Der Brief an die Galater

Kapitel 1

Der Brief an die Galater

„Paulus, Apostel, nicht von Menschen noch durch einen Menschen, sondern durch Jesus Christus und Gott, den Vater, der ihn aus den Toten auferweckt hat!“ Wie schon in der Einleitung bemerkt, sind die Eingangsworte des Briefes eigenartig. In manchen anderen Briefen betont Paulus seine Berufung als Knecht und Apostel Jesu Christi „durch Gottes Willen“, aber nirgendwo hebt er das Fehlen jeder menschlichen Bestätigung so stark hervor wie hier; auch der Zusatz: „der ihn (Christum) aus den Toten auferweckt hat“, ist ungewöhnlich und charakteristisch für den Brief. Aber nicht nur entbehrte die Berufung des Apostels jedes menschlichen Ausgangspunktes, auch als Vermittler oder als Werkzeug war der Mensch in keiner Weise dabei beteiligt gewesen. Sie war unmittelbar durch Jesus Christus erfolgt, und zwar nicht in Jerusalem, der Wohn- und Wirkungsstätte des jungen Saulus, sondern fern von dem großen Mittelpunkt der damaligen religiösen Welt, auf dem Weg nach Damaskus. Dort war ihm Gott, der Vater, begegnet in seinem Geliebten, den Saulus so glühend hasste, den Gott aber auferweckt hatte aus den Toten. Paulus war nicht, wie die übrigen Apostel, durch den auf der Erde lebenden Messias in sein Amt eingeführt worden, sondern, ganz unabhängig von jenen, durch den aus den Toten auferstandenen und zur Rechten Gottes verherrlichten Herrn. So wurde gerade das, was die Verführer als Anlass benutzt hatten, um Paulus in den Augen der Galater herabzusetzen, zu einem Beweis der besonderen Bedeutsamkeit und Kraft seiner Berufung. Mit einem Schlag wird dadurch die ganze Haltlosigkeit der Behauptungen jener bösen Arbeiter bloßgelegt.

„Nicht von Menschen, noch durch einen Menschen. „ Auf einem Weg, auf den der Hass gegen Christus ihn gebracht hatte und wo Empfehlungsbriefe und Vollmachten von Menschen ihn begleiteten, war Saulus plötzlich auf wunderbare Weise stillgestellt worden: ein Licht aus dem Himmel hatte ihn umstrahlt und eine Stimme von oben zu ihm geredet. Und als dem Erblindeten drei Tage später ein Bote zugesandt worden war, damit er wieder sehend und mit Heiligem Geist erfüllt würde, hatte Gott nicht einen hervorragenden Mann, einen Apostel oder doch eine Säule der Versammlung, dazu benutzt, sondern einen „gewissen Jünger“, einen „frommen Mann nach dem Gesetz“. Der hatte ihm die Hände aufgelegt und ihn darin veranlasst, sich taufen zu lassen (s. Apg 9 u. 22). Somit hatte Gott die äußeren Umstände der Bekehrung und Berufung des Apostels so gestaltet, dass für den Menschen und sein Tun auch nicht der geringste Spielraum geblieben war. Alles war nicht nur von Seiten des Herrn, sondern „durch Jesus Christus und Gott, den Vater“, geschehen. Und als dann später die Zeit kam, dass Paulus als Apostel der Nationen seinen Dienst beginnen sollte, „sprach der Heilige Geist: Sondert mir nun Barnabas und Saulus zu dem Werk aus, zu dem ich sie berufen habe“ (Apg 13,2). So hat Gott Sorge dafür getragen, dass gerade der Mann, der einen so besonderen Platz in seinem Werk ausfüllen, der der große Herold Seines Evangeliums und der hochbegnadigte Verwalter seiner Geheimnisse werden sollte, ohne Mitwirkung oder Anerkennung seitens irgend eines hervorragenden Menschen berufen wurde.

Grundsätzlich ist das ja immer so: der Herr gibt Evangelisten, Hirten und Lehrer; Gott wirkt alles und in allen; der Heilige Geist teilt aus, wie Er will (Eph 4; 1. Kor 12). Treue, gottesfürchtige Männer, oder die ältesten Brüder in einer Versammlung, mögen durch gemeinsames Beten, vielleicht durch Handauflegen, ihrer Übereinstimmung mit dem Dienst eines Bruders Ausdruck geben, mögen ihn für eine größere Reise oder ein außergewöhnlich mühevolles Werk der besonderen Gnade Gottes befehlen (wie z. B. in Apostelgeschichte 13,3), aber das hat mit der Berufung in den Dienst nichts zu tun. Selbstverständlich dürfen und wollen wir dabei nicht vergessen, dass der Dienst und das Amt eines Apostels eine ganz besondere Sache war. Sollten doch die Apostel und Propheten des Neuen Testamentes die Grundlage des heiligen Tempels bilden, dessen Eckstein Christus ist.

