4. Mose 35

In 4. Mo 35 haben wir ein auffallendes Bild von der Heiligkeit und der Gnade Gottes in seinen Handlungen mit dem Totschläger. Er wies sein Volk hier und in 5. Mo 19 an, auf jeder Seite des Jordan gewisse Städte der Leviten zu bestimmen, „dass ein Totschläger dahin fliehe, der einen Menschen aus Versehen erschlagen hat“ (4. Mo 35,11). Die Heiligkeit Gottes sehen wir darin, dass er den Schuldigen nicht schützen wollte (denn wenn der Fall von den zuständigen Richtern und Zeugen untersucht wurde, sollte der Schuldige übergeben werden); und die Gnade Gottes erstrahlt hell leuchtend darin, dass er dem, der unabsichtlich jemanden totgeschlagen hatte, Zuflucht gewährte, damit ihn die Hand des Bluträchers nicht erreichen konnte. Hier werden uns in vorbildlicher Weise die gnädigen Handlungen des HERRN mit Israel vorgestellt - der geliebten, doch verblendeten Nation, die vor ihm verantwortlich ist für das Vergießen des Blutes Christi. In seiner Gnade sieht er Israel nicht als Mörder, sondern als Totschläger an, damit es zu gegebener Zeit wieder in das gute Land, das Land ihres Besitztums, zurückgebracht werden kann. Als der Herr gekreuzigt wurde, legte er Fürsprache für die Missetäter ein, und stellte diese Tat auf den Boden der Unkenntnis: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,34). Und als Petrus in Apg 3 ihnen ihre große Sünde vor Augen führte, gab er die Worte seines Herrn wieder: „Der Gott Abrahams und der Gott Isaaks und der Gott Jakobs, der Gott unserer Väter, hat seinen Knecht Jesus verherrlicht, den ihr freilich überliefert und angesichts des Pilatus verleugnet habt, als dieser geurteilt hatte, ihn freizulassen. Ihr aber habt den Heiligen und Gerechten verleugnet und gebeten, dass euch ein Mann, der ein Mörder war, geschenkt würde; den Urheber des Lebens aber habt ihr getötet“ (Verse 13-15). Aber er fährt dann mit den Worten fort: „Und jetzt, Brüder, ich weiß, dass ihr in Unwissenheit gehandelt habt, so wie auch eure Obersten“ (Vers 17). Saulus von Tarsus ist in mancher Hinsicht ein Bild von seinem Volk, ganz besonders jedoch darin: „...der zuvor ein Lästerer und Verfolger und Gewalttäter war; aber mir ist Barmherzigkeit zuteil geworden, weil ich es unwissend im Unglauben tat“ (1. Tim 1,13). Einzelne aus dem Volk sind von Gott direkt als Mörder Jesu Christi angeklagt worden - denken wir an die Verteidigung des Stephanus vor dem Synedrium (Apg 7) - und dementsprechend auch dem Gericht übergeben worden; aber die Nation als Ganzes (zumindest jedoch der Überrest) wird von Gott als Totschläger behandelt, der wiederhergestellt werden wird.

Wenn damals der Totschläger die Zufluchtstadt erreicht hatte, war er unter der Obhut des HERRN sicher; getrennt zwar von seinem Erbteil und Besitztum, aber bewahrt durch den HERRN. Dies beschreibt genau die Stellung Israels heute. Sie sind von ihrem Erbteil getrennt - denn der stolze Türke hat noch immer die Stadt Davids in seiner Gewalt (geschrieben um 1894) - aber das Auge des beständig treuen Gottes ruht auf ihnen, und sie sind noch als eine Nation erhalten. Welch ein eindrucksvolles Zeugnis für die Menschen, die dem Wort Gottes nicht glauben! Trotz ihrer beispiellosen Zerstreuungen und ihrer schweren Zucht unter der heiligen Hand Gottes, trotz all dem Hass und den Verfolgungen der hochmütigen Nationen - östliche und westliche - bestehen sie als Volk noch immer. Wo ist Moab? Wo Edom, Assyrien, Babylon usw.? Die Menschen mögen die Ruinen ihrer Paläste und Festungen entdecken und ausgraben; aber als Nation sind sie gestorben und vergangen, sie haben schon lange aufgehört zu existieren. Israel aber besteht deutlich sichtbar wie immer; eine eindrucksvolle Bestätigung der eigenen Worte des Herrn: „Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis dies alles geschehen ist“ (Mt 24,34; Mk 13,30; Lk 21,32). Der hier gebrauchte Ausdruck „Geschlecht“ darf nicht geschichtlich betrachtet werden, sonst geht die Schönheit dieser Schriftstelle verloren, sondern er ist moralisch zu verstehen; diese Worte garantieren tatsächlich die Bewahrung Israels als ein bestimmtes Volk bis ans Ende, bis das ganze prophetische Wort erfüllt sein wird.

