Der Vielgeliebte
Hohelied 5,2-6,3; Epheser 5,25-27.29-32; Offenbarung 19,7

Das Wecken der Liebe

Buchstäblich genommen ist „die Geliebte“ im Hohenlied nicht die Versammlung, sondern der gläubige Überrest Israels, dargestellt als irdische Braut des Königs der Ehren, während die Versammlung ja seine himmlische, ewige Braut ist. Aber wir wissen, dass die Auslegung der prophetischen Aussagen der Schrift sehr reich und mannigfaltig sind. Wenn es gewisse Schriftstellen gibt, deren buchstäbliche Anwendung Israel angeht, so enthalten diese Stellen doch auch eine moralische Sicht schöner Art für uns, für die Versammlung (griech. ekklesia). Und diese moralische Anwendung zielt unmittelbar darauf hin, die himmlische Braut des Herrn in ein noch erhabeneres, tief innerlicheres, zarteres Verhältnis zum Herrn zu versetzen, als dies bei dem Überrest Israels der Fall ist bzw sein wird. So finden wir darin eine Quelle tiefer Erbauung und Ermunterung und gewinnen ganz neue Gesichtspunkte in der Betrachtung des Hohenlieds.

Wir erfahren und erleben also das, wovon unsere Abhandlung redet.

Die Geliebte schläft; aber ihr Herz bleibt wach trotz des Schlummers. So erkennt sie sofort die süße Stimme des Geliebten, der an ihre Türe klopft und sich mit rührender Zartheit an sie wendet:

„Ich schlief, aber mein Herz wachte. Horch! Mein Geliebter! Er klopft: Mache mir auf, meine Schwester, meine Freundin, meine Taube, meine Vollkommene! Denn mein Haupt ist voll Tau, meine Locken voll Tropfen der Nacht“ (Hld 5,2).

In Wahrheit: Wer könnte solch eine feine, innige Sprache führen, wenn nicht der vielgeliebte Heiland und Herr, welcher die Gnade Gottes auf diese Erde gebracht hat und der jetzt in seiner wundervoll unbeirrbaren Liebe alle die Seinigen in seinem hohenpriesterlichen Gebet vertritt und welcher in dem Glanz seiner heiligen und vollkommenen Menschheit unter den Mühen seines ihm von Gott aufgetragenen Dienstes die Nacht draußen im Gebet zubringt (Lk 6,12; 21,37; 22,39)?

Der Herr klopfte an unsere Tür. Wie oft haben wir es – trotz unserer himmlischen Berufung – wie die Geliebte im Hohenlied gemacht. Sie hat ihr Kleid ausgezogen, sie hat ihre Füße gewaschen, sie hat es sich bequem gemacht in ihrer Wohnung. Er hat es sich etwas kosten lassen, sie zum Aufstehen zu bewegen, damit sie ihm öffne. Aber sie hat gezögert. Dann war der Geliebte weitergegangen, doch nicht ohne die Hand ausgestreckt zu haben und – der schönen orientalischen Sitte gemäß – an den Griffen der Riegel das Zeichen seiner Gegenwart zurückgelassen zu haben: Den zarten Duft seiner Leiden und seiner Liebe. Das Herz der Geliebten war stark bewegt, aber sie hatte eben die Tür so spät aufgetan, dass der Geliebte weitergegangen war.

Ist uns so etwas noch nie geschehen? Ohne Zweifel – wir lieben den Herrn, denn er hat uns zuerst geliebt. Aber wie oft haben wir ihn nicht innig genug wiedergeliebt, um wirklich seine Ehre im Auge zu haben und ihm die Tür aufzutun zur rechten Zeit! Vielleicht haben wir erst unsere eigene Ruhe und Bequemlichkeit gesucht, vielleicht erst noch etwas von den Lüsten dieser Welt genießen wollen. Unsere zerstreuten Herzen lassen sich so leicht von den irdischen Dingen gefangen nehmen. Unter solchen Verhältnissen kann naturgemäß der Heilige Geist nicht in uns den vollen, kostbaren Dienst zustande bringen, den er ausrichten will. Wir haben einen schweren, unabsehbaren Verlust erlitten. Unsere sträfliche Nachlässigkeit hat uns um eine gnädige Begegnung mit unserem Geliebten gebracht! Der Herr ist weitergegangen. Inzwischen aber hat der Herr doch zu unseren Herzen geredet, indem er an den Griffen unserer Riegel das kostbare Zeugnis seines Vorbeikommens hinterlassen hat, denn: Er ist Liebe!

