Der Vielgeliebte
Hohelied 5,2-6,3; Epheser 5,25-27.29-32; Offenbarung 19,7

Mein Geliebter ist...

„Mein Geliebter ist weiß und rot, ausgezeichnet vor Zehntausenden“ (Hld 5,10).

Die Worte „weiß und rot“ weisen auf einen herrlichen Reichtum hin. Der erste der beiden Ausdrücke bezeichnet die heilige, reine und vollkommene Menschheit des „Geliebten“, in dem die ganze Fülle der Gottheit wohnt – körperlich und wesenhaft (Kol 1,19; 2,9).

Der zweite Ausdruck „rot“ deutet auf das kostbare Blut hin, das am Kreuz vergossen wurde, damit wir eine ewige Erlösung und die Vergebung aller unserer Sünden empfingen (Eph 1,7).

Der Geliebte ist „ausgezeichnet vor Zehntausenden“:

  • Er, der während der drei Stunden der Finsternis am Kreuz in der tiefsten Betrübnis seiner Seele allein gelassen zwischen der feindlichen Erde und dem verhüllten Himmel hing, ist danach in den Freuden der Auferstehungsherrlichkeit umringt worden von den „vielen Söhnen“ (Heb 2,10), seinen zahlreichen, erkauften „Genossen“ (Heb 1,9).
  • Er ist der treue und wahrhaftige Zeuge (Off 1,5; 3,14).
  • Er ist der Anfänger und Vollender des Glaubens (Heb 12,2).
  • Er ist es, der in seinen siegreichen Händen das Banner des Zeugnisses trägt.

„Er hat mich in das Haus des Weines geführt, und sein Banner über mir ist die Liebe“ (Hld 2,4).

Dieses kostbare Banner bildet ein machtvolles Zeichen zum Sammeln um seine anbetungswürdige Person. Das Zeugnis Gottes in dieser Welt ist das des Herrn selbst. Es gehört nicht etwa uns. Wir haben nicht das Recht, darüber nach unserer Willkür zu verfügen.

„Sein Haupt ist gediegenes, feines Gold, seine Locken sind herabwallend, schwarz wie der Rabe“ (Hld 5,11).

Es ist das kostbare Haupt dessen, der im Fleisch auf diese Erde gekommen ist (1. Joh 4,2), der wahrhaftige Gott und das ewige Leben (1. Joh 5,20b). In seiner erhabenen Majestät beweist er mit dem Glanz einer höchsten Feinheit und Reinheit die ganze Vollkommenheit der göttlichen Gerechtigkeit. Dieses hohe und geliebte Haupt ist dasselbe, das hier auf der Erde die Dornenkrone getragen hat (Mt 27,29; Mk 15,17; Joh 19,2). Die Dornen, die ihn um unserer Sünde willen verwundet haben (1. Mo 3,18), mussten sein heiliges Haupt, das die Soldaten verhöhnten und schlugen (Mt 27,30; Mk 15,19), blutüberströmt vor aller Welt darstellen. Dieses Haupt ist es, das am Kreuz, nachdem alles erfüllt war, sich neigte, als er verschied (Joh 19,30). Dieses Haupt ist es, das wir jetzt im Glauben im Tempel des Himmels mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt sehen an der Stätte höchster Glückseligkeit (Heb 2,9; 12,2). Bald werden wir ihn sehen von Angesicht zu Angesicht (1. Joh 3,2; 1. Kor 13,12), in der strahlenden Glückseligkeit des Vaterhauses, wo wir die ganze Ewigkeit mit dem Herrn der Herrlichkeit, unserem anbetungswürdigen Bräutigam, zubringen werden.

Seine Locken von rabenschwarzem Glanz, „herabwallend“, d. h. „gewellt“, geben Zeugnis von der wunderbaren Kraftfülle des Heilandes und lassen uns seine glänzende, ewige Jugendfrische erkennen. Mitten in den Mühen und Beschwerden seines Dienstes, wo sein Leiden auf der Erde beschrieben ist, hatte er keine Gestalt noch Schönheit, sein Aussehen war entstellt, mehr als irgendeines Mannes, und seine Gestalt mehr als der Menschenkinder (Jes 52,14; 53,2.3).

Gleichzeitig ist unser anbetungswürdiger Heiland nach Psalms 45, dem „Lied der Lieblichkeiten“, „schöner als die Menschensöhne“. In der ewigen Seligkeit des zukünftigen Auferstehungslebens werden wir diese Tatsache erst richtig würdigen und die erhabene Schönheit des Königs der Könige, unseres himmlischen Bräutigams, immer und unablässig bewundern.