In anderen Briefen verbindet der Apostel gern seinen Namen mit dem des einen oder anderen Bruders, Timotheus, Silvanus usw.; hier sagt er: „… alle Brüder, die bei mir sind. „ Geschieht es, um dadurch den Ernst und das Gewicht seiner Ausführungen zu erhöhen? Oder um den Galatern zu zeigen: Seht, alle Brüder, die bei mir sind, stimmen mit mir überein; also erwägt wohl, wo ihr hingekommen seid? Vielleicht beides. Jedenfalls war die Berufung auf alle Brüder, die bei Paulus und mit ihm eines Sinnes waren, ernst für die Galater. Nicht minder beachtenswert war es auch für sie, dass der Apostel dem gewöhnlichen Gruß: „Gnade euch und Friede von Gott, dem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus“, die Worte hinzufügt: „… der sich selbst für unsere Sünden gegeben hat, damit er uns herausnehme aus der gegenwärtigen bösen Welt, nach dem Willen unseres Gottes und Vaters.“

Gerade das war es, was sie vergessen hatten. Ihr Herr Jesus Christus hatte für ihre Sünden gelitten, war für sie gestorben, als sie noch Sünder und Feinde waren, und nun wollten sie sich unter Gesetz stellen, das niemals Sünden hinwegnehmen kann?! Ihr Heiland hatte ein Fluch für sie werden müssen, um sie aus der gegenwärtigen bösen Welt herauszunehmen, und sie wollten in diese Welt zurückkehren?! Das Gesetz war für Menschen „im Fleisch“ gegeben, für solche, die diesem Zeitlauf angehören. Ihnen sollte es als Richtschnur dienen, sie zugleich von ihrer Sündhaftigkeit und völligen Kraftlosigkeit überführen. Der Gläubige aber ist nicht mehr „im Fleisch“; er ist „im Geist“, ist ein Mensch „in Christus“, für den es keine Verdammnis mehr gibt, ein Mensch, der nicht mehr nach dem Fleisch, sondern nach dem Geist wandelt (Röm 8). Mag auch das Fleisch noch in ihm sein – in dem Tod Christi ist es gerichtet, und die Gläubigen „haben das Fleisch gekreuzigt samt den Leidenschaften und den Begierden“ (Gal 5,24).

Aber mehr noch. Obwohl noch in der Welt, sind wir nicht mehr von der Welt. Wir gehören einer neuen Welt an. „Wenn jemand in Christus ist, da ist eine neue Schöpfung, das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden“ (2. Kor 5,17). Das Gesetz richtet sich an die Menschen des gegenwärtigen Zeitlaufs. Es ist gut, „wenn jemand es gesetzmäßig gebraucht“, d. h. wenn er es auf die anwendet, für die es bestimmt ist (1. Tim 1,8–10). An solche aber, die nicht von der Welt sind, gleichwie Christus nicht von der Welt ist, hat das Gesetz keinerlei Anspruch mehr. Sie sind „eines anderen geworden, des aus den Toten Auferweckten“, um Gott Frucht zu bringen (Röm 7,4), und, seitens des Herrn nach seiner Auferstehung in die Welt gesandt, gleichwie Er von dem Vater gesandt war, sollen sie als Botschafter des Friedens der Welt durch Wort und Wandel bezeugen, dass sie als ein befreites Volk nicht ihr, sondern dem Himmel angehören. Aus der Welt herausgenommen und infolge der Offenbarung des Vaters in dem Sohn in eine ganz neue Ordnung der Dinge hineinversetzt, werden sie gar nicht mehr als „in der Welt lebend“ betrachtet (vgl. Kol 2,20). Gestorben und auferweckt mit Christus, sind sie berufen, das zu suchen, was droben ist, und Ihn zu verherrlichen der Stellung gemäß, die Er jetzt zur Rechten seines Gottes und Vaters einnimmt. Ihm sei, so schließt der Apostel seine einleitenden Worte, „die Herrlichkeit von Ewigkeit zu Ewigkeit!“ Wir fügen dieser Danksagung des Apostels von Herzensgrund unser „Amen“ hinzu.

Im nächsten Vers kommt Paulus dann ganz unvermittelt zu dem großen Gegenstand, der sein Herz erfüllte. Man wird an die Worte Elihus erinnert, der einst aus tiefem Herzensdrang heraus zu Hiob und seinen Freunden sprach: „Voll bin ich von Worten; der Geist meines Innern drängt mich“ (Hiob 32,18).