Aber dann kam für uns, genau wie für die Braut im Hohenlied, eine schmerzliche Zeit. Wir haben unseren Geliebten gesucht und gerufen, und der Herr schien, um unseren Seelen erst später die Größe und Kostbarkeit seiner anbetungswürdigen Person klar zu machen, sich zunächst völlig zu entziehen und auf unser Rufen und Schreien nur durch Stillschweigen zu antworten. Wir mussten Wege des Kummers und der Betrübnis, der Vereinsamung und des Verlassenseins gehen. Wir hatten durch Tiefen zu wandeln, um die Taten des HERRN zu sehen und seine Wunderwerke kennen zu lernen (Ps 107,24).

Das Leiden spielt notwendigerweise eine sehr bedeutsame Rolle im Leben des Christen. Wir sind Jünger dessen, der der Mann der Schmerzen ist, wir sind Schüler dessen, der in der Tat infolge seiner Leiden und der Mühsal seiner Seele auf der Erde keine Gestalt noch Schönheit hatte (Jes 52,14; 53,2.3). Andererseits ist er, im Hinblick auf seine sieghafte Auferstehung, der Schönste unter den Menschenkindern (Ps 45,3). In der Tat können wir im wahren Christentum nichts Gutes, nichts wirklich Nützliches lernen. Oft führt der Weg durch durch Leiden. Dadurch sucht der Herr der Herrlichkeit unsere Herzen empfänglich zu machen für das rechte Verständnis seiner Leiden. Bis in sein Sühnleiden, an dem wir doch sonst in keiner Weise teilhaben könnten, hat unser vielgeliebter Herr uns ein Beispiel hinterlassen, dass wir seinen Fußstapfen nachfolgen sollen. So lesen wir es in 1. Petrus 2,21–24.

Der Apostel Paulus, der uns im Philipper 3 auf die höchsten Höhen des christlichen Lebens und Wandelns führt, verurteilt sein eigenes Herz und sucht die Heiligen in die Nähe des Herrn der Herrlichkeit zu führen, „um ihn zu erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden“ (Phil 3,10). Wenn es nötig ist, hier zu leiden, ja selbst Unrecht zu leiden, um den Herrn kennen zu lernen, ihm zu dienen und ihn zu verherrlichen, dann lohnt sich diese Mühe! Die gesegnete Frucht all unserer Glaubensproben, unserer Kümmernisse, wird einst im Himmel in Herrlichkeit die Ewigkeit hindurch vor dem Lamm Gottes leuchten! Der gerechte Knecht des Höchsten wird „die Frucht der Mühsal seiner Seele sehen und sich sättigen“ (Jes 53,11).

Im weiteren Verlauf des Hohenliedes sehen wir die Geliebte geschlagen, verwundet und ihres Schleiers beraubt, ja, mancherlei schweren Drangsalen ausgesetzt. Ihre Unwürdigkeit ist ihr selbst zum Bewusstsein gekommen, sie ist aber auch vor aller Welt offenbar geworden. So ist es der Herr selbst, der es zulässt, dass wir mitten in der Stunde der Erprobung und des Kummers die praktische Erfahrung unserer völligen Schwachheit und Unzulänglichkeit machen, damit wir dadurch um so besser die majestätische Größe und die überragende Hoheit seiner anbetungswürdigen Person begreifen und kennen lernen.

So werden unsere Herzen befähigt, die ganze Schönheit und den vollen Wert des Vielgeliebten zu unterscheiden. Und wenn der Herr auch anfänglich so tut, als höre er unser Rufen nicht, so geschieht dies doch nur zu dem Zweck, dass wir uns selbst tiefer kennen und uns selbst richten lernen sollen, damit wir besser verstehen lernen, wer Er ist! Er betrübt uns, um uns danach segnen zu können. Durch Betrüben, durch Leid bereitet er uns für seinen Dienst hier und für die ewige Herrlichkeit zu. Das sind wertvolle Erfahrungen, die überaus segensreich sind!