Die Länge der wallenden Locken, die der Geliebte trägt, weist uns hin auf die vollkommene Weihe an Gott, die der wahre Nasiräer (4. Mo 6,5), der gerechte Knecht und vollkommene Diener des HERRN bewiesen hat.

„Seine Augen wie Tauben an Wasserbächen, badend in Milch, eingefasste Steine“ (Hld 5,12).

Die Augen des Vielgeliebten bieten ein machtvolles Bild. Sein Blick ist voll Einfalt und Zärtlichkeit wie das Auge der Taube (Mt 10,16). Die Pupille, der Augenstern, wird verglichen mit Wasserbächen, die für die Braut ein unversiegbarer Quell der Erfrischung sind, und das Weiße der Augen offenbart Glanz und Reinheit der Milch und stellt so bildlich die vollkommene Nahrung der Seele, die sich in der Person des Herrn darbietet vor: „die vernünftige, unverfälschte Milch“ (1. Pet 2,2).

Der Herr Jesus selbst ist das „lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist“ (Joh 6,51}. „Seine Worte sind Geist und Leben“ (Joh 6,63). „Ich bin das Brot des Lebens; wer zu mir kommt, wird nicht hungern, und wer an mich glaubt, wird niemals dürsten“ (Joh 6,35). Alles ist vollkommen, absolut vollkommen an der erhabenen herrlichen Person des Geliebten!

„Seine Wangen wie Beete von Würzkraut, Anhöhen von duftenden Pflanzen; seine Lippen Lilien, träufelnd von fließender Myrrhe“ (Hld 5,13).

Seine Wangen – diese Wangen, die die ungerechtfertigten Backenstreiche empfangen haben, den gemeinen Speichel der Bösen hinnahmen und denen die Ungerechten, die Spötter und Lästerer das Haar ausrauften (Jes 50,6; Joh 18,22; 19,3; Mt 27,30; Mk 15,19) – ja, seine Wangen sind gleich Beeten von Würzkraut, gleich duftenden Blumenkörben, köstlich sowohl für das Auge wie für den Geruch, denn es ist köstlicher Wohlgeruch, der ihnen entströmt. Dieser würzige Wohlgeruch erinnert die Geliebte unablässig an die Leiden des Vielgeliebten. Prophetisch hat die Heilige Schrift uns diese Tatsachen Jahrhunderte zuvor offenbart, ehe der Heilige vor Gericht gestellt und ans Kreuz gebracht wurde!

Die Lippen des Heilandes gleichen Lilien von überirdischer Schönheit, sie träufeln fließende Myrrhe, deren Tropfen an Tränen erinnern. Es sind die kostbaren Belehrungen, die Unterweisung gereift durch Leiden, die der Sanftmütige und von Herzen Demütige erteilt, das wirksame Vorbild des königlichen Lammes, der, der sich aller seiner Rechte berauben, gegen alle Gerechtigkeit verurteilen und sich schließlich an das Fluchholz des Kreuzes nageln ließ. Aus seinem heiligen Mund gingen trotz der gemeinsten Ungerechtigkeiten und schlimmsten Schmerzen, die man ihm zufügte, weder Klagen noch Ausbrüche des Zorns, weder Proteste noch Drohungen hervor (Jes 53,7). Nur Gnade leuchtete auf den Lippen unseres Herrn, als der Widerspruch der Sünder gegen seine anbetungswürdige Person entfesselt wurde (Ps 45,2; Heb 12,3). Und diese Gnade, die auf den Lippen unseres Vielgeliebten glänzt, wird in Herrlichkeit die ganze Ewigkeit hindurch strahlen.

„Seine Hände goldene Rollen, mit Chrysolithen besetzt; sein Leib ein Kunstwerk aus Elfenbein, bedeckt mit Saphiren“ (Hld 5,14).

Seine Hände, die in höchstem Maß und unumschränkt allezeit die göttliche Gerechtigkeit wirkten, werden verglichen mit goldenen Rollen, deren Lauf weder Anfang noch Ende hat. Es sind Hände absoluter und ewiger Vollkommenheit.

