Die gute Hand Gottes
Eine Auslegung zum Buch Esra

Einleitung

Die gute Hand Gottes

1. Verfasser und Entstehungszeit

In der hebräischen Bibel und in der Septuaginta bilden die Bücher Esra und Nehemia eine Einheit. Sie wurden jedoch in der Vulgata getrennt.

In den Ausgaben der Septuaginta und Vulgata befinden sich heute zum Teil zwei weitere, nicht inspirierte und nicht dem Kanon der Heiligen Schrift zugehörige Bücher, die den Namen Esras tragen:

Deutsch: Vulgata (lat.) –- Septuaginta (griech.)

Esra: Esdras I –- Esdras II
Nehemia: Esdras II
3. Esra (apokryph): Esdras III –- Esdras I
4. Esra (pseudepigraphisch): Esdras IV –- Esra-Apokalypse

Die Abfassung des Buches wird seit alters her dem Schriftgelehrten Esra (sein Name bedeutet „Hilfe“) zugeschrieben. Er kam nicht mit der ersten Gruppe der Heimkehrer unter Serubbabel und Josua im Jahr 536 v. Chr. nach Jerusalem zurück, sondern erst mit einer zweiten, kleinen Rückkehrergruppe um 458 v. Chr. (Esra 7). Ab Esra 7 schreibt der Verfasser daher auch meistens in der Ichform (Esra 7,1.28). Das Buch Esra entstand im 5. Jahrhundert v. Chr.

Kapitel 4,8–6,18 und Kapitel 7,12–26 sind nicht in hebräischer, sondern in aramäischer Sprache geschrieben. Das Aramäische ist wie das Hebräische eine semitische Sprache, die im Perserreich Amts- und internationale Verkehrssprache war. Die erwähnten Abschnitte enthalten offizielle Dokumente, die vom bzw. für den persischen Königshof ausgefertigt wurden. Die Propheten Haggai und Sacharja, die in Esra 5,1 und 6,14 erwähnt werden, waren Zeitgenossen Serubbabels und Jeschuas. Sie bestätigen und ergänzen in ihren Schriften die Tatsachen, die im Buch Esra beschrieben werden, in zweierlei Hinsicht. Haggai weist die Juden zurecht, weil sie nicht mit ganzem Herzen dem HERRN (Jehova/Jahwe) dienten. Sacharja weissagt darüber hinaus über die Ankunft des Messias.

2. Thema des Buches Esra

a. Geschichte

Mit dem Untergang des israelitischen Nordreiches (des Zehnstämme-Reiches) im Jahr 722/721 v. Chr. und der Wegführung des Volkes in die Assyrische Gefangenschaft sowie dem Ende des Südreiches (Juda) im Jahr 605–586 v. Chr. durch die babylonische Gefangenschaft endete die Theokratie im Volk Gottes. Der Thron des HERRN war nicht mehr in Jerusalem (vgl. 1. Chr 29,23). Die Herrlichkeit des HERRN hatte den Tempel vor dessen Zerstörung verlassen (vgl. 2. Chr 7,2 mit Hes 9,3; 10,18; 11,23). Gott hatte die Regierungsmacht in die Hände heidnischer Könige gelegt (Jer 27,6; Dan 2,37.38; Esra 1,2). Die „Zeiten der Nationen“ (Lk 21,24) waren angebrochen. Gott wohnt und herrscht seitdem nicht mehr in Jerusalem, sondern überlässt in seiner Vorsehung die Macht den vier großen Weltreichen Babel, Persien, Griechenland und Rom, von denen besonders der Prophet Daniel weissagt. Es sind diese Weltmächte, durch die Gott mittelbar regiert.

Der HERR bewirkt bei einem kleinen Teil, dem Überrest1 seines Volkes, nach siebzigjähriger Verbannung ein Wiederaufleben. Er veranlasst dies durch Kores oder Kyros/Cyrus (vgl. Jes 44,28), den Herrscher des persischen Weltreiches. Die Juden dürfen in ihre Heimat zurückkehren, der Tempel in Jerusalem soll wieder aufgebaut und der Gottesdienst erneuert werden. Diese Anweisung, die Esra erwähnt, findet sich in allgemeinerer Form auf dem sogenannten „Kyros-Zylinder“, einem im 19. Jh. in Babel entdeckten Tonzylinder mit persischer Keilschrift, auf dem unter anderem der Sieg der Perser über Babel berichtet wird. Auf diesem berühmten Kyros-Zylinder stehen in Keilschrift auch die folgenden Worte: „Die Götter, die in ihnen (d. h. den Städten) lebten, brachte ich an ihre Orte zurück ..., alle ihre Bewohner sammelte ich und ließ sie an ihre Wohnstätte zurückkehren ...“