Ohne Zweifel können sich unsere Herzen nicht aus eigener Kraft zu den Höhen des Herrn erheben. Aber wenn die Liebe des Herrn für uns dies als Preis besitzt, dass wir trotz unserer außerordentlich großen Schwachheit in den Stand versetzt werden, mit anderen Menschen von dem Herrn zu sprechen und in Echtheit ihre Anteilnahme an den Gnadengaben und Verdiensten unseres teuren Herrn zu erwecken, dann ist die Frucht des Werkes Gottes in uns ein Zeugnis geworden, dass aus unserer Schwachheit gewirkt und zu Ehren der hochgelobten Person des „Sohnes seiner Liebe“ ist (Kol 1,13). Für dieses kostbare Zeugnis sagt der Herr auch einem jeden von uns, was er dem Apostel Paulus sagte: „Meine Gnade genügt dir“ (2. Kor 12,9). Seine Gnade genügt, reicht aus für dich, denn deine Kraft wird in der Schwachheit auf ihr Vollmaß gebracht.

Die Frage, die im Hohenlied der Geliebten gestellt wird, ist:

„Was ist dein Geliebter vor einem anderen Geliebten, du Schönste unter den Frauen? Was ist dein Geliebter vor einem anderen Geliebten, dass du uns so beschwörst?“ (Hld 5,9).

Das gibt für sie eine wunderbare Gelegenheit, ihr Zeugnis nach den Belehrungen der Erfahrung und Prüfung zur Ehre des Herrn abzulegen. Gereift durch Trübsale vermag die Geliebte dann ein vollkommenes Zeugnis über die Person des Geliebten abzulegen.

Dieses Zeugnis ist in jeder Beziehung bemerkenswert. Nichts von alledem, was die anbetungswürdige Person des Geliebten anbetrifft, bleibt den Beschäftigungen und Zuneigungen der Geliebten fremd. Die Geliebte zählt die Verdienste ihres Geliebten auf und beschreibt die Segnungen und Gnadengaben in einer so wunderbaren Weise, dass man gewahr wird:

  • Ihr Geliebter ist niemand anderes als der eingeborene Sohn des Vaters, der Sohn, in welchem und durch welchen Gott uns angenehm und passend gemacht hat für sich selbst schon in dieser Zeit und für die Ewigkeit (Eph 1,4).
  • Dieser ist der einzige und geliebte Sohn, der von Ewigkeit her der Gegenstand der reinen und vollkommenen Wonne Gottes ist, an dem der Vater sein ganzes Wohlgefallen findet (Spr 8,22–31; Mt 3,17; 17,5b).
  • Es ist der Sohn, den der Vater auf die Erde herabgesandt hat, um den Menschen seinen Namen und seine Liebe kundzumachen (Joh 1,14–18; 3,16). Es ist der Sohn, den der Vater geliebt und dem der Vater alles in die Hand gegeben hat und von dem Er gesagt hat: „Ihn hört!“ (Joh 3,35; 5,20; 13,3; 17,2; Mt 17,5b; Mk 9,7b; Lk 9,35).
  • Dies ist auch der Sohn, den der Vater lieb hat, weil Er sein Leben gelassen hat, um es wieder an sich zu nehmen in dem Lichtglanz der Auferstehung gemäß dem Gebot seines Vaters (Joh 10,17.18).

Ganz entsprechend seines Leidensweges an das Kreuz ist dieser Vielgeliebte aus Gnaden unser persönlicher Vielgeliebter geworden, denn Gott lädt uns dazu ein, alle unsere Freude und Wonne an diesem seinem Sohn zu suchen, der der Gegenstand seines Wohlgefallens in Ewigkeit ist.

Können wir in voller Aufrichtigkeit unseres Herzens sprechen, wie die Geliebte im Hohenlied: „Mein Vielgeliebter!“? Ist diese Sprache schon so schön im Mund des gläubigen Überrests Israels, dargestellt als irdische Braut des Königs der Könige, so passen diese Worte eben auch in einem höheren Sinn – noch zarter, innerlicher – auf die himmlische Braut des Herrn, nämlich auf die Braut, die der Herr der Herrlichkeit vorbereitet und einlädt, sich bereit zu machen im Hinblick auf die Hochzeit des Lammes und auf die unermesslichen Glückseligkeiten, die die Ewigkeit ausfüllen werden!

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