämend, anmerken zu müssen, dass diese Irrtümer über die Person Jesu sich bis heute in der Christenheit gehalten und weite Verbreitung gefunden haben.

Dass der greise Apostel Johannes beim Verfassen seines Briefes diese Irrlehrer, die er als „Antichristen“ und „falsche Prophe- ten“ brandmarkt (Kap. 2,18; 4,1), im Blickfeld hat, macht ein Satz aus dem zweiten Kapitel des Briefes deutlich: „Dies habe ich euch im Hinblick auf die geschrieben, die euch verführen“ (Vers 26). Es wird uns mit Bewunderung und tiefer Freude erfüllen, wenn wir Gelegenheit bekommen werden, zu sehen, auf welch göttliche Weise der Schreiber diesen Gefahren und Irrtümern begegnet.

Merkmale des neuen Lebens

Aber nicht nur maßten sich die ungläubigen Verführer an, höhere Einsicht über Gott zu haben als die einfachen, ungelehrten Gläubigen, sondern sie bezweifelten auch, dass diese überhaupt ewiges Leben hätten. Das ist der Grund dafür, dass der Apostel in weiten Teilen seines Briefes ausführlich die Kennzeichen des neuen Lebens beschreibt. Er will vor allem die Gläubigen in der Gewissheit des ewigen Lebens befestigen, zugleich aber auch die Betrüger entlarven, die sich zwar eines hohen christlichen Bekenntnisses rühmten, aber nicht zur Familie der Kinder Gottes gehörten. Und so sagt er den Kindern Gottes: „Dies habe ich euch geschrieben, damit ihr wisst, dass ihr ewiges Leben habt, die ihr glaubt an den Namen des Sohnes Gottes“ (Kap. 5,13).

Eine ähnliche Absicht gibt der Apostel Johannes für sein Evangelium an: „Diese (Zeichen) aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr glaubend Leben habt in seinem Namen“ (Kap. 20,31). Damit werden aber auch die unterschiedlichen Zielsetzungen beider Bücher deutlich: Das Evangelium wurde geschrieben, damit die Menschen glauben sollten, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit sie auf diese Weise Leben empfingen. Der Brief dagegen wurde geschrieben, damit die Kinder Gottes, die bereits an den Namen des Sohnes Gottes glaubten, wissen möchten, dass sie ewiges Leben haben.

Wenn wir eben von den Merkmalen des ewigen Lebens sprachen, so besteht auch hier ein Unterschied zwischen dem Evangelium und dem ersten Brief des Johannes. Im Evangelium ist Christus selbst die vollkommene Offenbarung des ewigen Lebens. Auch der Brief bringt Christus als das ewige Leben vor uns, das bei dem Vater war und uns offenbart worden ist. Aber es ist hier mehr Christus, das Leben, in uns als das Leben in Christus, obwohl die Beziehungen zwischen beiden beständig vorhanden sind. Christus persönlich ist der vollkommene Ausdruck des Lebens, das wir haben. Wenn wir also wissen wollen, was für ein Leben wir besitzen, so müssen wir Christus anschauen; und wenn wir all die köstlichen Züge in Ihm sehen, dann können wir beglückt sagen: „Das ist mein Leben.“ Unendliche Gnade! Ja, Christus ist unser Leben, und dieses Leben wird in uns – wie vergleichsweise schwach auch immer – dieselben Charakterzüge offenbaren, die in Ihm gesehen wurden.

Dieses Leben ist die Grundlage des Verkehrs zwischen Menschen und Gott. Der Auslegung dieses gesegneten Gegenstandes wird ein weiter Raum in diesem Brief eingeräumt. Dennoch ist der Grundgedanke dieser: „Und dies ist das Zeugnis: dass Gott uns ewiges Leben gegeben hat, und dieses Leben ist in seinem Sohn“ (1. Joh 5,11). Auf welche Weise man in den Besitz des ewigen Lebens kommt, ist nicht Gegenstand des Briefes, sondern des Evangeliums.

Wie Johannes redet

Johannes bedient sich einer äußerst schlichten Sprache. Er kommt mit den einfachsten Wörtern und Sätzen aus und spricht damit doch die tiefgründigsten Wahrheiten aus. Beispiele dafür werden wir in diesem Brief genügend finden – Beispiele, die uns sogleich auch die Grenzen unseres Auffassungsvermögens bewusst werden lassen.

Typisch für Johannes ist seine abstrakte Redeweise. Er stellt das Wesen einer Sache vor, sagt, was sie wirklich, was sie vor Gott ist. Nebeneinflüsse, die das Bild trüben könnten, lässt er unberücksichtigt. Darin liegt ein großer Segen. Der Verfasser dieser Zeilen hat Gott oft dafür gedankt, dass der Heilige Geist die Wahrheit durch Johannes in dieser abstrakten Form gegeben hat. So sind wir in der Lage, unbeeinflusst durch unser Versagen und unsere Unzulänglichkeit, zu erkennen, was eine Wahrheit in sich, was eine Segnung wirklich ist. Wer diese abstrakte Betrachtungsweise des ersten Johannes-Briefes nicht erfasst, wird große Mühe haben, den Brief überhaupt zu verstehen. Ermahnungen mögen und werden sich aus den abstrakten Aussagen des Briefes ableiten, aber das Vorgestellte selbst ist keine Ermahnung, sondern ist unumstößliche Tatsache.

Der Dienst des Johannes unterscheidet sich von Grund auf von dem des Apostels Paulus und dem der anderen Briefschreiber des Neuen Testaments.

Paulus spricht von der christlichen Stellung, von den himmlischen Beziehungen der Versammlung Gottes, von der christlichen Verantwortlichkeit. Er zeigt Christus mehr in Seinen offiziellen Herrlichkeiten, zeigt Ihn als den Gegenstand des ewigen Ratschlusses Gottes.