Der persische König Kores war bereits von Jesaja (Jes 44,28) namentlich erwähnt worden, und Jeremia hatte die 70 Jahre der Gefangenschaft vorausgesagt (Jer 25,11f.; 29,10). Daniel, der die Regierung von Kores noch erlebte (Dan 1,21; 9,2), las in Babel die Worte Jeremias über das Ende der 70 Jahre, sah die Zeit der Befreiung als gekommen und betete deshalb zu Gott. Der jüdische Historiker Flavius Josephus (37/38–100 n. Chr.) schreibt in seinem Buch „Jüdische Altertümer“ (Kap. XI.1.2), dass Kores die Weissagung Jesajas über ihn gelesen und die Vorsehung Gottes bewundert habe. Daraufhin habe er mit Eifer die Rückkehr der Juden nach Palästina gefördert.

Die Bibel berichtet von drei Rückkehrergruppen. Jede dieser Gruppen brachte etwas Neues für den Überrest des Volkes Gottes. Die erste Rückkehr von 42.360 Juden fand um 536 v. Chr. statt (Esra 2,64). Ihre Anführer waren Serubbabel, ein Nachkomme des Königs David, und Josua (= Jeschua), ein Nachkomme des Hohenpriesters Aaron (Esra 1–6). Diese beiden Männer repräsentieren den königlichen und den priesterlichen Charakter im Überrest. Zunächst baute diese Rückkehrergruppe den Brandopferaltar im Vorhof des Tempels und danach den Tempel selbst wieder auf.

Eine zweite Gruppe, die wesentlich kleiner war, wurde im Jahr 458 v. Chr. von Esra, dem Priester und Schriftgelehrten, angeführt (Esra 7). Es werden 1.495 männliche Personen gezählt, wozu noch die weiblichen Personen kommen, sowie 38 Leviten und 220 Nethinim (Esra 8,1–20), also insgesamt wohl etwa 4.000 Personen. Esra hatte sich besonders dem Studium und der Beobachtung des Gesetzes des HERRN, des Wortes Gottes, gewidmet und wollte dies dem Volk wieder nahebringen (Esra 7,10).

Eine ganz kleine dritte Rückkehrergruppe im Jahr 445 v. Chr. kam mit Nehemia. Diese Ereignisse werden im gleichnamigen Buch beschrieben. Nehemia sah seine Aufgabe darin, die Mauern und Tore der zerstörten Stadt Jerusalem aufzubauen.

Die Bücher Esra und Nehemia beschreiben somit die von Gott bewirkte Erweckung eines kleinen Teils der Juden, die nun in das Land der Verheißung zurückkehrten und sich wieder in Jerusalem an dem Ort versammelten, den der HERR erwählt hatte, um seinen Namen dort wohnen zu lassen (5. Mo 12,5; 1. Kön 11,36). Dazu mussten sie sich aus Babel, dem Bereich der weltlich-religiösen Macht und Herrschaft lösen (Babel bedeutet „Verwirrung“). Es genügte jedoch nicht, dass sie sich am rechten Ort befanden, es war auch die rechte Gesinnung, die Gottesfurcht, nötig. Daran fehlte es bei vielen von ihnen. Aber es gab auch Widerstände von außen, die es zu überwinden galt.

b. Vorbilder

Die Geschichte der Erweckung und Rückkehr dieser Juden aus der babylonischen Gefangenschaft in die Landschaft Juda enthält für den Christen wichtige geistliche Belehrungen. Das Land Kanaan mit seinen irdischen Segnungen (s. 5. Mo 8) ist ein Bild der himmlischen Örter und der damit verbundenen geistlichen Segnungen, wie sie uns im Epheserbrief beschrieben werden (s. Eph 1,3; 2,6; 6,12).

Die Stadt Jerusalem findet ihre neutestamentliche Entsprechung im „neuen Jerusalem“ (Off 3,12; 21,2.9–21). Das neue Jerusalem ist ein Bild der Versammlung. Es tritt zwar erst in der Zukunft in Erscheinung, wird aber mit der Braut Christi identifiziert. Es wird zugleich die Hütte (oder: das Zelt), das heißt die Wohnung Gottes bei den Menschen sein (Off 21,3). Wir dürfen im irdischen Jerusalem durchaus auch ein Bild der Versammlung und ihrem gegenwärtigen Platz auf der Erde sehen. Die Erlösten werden in Epheser 2,19 ja „Mitbürger der Heiligen“ genannt, was sich auf das Leben in einer Stadt bezieht. Im Bild der Stadt Jerusalem sehen wir die Gemeinschaft der Kinder Gottes im täglichen Leben miteinander. Das wird in Vollkommenheit gesehen, wenn sie als das neue Jerusalem wie eine für ihren Mann geschmückte Braut aus dem Himmel erscheinen werden, zunächst im Tausendjährigen Reich (Off 21,9ff.), dann aber auch im ewigen Zustand der Herrlichkeit und Vollkommenheit (Off 21,2ff.).2