„Ich wundere mich, dass ihr so schnell von dem, der euch in der (o. durch die) Gnade Christi berufen hat, zu einem anderen1 Evangelium umwendet, das kein anderes ist“ (V. 6.7). Auch wir mögen uns darüber wundern, wie es schon nach so wenigen Jahren dem Feind gelingen konnte, die Herzen dieser einst so glücklichen Leute zu verwirren und von der treuen Belehrung des Apostels abzulenken. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass sie das Wort Gottes nicht besaßen, wie wir es heute in Händen halten. Sie konnten die Lehren, die ihnen gebracht wurden, nicht an diesem untrüglichen Prüfstein messen. Immerhin war es erstaunlich, dass sie sich so bald von dem hatten ablenken lassen, der sie in der Gnade Christi berufen hatte.

Und wem hatten diese Galater ihr Ohr geliehen? Den Predigern eines anderen Evangeliums, das sich wesentlich von dem durch Paulus verkündigten unterschied und doch in Wirklichkeit kein anderes war. Denn wie hätte es ein anderes Evangelium, eine andere gute Botschaft geben können neben dem, was Gott über seinen Sohn bezeugt hatte? Alles andere war und ist nicht die Wahrheit, kann nicht die Wahrheit sein. Sobald man dem Evangelium Gottes etwas nimmt oder ihm irgendetwas Menschliches beimischt, ist es nicht mehr das Evangelium Gottes, und indem man diese andere Botschaft annimmt, wendet man sich in Wirklichkeit von Gott selbst ab, von dem, der uns in der Gnade Christi berufen hat.

Dieses kurze Wort „in der Gnade Christi“ lenkt unsere Gedanken sofort auf das hin, was der Feind in dem vorliegenden Fall als Verführungsmittel benutzt hatte. Es war, wie schon wiederholt bemerkt, das Gesetz, das dem Menschen sagt: „Tue dies, und du wirst leben“, also genau das Gegenteil von dem, was der Apostel ihnen verkündigt hatte. Er hatte diesen armen Gläubigen aus den Heiden die Botschaft von der freien, unverdienten Gnade Gottes gebracht, und sie hatten sie angenommen und waren auf diesem Weg umsonst gerechtfertigt worden „durch seine Gnade, durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist“ (Röm 3,24). Alles war Gottes Werk, Gottes Tun, nichts war aus ihnen oder von ihnen. Gnade hatte sie, die einst ohne Gott und ohne Hoffnung in der Welt waren, Gott so innig nahe gebracht und ihre Herzen so unaussprechlich glücklich gemacht. Und nun wollten sie sich von den ihnen in Christus aus Gnaden geschenkten Reichtümern umwenden zu dem Menschen und seinem armseligen Tun? Wollten den Boden der Gnade verlassen und sich unter ein Gesetz stellen, das dem Menschen nur Fluch, Tod und Verdammnis bringen kann?

Sie dachten freilich nicht daran, Christum aufzugeben und ohne Ihn fertig zu werden, aber sie wollten ihr eigenes Wirken neben Ihn und sein Werk stellen, die Beschneidung hinzufügen, die Gnade mit dem Gesetz vermengen. Sie hatten auf Lehrer gelauscht, die das Evangelium auf diese Weise zu verkehren gedachten. Es war ja kein anderes Evangelium, das diese Leute brachten; ihr Ziel war nur, die Galater zu verwirren und das Evangelium des Christus zu verkehren (V. 7). Fürwahr, solchen Männern ihr Ohr zu leihen, war mehr als verhängnisvoll, war ein großes Übel.

Wie verhängnisvoll, ja, Verderben bringend dieses Übel, das sich damals in seinen Anfängen zeigte, seitdem gewirkt hat, das zeigt uns der allgemeine Zustand der Christenheit unserer Tage. Mag auch der Unterschied zwischen dem katholischen und dem protestantischen Teil derselben in mehr als einer Beziehung groß, sehr groß sein, in dieser Hinsicht stehen beide auf demselben Boden. Man predigt selbstverständlich nicht die Beschneidung, redet nicht von einer Rückkehr zu dem zeremoniellen Gesetz (obwohl es auch heute nicht an Stimmen fehlt, die das Halten des Sabbats und das Zahlen des Zehnten fordern), aber man stellt das eigene Tun in den verschiedensten Formen, feiner oder gröber, neben das Werk Christi oder gar an dessen Stelle. Selbst Taufe und Abendmahl werden dazu benutzt. Wohl ist der Geist Gottes in unseren Tagen mächtig wirksam, um die wahren Gläubigen aus ihren Verbindungen mit einer Religion zu lösen, die dem Fleisch (es gibt auch ein religiöses Fleisch) und dem Willen des Menschen Raum lässt, die zum großen Teil aus der Beobachtung sittlicher Gebote, ja, bloß äußerer, christlicher Formen und Satzungen besteht. Er ist mehr als je bemüht, sie zu Christus allein, zu seinem Wort und seinem Namen zurückzuführen. Aber überall zeigt sich, wenn auch nicht immer in gleicher Stärke, die Neigung, gesetzliches Wirken, eigenes Tun mit der Gnade zu vermengen. Das ganze christliche Zeugnis unserer Tage trägt mehr oder weniger den Charakter der unheilvollen, grundsätzlichen Vermengung von Gesetz und Gnade, von Fleisch und Geist, die dahin zielt, die Seelen zu verwirren und das Evangelium Christi zu verkehren.

