Von Gott verstoßen?
Über die Gnade Gottes und die Verantwortlichkeit des Menschen

Einleitung

Von Gott verstoßen?

Ist es wahr, dass Gott eine Anzahl von Menschen zum ewigen Leben auserwählt hat, während Er andere dazu im voraus bestimmt hat, für immer verlorenzugehen? Was können diese armen Menschen, die nicht auserwählt sind, tun, um ihr Los zu ändern? Müssen sie nicht in diesem Leben scheitern und schließlich an den Ort der Qual gehen? Ist ihr Weg zum Niedergang nicht längst vorgezeichnet, ihr Schicksal nicht von vornherein besiegelt?

Solche und ähnliche Fragen haben sicherlich schon manchen von denen beschäftigt, die diese kleine Broschüre zur Hand nehmen. In der Tat handelt es sich um sehr ernste Fragen, die auch in dem Herzen gläubiger Menschen aufsteigen. Ihre Beantwortung entscheidet über das Wohl und Wehe der Menschen, ja, das Schicksal ganzer Völker.

Wenn Gott souverän, das heißt in Seiner Macht unumschränkt, ist – und es wird im Folgenden davon ausgegangen, dass Er es ist –, dann könnte Er den Menschen geradezu zum Spielball Seines Willens machen. Der Mensch könnte sich anstrengen, soviel er wollte, es änderte nichts an seinem Los: Gott hätte ihn nach dieser Ansicht zu einem gewissen Teil zuvorbestimmt, und das käme unweigerlich auf ihn zu, sei es schon in dieser Zeit oder erst in der Ewigkeit.

Tatsächlich gibt es viele Menschen, die sich der Notwendigkeit Ihrer eigenen Umkehr zu Gott mit derartigen Argumenten oder Gedanken zu entwinden suchen. „Wenn Gott in Willkür mit dem Menschen verfahren, wenn Er ihr ewiges Los nach Seiner Unumschränktheit beliebig festsetzen kann, warum muss er sich dann noch bekehren? Es kommt ja doch alles so, wie Gott es festgelegt hat.“ Das klingt auf den ersten Blick einleuchtend, entspricht aber nicht der Wahrheit. Was nämlich bei dieser Argumentation vergessen wird, ist, dass Gott nicht nur souverän, sondern auch gerecht ist. Außerdem wird bei solchen Gedankengängen vollkommen die Verantwortlichkeit des Menschen dem Schöpfer gegenüber außer acht gelassen.

Andere wieder sind durchaus bereit, ein gewisses Maß an Schuld zuzugeben und einzugestehen, dass sie sich vor Gott nicht immer richtig verhalten haben. Aber auf sie lauert, wenn sie von der Unumschränktheit Gottes hören, eine andere Gefahr. Sie machen nämlich etwas, wozu wir Menschen stets neigen: Sie schließen von sich und ihrem fehlerhaften Tun auf das Handeln Gottes mit ihnen. Wenn sie selbst sich nicht eben gut Gott gegenüber verhalten haben, wird Gott Sich auch ihnen gegenüber nicht gut verhalten. Gott wird für sie zu einem übermächtigen Feind, der sie nur richten muss. So kommen sie leicht zu dem Schluss, dass es für sie keine Zukunft, keine Errettung gebe. Sie sehen sich als von Gott verstoßen oder gar im voraus zur Verdammnis bestimmt. Die Souveränität Gottes lassen sie dabei stehen, aber sie beschränken sie auf Seine Macht. Dass Gott auch in Seiner Gnade souverän ist, haben sie noch nicht erfasst.

Wie bereits angedeutet, haben nicht selten selbst gläubige Kinder Gottes mit diesen Fragen erhebliche Schwierigkeiten. Sie wissen zwar, dass sie selbst von Gott auserwählt sind zur Seligkeit. Gottes Wort sagt es ihnen (vgl. Apg 13,48; Röm 8,2.9–30; Eph 1,4; 1. Thes 1,4.5.9; 1. Pet 1,2), und sie sind von Herzen dankbar dafür. Aber ihre Not ist: Was geschieht mit den anderen Menschen, die nicht Gegenstand der Gnaden-Auswahl Gottes sind? Sind sie nicht zwangsläufig dem Untergang preisgegeben? Ist Gott gerecht, wenn Er die einen zum ewigen Leben auserwählt und die anderen verlorengehen lässt? Was können diese bemitleidenswerten Menschen dazu tun, wenn sie von Gott dazu gesetzt sind, „sich an dem Wort zu stoßen“ (1. Pet 2, 8)?

Nun können wir nicht verhindern, dass solche oder ähnliche Fragen in unserem Inneren aufsteigen. Irgendwann einmal müssen wir uns mit ihnen auseinandersetzen. Doch ist dabei äußerste Vorsicht angebracht. Gar zu schnell überschreiten wir nämlich in unseren Überlegungen die Grenze dessen, was sich unserem Gott und Schöpfer gegenüber geziemt.

Denn es kann geschehen, dass wir uns unversehens -und sicher auch ungewollt – die Argumente der ungläubigen Kritiker zu eigen machen und schließlich Gott „auf die Anklagebank“ zu setzen suchen. Doch solch eine Denkweise steht uns nicht im geringsten zu. Selbst wenn wir den Vorsatz Gottes nicht in allem verstehen mögen, verbietet uns zumindest die Ehrfurcht vor dem allmächtigen Gott, Ihm irgendetwas Ungereimtes zuzuschreiben. Deswegen ist bei der Erörterung dieser Fragen auf unserer Seite Demut am Platz und das Wissen darum, dass es nicht unser geschliffener Verstand, sondern der Glaube ist, dem Gott Seine Gedanken und Wege offenbart. Menschliche Schlussfolgerungen, die sehr logisch aussahen, haben sich oft als völlig unvereinbar mit der Wahrheit Gottes erwiesen.

Damit ist der eine Problemkreis umschrieben, dem wir uns im ersten Kapitel dieser kleinen Arbeit widmen wollen. Wir greifen dabei auf das neunte Kapitel des Briefes an die Römer zurück. Wenn sein Gegenstand vordergründig auch das Handeln Gottes mit Israel und den Nationen ist, so werden wir darin doch manche Antworten auf die angedeuteten Fragen finden. Und noch etwas werden wir erkennen: Wenn es überhaupt eine Hoffnung auf den Segen Gottes gibt, dann liegt sie darin begründet, dass Gott in Seiner Gnade eine Auswahl trifft.

Der zweite Problemkreis ist mit dem ersten nahe verwandt. In ihm geht es um die Frage: Hat Gott das Volk Israel endgültig und für immer verstoßen, weil es seinen Messias verworfen hat? Hat dieses einstige Volk Gottes nun keine Zukunft mehr? Der beide Bereiche verbindende Fragenkomplex könnte folgendermaßen formuliert werden: Was wird aus den Verheißungen, die Gott Abraham in Bezug auf seine Nachkommen gegeben hat? Sind sie hinfällig geworden, und steht Er nicht zu Seinem Wort? Ist Israel in dem Christentum aufgegangen?

Im zweiten Kapitel wollen wir uns mit diesem Themenkreis beschäftigen und als Grundlage dazu das elfte Kapitel des Römerbriefes benutzen. Von größter Wichtigkeit wird dabei sein zu ergründen, was unter dem Symbol des „Ölbaumes“ zu verstehen ist.

So wollen wir uns beim Schreiben und Lesen dieser Zeilen der gnädigen Leitung Gottes anbefehlen und Ihn zugleich bitten, uns doch einen demütigen und glaubensvollen Sinn zu schenken, dem Er Sich offenbaren kann!

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