  • Es sind die kostbaren Hände, welche ausgestreckt sind über die schuldbeladene Menschheit, um sie zu segnen, und die an allen in Empörung wider Gott befindlichen Menschen mit unablässigem Mitgefühl und Mitleid Wohltat auf Wohltat geübt haben.
  • Es sind die anbetungswürdigen Hände, die der Hass und die Verkehrtheit der Bösen zur Vermehrung seiner Schmerzen und Leiden durchbohrt haben.
  • Es sind dieselben Hände, die die glorreichen Wundenmale tragen, die der Herr, verkannt und verworfen von den Seinen, von denen erhalten hat, die er in Gnaden seine Freunde nannte. In Psalm 22,17 und Sacharja 13,6 ist geweissagt: „Sie haben meine Hände und Füße durchgraben.“ „Und wenn jemand zu ihm spricht: Was sind das für Wunden in deinen Händen?, so wird er sagen: Es sind die Wunden, womit ich geschlagen worden bin im Haus derer, die mich lieben.“

Diese göttlichen Hände, fähig für die zartesten Arbeiten und zu jedem guten Werk völlig geschickt, sind mit Topasen, kostbaren Edelsteinen, besetzt, diese Hände zart und allezeit hilfsbereit, diese Hände durchbohrt für uns, diese Hände, die für ewig das Gedächtnis seiner Leiden am Kreuz wach erhalten, sie sind und bleiben offen über uns, um uns zu segnen. Wenn Gott uns hier betrübt, so geschieht dies nur zu dem Zweck, dass wir durch Gnade besser verstehen lernen, was für eine anbetungswürdige Person dieser Heiland ist, dass wir die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden kennen lernen (Phil 3,10).

Die ganze Ewigkeit hindurch werden wir die glückseligen Ergebnisse der schweren Prüfungszeiten sehen, die die Liebe unseres großen Gottes und Heilandes Jesus Christus uns hier bereitete. Uns, die wir auf der Erde auf das tiefste betrübt und durch das bitterste Leid geführt worden sind, wir sind es, denen der Herr das schönste und köstlichste Teil gibt. Seine Hände sind geschickt. Er macht alles wohl. Ehre sei ihm ewiglich!

Der Leib des Geliebten ist der Sitz seiner Gefühle. Das tut uns auf liebliche und zarte Weise kund, wie lieb er uns hat, wie teuer wir in seinen Augen sind. Das Herz des Herrn wünscht sich uns je länger umso reicher zu erschließen (Joh 14,21). Sein weißer Leib, gleich einem Kunstwerk von Elfenbein, stellt uns die Vollkommenheit der heiligen und erhabenen Menschheit unseres Herrn vor Augen.

Der Saphir, der bekanntlich blau ist, deutet auf den Himmel hin, von woher der zweite Mensch, der letzte Adam herabgestiegen ist (1. Kor 15,45–47). Unser herrlicher Heiland ist ja zu gleicher Zeit Gott und Mensch. Die Saphire stellen die himmlischen, göttlichen Gnadengaben des Herrn der Herrlichkeit dar, sie schmücken aber andererseits auch die Vollkommenheiten seiner heiligen Menschheit. Alles ist wunderbar und bewundernswert an den Zuneigungen dessen, den wir lieben, weil er uns zuerst geliebt hat (1. Joh 4,19).

„Seine Schenkel Säulen aus weißem Marmor, gegründet auf Untersätze aus feinem Gold; seine Gestalt wie der Libanon, auserlesen wie die Zedern“ (Hld 5,15).

Die Schenkel des Geliebten sind gegründet auf Untersätze von feinem Gold. Das will sagen: Sein Wandel hier war auf das unvergleichlich kostbare Gold göttlicher Gerechtigkeit gegründet. Die Schenkel sind zu vergleichen mit festen Säulen, die den Glanz und die Reinheit des weißen Marmors besitzen. Es sind die Beine, die sich hier müde liefen, als er, der Heiland, von Ort zu Ort wandelte, um wohlzutun (Apg 10,38.39). Die Beine, die auch die furchtbaren Qualen des Kreuzestodes mitzutragen hatten (Ps 22,17). Im Geist, im Glauben, sehen wir den Heiland wandeln, vom Anfang seines gesegneten Dienstes an, als Johannes der Täufer über ihn die Worte sprach: „Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt“; „Siehe, das Lamm Gottes“ (Joh 1,29.36). Alles an dem Vielgeliebten hat seinen Wert für das Herz der Geliebten. Kein Zug, keine Einzelheit dieser anbetungswürdigen Person entgeht dem Forschen ihrer Liebe.