Jakobus wird benutzt, um uns ein Bild des besonderen und abnormalen Zustands der Christen inmitten des Judentums zu beschreiben – eines Zustands, den Gott – historisch gesehen – bis zur Zerstörung Jerusalems im Jahr 70. n. Chr. mit Langmut ertrug.

Petrus leitet die christlichen Fremdlinge aus Israel als Teilhaber der himmlischen Berufung durch die Wüste. Er unterrichtet uns über die gegenwärtige Regierung Gottes im Blick auf Seine Kinder und auf die Welt.

Judas besteht auf heiliger Energie in dem sich verfinsternden Zustand der Christenheit, die rasch dem Abfall entgegeneilt.

Johannes hat ein Thema, das über alle anderen erhaben ist: das ewige Leben in dem Sohn Gottes – ein Leben, das den Kindern Gottes mitgeteilt worden ist. Er entfaltet die göttlichen Beziehungen der Familie Gottes und die besonderen Vorrechte, die den Kindern dieser Familie eigen sind. Johannes spricht von den persönlichen Herrlichkeiten Christi.

Paulus schreibt an die Versammlung, Petrus an die Bekehrten aus Israel, Jakobus an die zwölf Stämme, Judas an die Heiligen, Johannes an die Welt (Evangelium) und an die Familie der Kinder Gottes (Brief).

Diese fünf Briefschreiber mögen uns an die fünf Säulen erinnern, die den Vorhang – ein Bild von Christus – am Eingang des Zeltes der Zusammenkunft trugen (2. Mo 26,37).

In mancher Hinsicht ist der erste Brief des Johannes tiefer als die anderen inspirierten Briefe des Neuen Testaments. Er beginnt direkt mit Christus, und er schließt mit Ihm.

Überblick und Gliederung

Für den ersten Brief des Johannes eine klare Gliederung zu finden, ist stets als Schwierigkeit empfunden worden. Manche Ausleger haben sogar gemeint, dass der Brief überhaupt keine logischen Zusammenhänge habe, die sich vernünftig gliedern ließen. Und wenn doch der Versuch einer Gliederung unternommen wurde, so war das Ergebnis jeweils ein anderes. Dem Verfasser sind jedenfalls von den vielen Auslegern nicht zwei bekannt, die dieselbe Gliederung anbieten. Alle dargebotenen Übersichten haben durchaus etwas für sich und beweisen zumindest eins: Der Brief weist durchaus einen textlichen Zusammenhang auf, der sich nach verschiedenen Gesichtspunkten gliedern lässt.

Es ist wahr, dass der Brief eine Fülle von Einzelheiten und Abschweifungen bietet, deren Zusammenhang und Grund nicht immer leicht zu erkennen sind. Auch werden Versuche zur Gliederung erschwert, wenn man nicht erkennt, dass es sich tatsächlich hier und da um größere oder kleinere Parenthesen (Einschaltungen) handelt. So stellt zum Beispiel der ganze Abschnitt in Kapitel 2 ab Vers 12 bis einschließlich Vers 27 eine einzige gedankliche Einschaltung dar. Lässt man sie einmal weg, wird die Struktur des Textes viel klarer erkennbar.

Für unsere Arbeit soll uns folgende Einteilung des Briefes gleichsam als „oberstes Deckblatt“ dienen:

  • Gott als Licht (Kap. 1 und 2),
  • Gott als Liebe (Kap. 3 bis Kap. 5,5),
  • Gott als Leben (Kap. 5,6 bis Ende).

Wenn ich „oberstes Deckblatt“ sage, so meine ich damit, dass dies das gröbste Raster für die Gliederung des Briefes darstellt, dass darunter jedoch noch andere, feinere Strukturen liegen, die ich jeweils zu Beginn eines neuen großen Abschnittes deutlich machen möchte.

Im Verlauf der Betrachtungen und Erklärungen wird der Leser hier und da auf die Überschrift „Eine textliche Besonderheit treffen. Hier sollen ihm Einblicke in die Aussagekraft und Genauigkeit des griechischen Textes des Neuen Testaments geboten werden. Wir müssen eben immer bedenken, dass nur der griechische Text Wort für Wort von Gott inspiriert oder eingegeben ist (1. Kor 2,13; 2. Tim 3,16), nicht eine noch so gute Übersetzung. Natürlich ist auch sie Gottes Wort, aber die wörtliche Inspiration bezieht sich nur auf den zu Grunde liegenden Text in der Originalsprache. Die griechische Sprache ist eine mächtige Sprache, und sie beweist ihre Stärke besonders im Gebrauch der verschiedenen Zeitformen der Verben (Tätigkeits-Wörter), im Gebrauch des Artikels (Geschlechtswort) und im Gebrauch der Präpositionen (Verhältniswörter). Es gibt Stellen, wo der griechische Text in dieser Hinsicht interessante Besonderheiten aufweist und Zusammenhänge deutlich macht, die dem deutschen Leser im Allgemeinen verborgen bleiben, die aber nicht selten für das richtige Verstehen des Textes von Bedeutung sind. Sie dem Leser nahe zu bringen ist der Wunsch des Verfassers. Diese Erklärungen stellen Einschaltungen dar, die im Allgemeinen mitten im Haupttext platziert und durch Einrückung nach rechts kenntlich gemacht sind.

So möge der Herr Seinen reichen Segen auf die Beschäftigung mit diesem kostbaren Teil des Wortes Gottes legen! Möge sie uns zur Anbetung Dessen führen, dessen Liebe bis in den Tod wir alles verdanken!

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