Überaus ernst ist die Art und Weise, in der der Apostel weiterhin von der Verkündigung eines Evangeliums redet, das nicht mit dem von ihm verkündigten übereinstimmte: „Aber wenn auch wir oder ein Engel aus dem Himmel euch etwas als Evangelium verkündigte außer dem, was wir euch als Evangelium verkündigt haben: Er sei verflucht!“ (V. 8). Könnten wir uns eine feierlichere Erklärung denken als diese? Und vergessen wir nicht, dass der Heilige Geist es ist, der durch den Apostel redet. Wenn also irgendjemand, sei es Paulus selbst oder ein Engel aus dem Himmel, etwas als Evangelium verkündigen würde, außer dem, was er ihnen verkündigt, oder, wie er im nächsten Vers, seine Worte wiederholend, nachdrücklich hinzufügt, „außer dem, was sie empfangen hatten“, so sollte der Fluch einen solchen treffen. Nichts durfte mit dem, was er verkündigt hatte, vermengt, nichts daran gedeutelt, nichts dem, was sie empfangen hatten, hinzugefügt werden. Würde jemand das tun – er sei verflucht!

Was war es, das den Apostel trieb, so schneidend scharf zu reden? War es der Gedanke an seine Ehre als Apostel? Oder gar Eifersucht im Blick auf jene anderen Lehrer? Nichts, nichts von solchen Dingen! Die Galater kannten ihren Apostel besser. Überdies stellte er sich ja selbst mit unter die furchtbaren Folgen eines solchen Tuns. Nein, es war Liebe, reine, göttliche Liebe zu den Galatern, tiefe Sorge um ihr geistliches Wohl. Das was er ihnen verkündigt und was sie empfangen hatten, war das Evangelium Gottes. Ein Verkehren desselben konnte deshalb nur von dem Feind der Seelen sein und musste notwendig zu ihrem Verderben gereichen.

Sollten nicht ähnliche Gefühle unsere Herzen erfüllen, wenn wir sehen und hören, was alles heute den Seelen der Menschen und vor allem der Gläubigen in Wort und Schrift geboten wird? Wir können an der Schwäche dieser Gefühle ermessen, wie gering unsere Liebe zu unseren Geschwistern und unsere Sorge für sie ist. O möchte es dem Heiligen Geist mehr als bisher gelingen, die Herzen der Kinder Gottes in dieser Beziehung zu erleuchten und ihre Gewissen aufzuwecken! Lasst uns zugleich, im Blick auf uns selbst, nicht vergessen, dass wir verantwortlich sind, darauf zu achten, was wir hören oder lesen, wem wir unser Ohr leihen. Mancher meint, die Freiheit zu haben, alles lesen, überallhin gehen zu dürfen. Wie viel Schaden aber diese vermeintliche Freiheit schon angerichtet hat, davon könnten manche, wenn sie wollten, Betrübendes berichten.

Auf diesem Gebiet spielt auch Menschengefälligkeit gar oft eine große Rolle. Man geht hierhin, geht dorthin, um Nachbarn oder Freunde nicht vor den Kopf zu stoßen, oder als Menschen zu gelten, die weitherzig genug sind, um über das eine und andere Verkehrte in Lehre oder Praxis hinwegsehen zu können. Aber so gut und empfehlenswert Weitherzigkeit und Duldsamkeit am rechten Platz sind, so bedenklich, ja, verhängnisvoll werden sie, wenn die Wahrheit Gottes auf dem Spiel steht, wenn z. B., um nur eines zu nennen, die Person oder das Werk Christi angegriffen wird. Mit heiliger Eifersucht wachte Paulus über die Reinheit der Lehre, mochte es Menschen gefallen oder nicht. „Denn suche ich jetzt Menschen zufrieden zu stellen oder Gott? Oder suche ich Menschen zu gefallen? Wenn ich noch Menschen gefallen wollte, so wäre ich Christi Knecht nicht“ (V. 10).