Dann kommen, wie am Anfang der wunderbaren Beschreibung, die allgemeinen Charakterzüge des Vielgeliebten: „Seine Gestalt wie der Libanon“ (vgl. Jes 60,13), „sein Anblick wie die Pracht der Zedern“ (Ps 92,13; 104,1.16). Der Glanz und die Majestät des Herrn lassen uns unsere erschreckende Kleinheit empfinden. Und je mehr wir unsere Kleinheit in dem strahlenden Lichtglanz des Herrn und seiner überwältigenden Größe wahrnehmen, umso kostbarer und wertvoller wird unseren Herzen seine anbetungswürdige Person.

„Sein Gaumen ist lauter Süßigkeit, und alles an ihm ist lieblich. Das ist mein Geliebter, und das mein Freund, ihr Töchter Jerusalems!“ (Hld 5,16).

Der Gaumen des demütigen und sanftmütigen Herrn (Mt 11,29) ist lauter Süßigkeit für die, die seine Frucht genießen (vgl. Hld 2,3). Wie süß ist der Gaumen dessen, der auf der Erde war und jetzt in der Herrlichkeit wohnt. Das Wort wurde Fleisch, der vollkommene Ausdruck dessen, was und wer Gott ist. Er ist der Ausdruck von all dem, was Gott denkt, von all dem, was Gott sagt, er ist die beredte und vollkommene Verkörperung der Wahrheit (Joh 1,14; 17,17; 15,26; 2. Kor 4,6; Kol 2,9).

Er ist es, der uns die Mitteilungen seines Vaters hören und verstehen lässt (Joh 3,34; 12,49.50; 14,10; 17,8). Die Worte des Heilandes sind voller Gnade und Wahrheit (Joh 1,14). Alle seine Worte sind Geist und sind Leben (Joh 6,63). Er ist der gute Hirte, der seine Schafe mit Namen kennt, der sie leitet, der sie nährt mit den Schätzen seiner Liebe, der sie um sich versammelt und jederzeit um ihr Wohl und Heil bemüht ist (Ps 23; Joh 10). Er ist das Brot des Lebens, das Brot, das vom Himmel gekommen ist. Er ist es, der das Wasser besitzt, das den Durst der Seele auf immer stillt (Joh 4; 6). Die Schafe hören seine liebevolle Stimme und folgen ihm (Joh 10,3.4.27). Die Geliebte setzt sich zu den Füßen des Geliebten, um seinem Wort zuzuhören (Hld 2,3). Ihr Teil ist das kostbare Teil der Maria von Bethanien, das nicht von ihr genommen werden wird in Ewigkeit (Lk 10,42).

Alles, was die betrachteten Verse enthalten, fasst der letzte Satz harmonisch zusammen: „Das ist mein Geliebter, und das ist mein Freund“, sagt die Geliebte. Alles ist leuchtende Gnade, glänzende Schönheit, ausgezeichnete Anmut, allerhöchste Majestät, bewunderungswürdige Größe, herrlicher Ruhm, unbegrenzte Macht in der anbetungswürdigen Person des Vielgeliebten. Ach, könnten doch unsere Herzen sich immer enger und fester mit dieser wunderbaren Person verbinden! (Jes 9,5).

„Wohin ist dein Geliebter gegangen, du Schönste unter den Frauen? Wohin hat dein Geliebter sich gewandt? Und wir wollen ihn mit dir suchen“ (Hld 6,1).

Das Zeugnis, das die Geliebte abgelegt hat, bleibt nicht ohne Frucht. Die Anteilnahme derer, die es hörten, ist geweckt. Die Töchter Jerusalems sagen: „Wohin ist dein Geliebter gegangen, du Schönste unter den Frauen? Wohin hat dein Geliebter sich gewandt? Und wir wollen ihn mit dir suchen“. Das gilt in gleicher Weise auch für uns. Durch die Gnade und Güte des Herrn, dessen Kraft in der Schwachheit erfüllt wird (2. Kor 12,9), wird sich stets dies erweisen: Wenn wir ein gotteswürdiges Zeugnis abgelegt haben, werden sich Seelen angezogen fühlen und werden wünschen, ihn mit uns zu suchen. Nichts hat stärkere Zugkraft auf solche Seelen als eine reine, ungefärbte Liebe zu dem Herrn, dem unser Leben geweiht ist. Die Liebe wird stets das Mittel finden, sich in einer gotteswürdigen Weise über die Person auszudrücken, die sie liebt.