Der Tempel ist ebenfalls ein Bild der Versammlung. Dafür gibt uns das Neue Testament mehrere Belege. „Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? ... denn der Tempel Gottes ist heilig, und solche seid ihr“ (1. Kor 3,16f.). – „Denn ihr seid der Tempel des lebendigen Gottes, wie Gott gesagt hat: „Ich will unter ihnen wohnen und wandeln, und ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein“ (2. Kor 6,16). – „... in welchem der ganze Bau, wohl zusammengefügt, wächst zu einem heiligen Tempel im Herrn“ (Eph 2,21). Diese Stellen zeigen den Charakter der Heiligkeit, der jedes Mal erwähnt wird, wenn von der Versammlung als gegenwärtigem Tempel Gottes die Rede ist. Der Tempel in Jerusalem war die Wohnung Gottes auf der Erde. Sein Thron stand im Allerheiligsten, aber dort weilte Er auch in der Mitte seines irdischen Volkes. Diese Tatsache ist ein Vorbild der Gegenwart des Herrn in der Mitte der Zwei oder Drei, die getreu seinem Wort in seinem Namen versammelt sind (Mt 18,20; vgl. Ps 42,3; 63,3; 84,2–5).

Der Brandopferaltar schließlich, der nach dem Bericht in Esra 3 als erstes wieder aufgerichtet wird, ist ein Bild des Tisches des Herrn. Schon im Alten Testament wird er der „Tisch des HERRN“ genannt (Mal 1,7.12). In 1. Korinther 10,18 und 21, wo der Ausdruck „Tisch des Herrn“ verwendet wird, nimmt der Heilige Geist Bezug auf das Friedensopfer, in dem die Gemeinschaft der Israeliten mit Gott zum Ausdruck gebracht wurde (3. Mo 3 und 7,11–34). Der Altar ist zugleich auch der Ort der Anbetung, denn auf ihm wurden die Brandopfer dargebracht, die für Gott zum „lieblichen Geruch“ waren.

Wenden wir die im Buch Esra (und auch in Nehemia) beschriebenen Ereignisse auf unsere Zeiten und Umstände in der Periode des Christentums an, so können wir feststellen, dass der Heilige Geist im Lauf der Zeit mehrere Erweckungen bewirkt hat, die zur Umkehr und Rückkehr vieler Gläubiger zum Wort Gottes geführt haben. So war es zum Beispiel in der Zeit Martin Luthers am Anfang des 16. Jahrhunderts, als durch die Reformation die Rechtfertigung des Sünders allein durch Glauben wieder ans Licht gebracht wurde und das deutsche Volk das Wort Gottes in seiner Sprache empfing. Doch schon bald verflüchtigten sich die geistlichen Aktivitäten und machten einer neuen Großkirche Platz. Eine weitere Erweckung fand am Anfang des 19. Jahrhunderts statt, als die bibelkritische protestantische Theologie ihren traurigen Eroberungszug begann. Viele Gläubige, die deren ungläubigen Thesen nicht folgen wollten, wandten sich erneut dem lebendigen Wort Gottes zu und studierten es mit Ernst und Eifer. Dadurch wurde die Erwartung des nahen Kommens des Herrn wieder lebendig. Die Vermischung von gläubig und ungläubig in den Großkirchen wurde als unbiblisch erkannt, und die Notwendigkeit von Buße und Bekehrung zu dem Herrn Jesus erneut hervorgehoben.

In Teilen dieser Erweckungsbewegung entstand das Verlangen nach einer völligen Rückkehr zu den Belehrungen des Wortes Gottes über seine Versammlung. Zu ihr gehören ja alle erlösten Kinder Gottes. Doch wenn sie zu seiner Ehre in Heiligkeit und Gnade handeln will, muss sie sich von allen falschen Lehren trennen, aber auch von allen sektiererischen, das heißt menschlichen Anordnungen und Traditionen. Dadurch entstand damals ein lebendiges Zeugnis von der Versammlung Gottes, in dem besonders ihre Einheit als Leib Christi, aber auch die völlige Abhängigkeit von Christus, ihrem verherrlichten Haupt im Himmel, und die Leitung des Heiligen Geistes in den Zusammenkünften praktiziert wurde. Es war eine wirkliche Rückkehr zu dem biblischen Platz des Zusammenkommens der Gläubigen, der durch die Worte des Herrn Jesus gekennzeichnet wird: „Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte“ (Mt 18,20).