Die Diener Gottes (die Leviten, die in den Zufluchtstädten wohnten) waren nach den Gedanken des HERRN zur Verwirklichung dieser Absichten bestimmt; sie wussten, dass ein Totschläger bis zu seiner endgültigen Wiederherstellung bewahrt werden sollte. Dies ist auch unser Vorrecht als Christen. Unser Gott hat uns in seinem Wort nicht nur mitgeteilt, was er für uns getan hat und noch tut, sondern er macht uns mit seinem ganzen Ratschlüssen vertraut. Und in solchen Schriftstellen wie Römer 11 haben wir die Entfaltung der göttlichen Gedanken in Bezug auf dieses in Frage stehenden Volkes. Gott wird sie noch wiederherstellen; sie sollen noch in den Besitz des guten Landes kommen - nicht auf dem Boden des Gesetzes, sondern auf dem der Gnade. Können wir uns dann verwundern, wenn Paulus beim Schreiben über diese wunderbaren Handlungen Gottes in diesen Lobpreis ausbricht: „O Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes! Wie unerforschlich sind seine Gerichte und unergründlich seine Wege!“ (Rö 11,33)?

Es ist interessant zu bemerken, zu welchem Zeitpunkt der Totschläger in sein Besitztum zurückkehren durfte: „...und er soll darin (der Zufluchtstadt) bleiben bis zum Tod des Hohenpriesters, den man mit dem heiligen Öl gesalbt hat“; „...und nach dem Tod des Hohenpriesters darf der Totschläger in das Land seines Eigentums zurückkehren“ (4. Mo 35,25.28).

So lange Christus seinen gegenwärtigen priesterlichen Dienst innerhalb des zerrissenen Vorhangs in der Herrlichkeit noch ausübt, wird Israel nicht wiederhergestellt werden. Während er dort vor Gott für uns tätig ist, bleibt Israel als Volk noch außerhalb ihres Landes an den Orten, wohin sie zerstreut worden sind. Aber es wird der Augenblick kommen, wo diese gegenwärtige Tätigkeit Christi beendet sein wird (denn in der Herrlichkeit werden wir dieses Dienstes nicht mehr bedürfen), und dann wird Gott seine Aufmerksamkeit wieder dem Samen Israels zuwenden. Es gibt zwei unterschiedliche Charaktere des Priestertums unseres Herrn Jesu, und es ist wichtig, sie vor Augen zu behalten: es sind die Charaktere des Priestertums Aarons und des Priestertums Melchisedeks. Er ist nicht Priester nach der Ordnung Aarons, da sein Priestertum nicht übertragbar ist; aber die Aufgaben und Funktionen Aarons geben uns ein Bild davon, was er jetzt für seine Heiligen im Heiligtum droben tut. Dies wird einmal ein Ende haben, und dann wird das Priestertum Melchisedeks folgen, welches in direkter Beziehung zu dem Überrest Israels steht. Das Priestertum Melchisedeks war nicht durch Opfer und Fürsprache gekennzeichnet, sondern er brachte dem Mann Gottes Brot und Wein heraus und segnete ihn im Namen Gottes, des Höchsten, der Himmel und Erde besitzt (1. Mo 14,19).

So wird Christus in zukünftigen Tagen handeln. Er wird hervorkommen, um solche (Juden) zu segnen, die in den bösen Tagen zu ihm gestanden haben - seine Überwinder - und er wird sie segnen und erfrischen, wie im Alten Bund der Patriarch erfrischt worden ist. Daher bleibt Israel als Nation noch ungesegnet, so lange der Herr Sein gnädiges Werk als Priester in der Gegenwart Gottes noch fortführt; aber durch die Barmherzigkeit Gottes wartet noch Segen auf sie. „Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er zuvor erkannt hat“ (Rö 11,2). Dann werden sie erkennen und verstehen, dass das kostbare Blut, das einst durch ihre Väter vergossen worden ist, allein Sühnung für die Seele tun kann, und dass es die einzige Grundlage des Segens sowohl für sie als auch für uns ist. Sacharja berichtet uns von ihrem Trauern an jenem Tag: „...und sie werden auf mich blicken, den sie durchbohrt haben, und werden über ihn wehklagen gleich der Wehklage über den einzigen Sohn und bitterlich über ihn Leid tragen, wie man bitterlich über den Erstgeborenen Leid trägt“ (Sach 12,10). An jenem Tag wird der Totschläger nicht versuchen, seine Tat zu rechtfertigen, sondern er wird die Gnade anbeten, die alles überdeckt.