„Mein Geliebter ist in seinen Garten hinabgegangen, zu den Würzkrautbeeten, um in den Gärten zu weiden und Lilien zu pflücken“ (Hld 6,2).

In diesem Vers sehen wir die Antwort der Geliebten. In treffender Weise fasst die Braut alles zusammen, was der Herr ist und was er tut.

„Und siehe, eine Stimme ergeht aus den Himmeln, die spricht: Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe“ (Mt 3,17).

Unser anbetungswürdiger Heiland ist der Vielgeliebte, der Geliebte Gottes. Schon vor Grundlegung der Welt, ja von Ewigkeit her hatte der Herr Jesus, wie wir aus Sprüche 8,22–31 ersehen können und wie es die anderen Schriftstellen (Joh 1,1.2; 1.Joh 1,2) aussagen, einen persönlichen Platz bei Gott. „Ich war Werkmeister bei Ihm und war Tag für Tag seine Wonne“. Bei zwei feierlichen Gelegenheiten, nämlich zuerst bei der Taufe Jesus im Jordan, dann auf dem Berg der Verklärung, wurde vom Himmel her die Stimme des Vaters gehört: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe“ (Mt 3,17; Mk 1,11; Lk 3,22; Mt 17,5; Mk 9,7; Lk 9,35; 2. Pet 1,17).

Wie uns Matthäus 12,18 zeigt, ist der Herr Jesus gemäß der Weissagung aus Jesaja 42,1 „der auserwählte Knecht des HERRN, an dem Gottes Seele Wohlgefallen hat“. Matthäus führt diese Stelle nach der griechischen Übersetzung der Septuaginta an und fügt die Worte “Mein Geliebter“ hinzu. Diese Beifügung passt dem Charakter nach zu dem neuen Testament, denn erst hier wird die Offenbarung des Sohnes Gottes völlig enthüllt. Das Neue Testament zeigt uns, dass der Herr Gegenstand der Liebe des Vaters ist, besonders hinsichtlich seines Werkes am Kreuz. Der Evangelist Johannes gibt uns das bemerkenswerte, wichtige Wort aus dem Mund des Heilandes:

„Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben lasse, damit ich es wiedernehme. Niemand nimmt es von mir, sondern ich lasse es von mir selbst. Ich habe Gewalt, es zu lassen, und habe Gewalt, es wiederzunehmen. Dieses Gebot habe ich von meinem Vater empfangen“ (Joh 10,17.18).

Wenn wir Gott angenehm, d. h. annehmbar gemacht sind, so ist dies geschehen „in dem Geliebten“ (Eph 1,6), in dem Geliebten des Vaters, der aus Gnaden jetzt auch unser persönlicher Geliebter ist, denn Gott lädt uns ein, teilzunehmen mit ihm an dem wunderbaren Gegenstand seiner heiligen Freude und seines Wohlgefallens. So, wie die Geliebte im Hohenlied, aber in noch höherem, innigerem und zarteren Sinn, kann die himmlische Braut, die glückliche, erlöste Versammlung des Herrn, sprechen – und dies bereits hier auf der Erde, und zwar in Dankbarkeit, Anbetung und Entzücken dem gegenüber, der sie geliebt und sich selbst für sie hingegeben hat, Der sie hegt und pflegt in unwandelbarer Treue und sie überschüttet mit ewigen Freuden: „Mein Geliebter“.

Was hat der Geliebte getan? „Er ist hinabgegangen.“ Aus der Höhe der Herrlichkeit des Himmels ist er herabgekommen als Antwort des Verzweiflungsschreis der Menschen, die verloren, ohnmächtig und hilflos waren: „O dass Du die Himmel zerrissest, herniederführest!“ (Jes 63,19). Diese Stelle bezieht sich prophetisch auf das Volk Israel. Dieser Schrei drückt deutlich die Angst und Not des ganzen Menschengeschlechts aus, angesichts des unheilbaren Schadens, wenn der Mensch erst einmal seine Sündenverderbtheit, seine absolute sittliche Unfähigkeit erkannt hat! Gott antwortet allen Bedürfnissen seiner Geschöpfe! Wenn die Seele Licht empfangen hat über die Vergeblichkeit aller menschlichen Anstrengungen, sich selbst von der Sünde zu befreien, und diesen Ruf ausstößt: „O dass du die Himmel zerrissest!“, wird sie bald die Antwort auf alle Angst, die sie ausgestanden hat, finden, nämlich in dem Kommen des Gottessohnes, der vom Himmel herabstieg, sich selbst entäußerte, Knechtsgestalt annahm, in Gleichheit der Menschen wurde, und in seiner Gestalt und Haltung wie ein Mensch erfunden, sich selbst erniedrigte, indem er gehorsam wurde bis zum Tod, ja zum Tod am Kreuz (Joh 3,13; Phil 2,5–8). Der Zusammenhang der Stelle sagt uns, wie, wo und warum der Geliebte herabgekommen ist.