In den Büchern Esra, Nehemia und den dazugehörigen Prophetenbüchern Haggai, Sacharja und Maleachi zeigt sich nach einer gewissen Zeit ein Rückgang der Energie für Gott. So war es auch bei der Erweckung des 19. Jahrhunderts. Es ist nicht mehr viel davon übrig, was zur Ehre Gottes dient. Das ist beschämend für uns.

Aber es gibt noch eine weitere praktische Anwendungsmöglichkeit dieser Bücher des Alten Testaments – die persönliche. Jeder Gläubige, der den Wunsch hat, sich in der heutigen Zeit an dem geistlichen „Ort“ aufzuhalten, wo der Herr in der Mitte ist, kann auch jetzt die „Rückkehr nach Jerusalem“ antreten und die glücklichen Erfahrungen machen, die uns in diesen Büchern beschrieben werden.

Wie wir bei der Betrachtung sehen werden, geht es in den Vorbildern nicht nur um die Lehre des Christus, sondern in erster Linie um deren Verwirklichung – sowohl im Guten als auch im Schlechten. Daraus können wir heute wertvolle und wichtige Belehrungen entnehmen.

3. Besonderheiten

a. Kennzeichen der Erweckung

Die Erweckung des jüdischen Überrests im Buch Esra trägt sieben Kennzeichen:

  1. Bewusstsein der Schwachheit (Kap. 2 und 9)
  2. Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes (Kap. 7)
  3. Rückkehr zum göttlichen Mittelpunkt (Kap. 3)
  4. Trennung von der Welt (Kap. 4)
  5. Geist der Hingabe und Aufopferung (Kap. 2,68.69)
  6. Bewusstsein der Einheit des Volkes (Kap. 3,1; 6,17; 8,35)
  7. Prophetischer Dienst und Erwartung des Messias (Kap. 5,1; 6,14)

b. Chronologische Übersicht

Das persische Reich Das jüdische Volk
559–529 Kores (Cyrus II.; Esra 1,1)  
539 Eroberung Babels durch die Perser und Meder  
538/537 Edikt zum Tempelbau (Esra 1,2)  
  536 Beginn des Tempelbaus (Esra 3,8)
529–523 Ahasveros (Kambyses II.; Esra 4,6)  
523–522 Artasasta (Smerdis/Bardiya; Esra 4,7)  
  523/522 Unterbrechung des Tempelbaus
522–485 Darius I., der Große (Esra 4,5) 520 Haggai/Sacharja (Hag 1,1; Sach 1,1) Wiederaufnahme des Tempelbaus
  516 Beendigung des Tempelbaus (Esra 6,15)
485–464 Ahasveros (Xerxes I.; Est 1,1) Königin Esther
464–424 Artasasta (Artaxerxes I. Longimanus „Langhand“; Esra 7,1) 458 Esras Rückkehr Esra 7,1.8)
  445 Nehemias Rückkehr (Neh 2,1)
  um 435 wahrscheinlich Dienst Maleachis
424–423 Xerxes II.  
423–404 Darius II. (Neh 12,22)  
404–358 Artaxerxes II.  

Fußnoten

  • 1 Die Kennzeichen des Überrests waren: Liebe zu Gott und Seinem Wort, Gehorsam gegenüber Seinen Geboten, Absonderung von allem, was nicht mit Seinem Willen in Übereinstimmung war, und eine von Herzen kommende Identifizierung mit der Aufgabe, die Gott dem ganzen Volk gegeben hatte, aber nur von einem kleinen Teil, eben dem Überrest, erfüllt wurde. Obwohl sie völlig abgesondert waren, werden sie von Gott als „ganz Israel“, d. h. als dessen Vertretung oder Darstellung, betrachtet. Dies war der „äußere“ Überrest, von dem wir nicht sagen können, dass alle, die dazu gehörten, wirklich gläubig waren. Von einem „inneren“ Überrest, der den Herrn fürchtete, spricht der Prophet Maleachi (Mal 3,16).
  • 2 Das „neue Jerusalem“ ist nicht identisch mit dem „Jerusalem droben“ (Gal 4,26) oder der „Stadt, die Grundlagen hat“ (Heb 11,10). Diese Stadt erwarteten schon die Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob, und auch die Gläubigen in der Gegenwart kennen sie als das „himmlische Jerusalem“ und die „zukünftige Stadt“ (Heb 12,22; 13,14). Sie ist der Inbegriff der Segnungen, der Freude und der Hoffnung, die das gemeinsame Teil aller Gläubigen zu allen Zeiten sind. Vgl. die 24 Ältesten ab Off 4 ringsum den Thron, zuletzt in Kap. 19,4, aber nicht mehr nach der Hochzeit des Lammes.
Nächstes Kapitel »