Der Geliebte ist in seinen Garten hinabgegangen. Er kam „in das Seine“ (Joh 1,11). Unser herrlicher Heiland selbst sagte zu der Samariterin: „Das Heil ist aus den Juden“ (Joh 4,22). Der Heiland ist in Israel geboren. Er ist „unter Gesetz geboren“, wie Paulus (Gal 4,4) es schreibt. Und in seinem Brief an die Römer schreibt derselbe Apostel: „Deren die Vätern sind und aus denen, dem Fleisch nach, der Christus ist, der über allem ist, Gott, gepriesen in Ewigkeit“ (Röm 9,5).

Aber der Heiland kam nicht nur den Verheißungsworten für das Volk Israel in Jesaja 11,1 und Jesaja 53,2 gemäß „wie ein Schössling“ oder „wie ein Spross aus dürrem Erdreich“, sondern auch wie die Geliebte ruft: „Mein Geliebter ist in seinen Garten hinabgegangen, zu den Würzkrautbeeten“ (Hoh 6,2). Was bedeutet das? Die ersten zwei Kapitel im Evangelium des Lukas bieten uns eine herzerquickende Anschauung des gläubigen Überrests in Israel. Zu diesem Überrest gehörten nicht nur die Familie und die Bekannten der Mutter Maria, sondern auch der edle, greise Simeon und die ehrwürdige Prophetin Hanna (Anna), Seelen, die in Wahrheit mit Geduld und Liebe auf den Trost und die Ankunft des Messias gewartet haben. Diese sind es, die inmitten eines undankbaren und gottfeindlich eingestellten Volkes diese geistlichen „Würzkrautbeete“ darstellen, deren kostbarer Duft zu Gott aufstieg. So sehen wir, wie das Erscheinen des Geliebten auf der Erde voller Gnade und Wahrheit war; wir verstehen, dass der letzte Adam, der zweite Mensch, vollkommen und wahrhaftig vom Himmel ist (1. Kor 15,47).

Aber der Herr der Herrlichkeit ist nicht nur auf die Erde herabgekommen, er ist aus Gnaden auch in den Tod und ins Grab gegangen. Auf dem Holz des Kreuzes hat Er bekannt, getragen und gesühnt die Menge unserer schrecklichen Sünden (Ps 40,13; 1. Pet 2,24). Er, der Heilige und Gerechte, „der Sünde nicht kannte“, wurde „für uns zur Sünde gemacht, damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm“ (2. Kor 5,21). Er ist um unserer Übertretungen willen verwundet, um unserer Missetaten willen zerschlagen worden. Die Strafe zu unserem Frieden lag auf ihm und durch seine Striemen ist uns Heilung geworden (Jes 53,5.6). Er ist unser vollkommener Stellvertreter während der drei Stunden Finsternis vor seinem Tod, unter der Zornesglut des gerechten Gottes über die Sünde im Allgemeinen und über unsere Sünden insbesondere.

Er ist hinabgestiegen in die unerbittlichen Tiefen des Todes, dessen Herrschaft seine Seele ausgekostet und ergründet hat (Ps 22). Durch den Tod hat Er den zunichte gemacht, der die Macht des Todes hat, das ist der Teufel, und hat alle die befreit, die durch Todesfurcht das ganze Leben hindurch der Knechtschaft unterworfen waren (Heb 2,14.15). „Bei einem Reichen ist er gewesen in seinem Tod, weil er kein Unrecht begangen hat und kein Trug in seinem Mund gewesen ist“ (Jes 53,9). Josef von Arimathia, dieser gerechte und fromme Mann, dieser ehrbare Ratsherr und reiche Grundbesitzer, der nahe an der Stätte der Hinrichtung einen Garten besaß, wo er sich nach altem Brauch der Reichen von Jerusalem in einem Felsen ein Grab hauen lassen hatte, wickelte den Leib des Herrn in reine, feine Leinwand und legte ihn in die neue Gruft (Mt 27,57–60; Mk 15,42–46; Lk 23,50–54; Joh 19,38–42). Das ist das neue Grab, in das noch niemals jemand gelegt worden war (Lk 23,53; Joh 19,41), dorthin wurde der Leib des Herrn gebracht, und zwar unter solchen Umständen, dass kein Mensch auch nur den leisesten Zweifel hegen konnte hinsichtlich der Identität dessen, der dann bald von hier aus den Glanz und die Herrlichkeit seiner sieghaften Auferstehung verkündigen lassen sollte. So ist denn der Garten des Josef von Arimathia auch der Garten des Geliebten geworden, und zwar nach dem Ratschluss Gottes, der seinen Sohn Jesus mit Ruhm und Ehre krönt, nach der Schmach und Qual des Opfers am Kreuz! Dieser Garten Josefs ist aber auch ein Bild jener Würzkrautbeete, insofern, weil nach dem Bericht des Evangelisten Johannes, Josef von Arimathia und Nikodemus den Leib des Herrn Jesus nahmen, ihn in leinene Tücher wickelten mit den Spezereien, wie es bei den Juden Sitte ist, zum Begräbnis zuzubereiten (Joh 19,39.40). Herrlicher Garten der Auferstehung, durchduftet vom Geruch des Lebens, ganz nahe der Schädelstätte Golgatha (Joh 19,42). Eine Grabstätte, von wo aus der Vielgeliebte, auferweckt durch die Herrlichkeit des Vaters, sein Leben wieder an sich nahm, nachdem er es gelassen hatte (Röm 6,4; Joh 10,17), von wo aus er sieghaft und für ewig triumphierend auferstanden ist!

Sind wir geprüft, bekümmert, bedrückt, gequält, vielleicht in unseren besten Gefühlen gekreuzigt, so können wir, wenn man so sagen will, gerade in der Nähe der Stätte unseres Leidens den Garten des Geliebten finden, d. h. die Stätte, wo wir wie Maria Magdalena mit dem auferstandenen Herrn eine persönliche Begegnung haben dürfen (Joh 20,1.11–18). Lernen wir ihn wirklich kennen, die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden (Phil 3,10), dann wird unser Schmerz, unsere Not bald unter dem Lichtglanz einer tiefen, verklärten, ja einer ewigen Freude verschwunden sein. Wie ist die Kleidung der Braut? Sie trägt Kleider durchduftet von Myrrhe, Aloe und Kassia; der kostbare Duft der Leiden ihres Geliebten wird auch an ihr wahrgenommen (Joh 19,39; Ps 45,9). Das ist der Schmuck der Braut, der dem Herrn der Herrlichkeit, seiner Würde und seiner Liebe entspricht.

Der Vielgeliebte, der um den Preis seines unschuldigen, heiligen Leidens alle Vorzüge, alle Segnungen erworben hat, deren wir uns heute erfreuen und deren wir uns die ganze Ewigkeit hindurch werden freuen dürfen, der Gute Hirte, der sein Leben gelassen hat für seine Schafe und der sein Leben wiedergenommen hat in dem Strahlenglanz seiner Auferstehung – er hat Wohlgefallen daran, seine Herde in den Gärten seiner Liebe weiden zu lassen. Er kennt all die Seinen mit Namen. Er kümmert sich um einen jeden von uns. Mit vollkommener Liebe und Zartheit trägt er Sorge für uns. Er führt uns sanft. Unablässig hütet und schützt er uns. Er lässt uns jederzeit seine Hilfe, seinen Rat, seinen Schutz zuteil werden. Er hegt und pflegt und nährt uns. Er hat uns lieb (Joh 10; Jes 40,11). Er hat Gefallen daran, alle seine Schafe zu einer Herde um seine anbetungswürdige Person zu vereinigen: Es wird eine Herde, ein Hirte sein (Joh 10,16).

Ein weiterer Zweck, den die Liebe des Herrn sich gesteckt hat, ist: Lilien zu pflücken. Betrachten wir die Lilien, wie sie wachsen; sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht; aber selbst Salomo in seiner ganzen Herrlichkeit war nicht bekleidet wie eine dieser (Lk 12,27; Mt 6,28). Die erhabene Schönheit der Lilien kommt von Gott allein. Die Menschen, die nicht einmal die irdische Schönheit der Lilien hervorzubringen vermögen, können noch viel weniger sich in die kostbaren Gewänder der göttlichen Gerechtigkeit kleiden. Nichts, aber auch gar nichts kommt dem herrlichen Schmuck gleich, den das vollkommene, ein für allemal vollbrachte Werk des Vielgeliebten am Kreuz zustande gebracht hat für seine teuer Erkauften (Joh 19,28–30; Heb 9,11–14). Und der Herr der Herrlichkeit, nach der Qual und Schmach der Kreuzigung auferstanden, will auch heute noch Lilien pflücken, um diese in einem immer schöneren, reicheren, prächtigeren Strauß zu vereinigen. Dieser wundervolle Strauß, unaufhörlich frisch gehalten, durch die Liebe des großen, guten Hirten, ist dazu bestimmt, in ewiger Herrlichkeit zu blühen und niemals zu welken. Der Geliebte, der unter den Lilien weidet, wird die Frucht der Arbeit seiner Seele sehen und sich daran sättigen (Jes 53,11).

„Ich bin meines Geliebten; und mein Geliebter ist mein, der unter den Lilien weidet“ (Hld 6,3).

In diesem Vers sehen wir, wie die Geliebte sich freut, ihrem Geliebten zu gehören, zu wissen, dass ihr Geliebter ihr gehört und die Wohltaten dessen, den sie zärtlich liebt, zu kennen. Diese Stelle zeigt einen höheren Stand, als ihn Hohelied 2,16.17 angeben, wo die Geliebte sagt: „Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein, der unter den Lilien weidet. Bis der Tag sich kühlt und die Schatten fliehen“. In Kapitel 6,3 denkt die Geliebte zu allererst an die Rechte des Geliebten, während sie im 2. Kapitel zuerst an sich selbst denkt. Aber nun können wir noch auf eine dritte Stelle zu sprechen kommen, die einen noch höheren Standpunkt zeigt: Im Hohelied 7,11 hat die Geliebte gar keinen Raum mehr für ihre eigenen Gedanken, sondern sie denkt nur an ihren Geliebten und spricht: „Ich bin meines Geliebten, und nach mir ist sein Verlangen“.

Indem wir auf das volle Licht der ewigen Seligkeit und den Anbruch der Hochzeit des Lammes in den höchsten Freuden der Auferstehung unseres Herrn harren (Spr 4,18; Off 19,7), zieht der Herr der Herrlichkeit unsere Herzen dem Himmel zu, wohin er als unser Vorläufer eingegangen ist (Heb 6,20). Doch sein Herz in ihm ist auf die Erde gerichtet nach dem Kampfplatz, wo die Seinen sich mühen und leiden. „Worin er selbst gelitten hat, als er versucht wurde, vermag er denen zu helfen, die versucht werden“ (Heb 2,18). Der Geliebte sendet den Lichtstrahl seiner kostbaren Liebe und seiner reichen Tröstungen auf alle unsere Wunden. Ebenso wie die durchbohrten Hände, die durchbohrten Füße, die durchbohrte Seite, in alle Ewigkeit das Gedächtnis der Kreuzesleiden und Todespein des Geliebten, jetzt Verklärten, wach erhalten werden, ebenso werden zum Lob der göttlichen Gnade die gesegneten Ergebnisse der Mühsale und Leiden, denen wir uns während unseres Wandels auf dieser Erde unterzogen hatten, im Himmel für immer leuchten als eine kostbare Frucht der Liebe des Herrn (Joh 20,20.27; 1.Joh 3,2; 2. Kor 4,17; Kol 3,4).

Schließlich wird die Braut nur den Vielgeliebten lieben. Seine reine und unermessliche Liebe wird ihren Ausdruck finden in den heiligen Kundgebungen seines vollkommenen Herzens in ewiger Glückseligkeit. Und der Geliebte, auf den in Zephanja 3,17 geweissagt wurde, ist „ein rettender Held. Er freut sich über dich mit Wonne, er schweigt in seiner Liebe“; oder wie man auch übersetzen kann: „Er ruht in seiner Liebe, er frohlockt über dich mit Jubel.“

Er wird aufs höchste und herrlichste verherrlicht in der unwandelbaren Freude des himmlischen Frühlings, diesem strahlenden Frühling, der, wie Gott selbst, ewig bleiben wird!

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