Ein treuer Knecht Christi sein und nach Anerkennung seitens der Menschen trachten sind zwei Dinge, die unmöglich zusammengehen können, und doch mühen sich so viele ab, sie miteinander zu vereinigen. Paulus wusste sehr wohl, dass sein unbeugsames Festhalten an der Reinheit des Evangeliums von Christus den Menschen anstößig war und selbst von Gläubigen missverstanden werden konnte. Es ist ja heute noch so: Wer treu für die Wahrheit einsteht, muss sich auch heute auf Anklagen wie „lieblos, hochmütig, unduldsam“ und dergleichen gefasst machen. Aber was macht es aus? Paulus redete und schrieb nicht, um Menschen zu gefallen. Er trachtete allein nach der Anerkennung Gottes und wünschte in allem als ein Knecht Christi erfunden zu werden. – Wollen wir ihm nicht nachahmen?

So war denn auch das Evangelium, das er verkündigt hatte, nicht „nach dem Menschen“ (V. 11). So wenig wie dessen wunderbarer Inhalt den Gedanken der Menschen entsprach, so wenig stand die ganze Einführung des Apostels in seinen Dienst in Übereinstimmung mit menschlichen Erwartungen. Die Galater wussten, dass er auf ganz außergewöhnlichem Weg mit Jesu zusammengetroffen war. Aber sie sollten, und wir mit ihnen, noch Näheres hören. Paulus hatte von niemand das Evangelium predigen gehört, oder wenn es einmal geschehen war, wie z. B. bei der Steinigung des Stephanus, hatte es nur dazu gedient, seinen Hass gegen Christum zu vertiefen und sein Herz mit rasender Wut gegen die Jünger Jesu zu erfüllen. Auch hatte er bei seiner Bekehrung auf dem Weg nach Damaskus Christum nicht etwa als den König der Juden kennengelernt, sondern als den verherrlichten Menschensohn, das Haupt seines Leibes, der Versammlung. „Saul, Saul, was verfolgst du mich?“, hatte ihm die Stimme vom Himmel her zugerufen. Jesus im Himmel droben und die Heiligen auf der Erde unten waren eins; sie bildeten ein Ganzes, einen Körper, den Christus. So hatte er das Evangelium „weder von einem Menschen empfangen noch erlernt, sondern durch Offenbarung Jesu Christi“ (V. 12).

An der Aufrichtigkeit und Gründlichkeit seiner Bekehrung konnte niemand zweifeln. Denn er war, wie die Galater gleichfalls wussten, früher ein übermäßiger Eiferer für die Religion seiner Väter gewesen, hatte alle seine Altersgenossen in der Strenge der Beobachtung der jüdischen Satzungen übertroffen und war auf diesem Weg „über die Maßen“ zu einem Verfolger und Zerstörer der Versammlung Gottes geworden (V. 13.14). Wie lag darin zugleich eine Verurteilung der Galater in ihrer Neigung, zu dem zurückzukehren, was diesen Mann auf einen solchen Weg gebracht hatte! Was anders hätte ihn in seinem Lauf aufhalten und zur Umkehr bewegen können, als nur das mächtige und gnadenvolle Erbarmen des Gottes, der „ihn von seiner Mutter Leib an abgesondert und durch Seine Gnade berufen“ hatte, und dem es nun wohlgefiel, seinen Sohn in ihm zu offenbaren? Wunderbarer, anbetungswürdiger Gott! Wie hat Er, der aus dem Bösen Gutes hervorgehen lassen kann und es so oft tut, auch hier die Torheit der Galater dazu benutzt, um uns von so manchem Kenntnis zu geben, das uns sonst wohl verborgen geblieben wäre! Eine Tatsache nach der anderen muss ans Licht treten, um die Person und die Geschichte dieses „auserwählten Gefäßes“ (Apg 9,15) näher zu beleuchten, zur Beschämung der Galater, zu unserer Freude und Stärkung im Glauben. Der Apostel Petrus hatte einst auch eine besondere Offenbarung von Seiten Gottes empfangen, und insofern besteht zwischen ihm und Paulus eine besondere Ähnlichkeit. Wenn er Jesus als den „Sohn des lebendigen Gottes“ bekennt, spricht der Herr die bekannten Worte zu ihm: „Glückselig bist du, Simon, Bar Jona; denn Fleisch und Blut haben es dir nicht offenbart, sondern mein Vater, der in den Himmeln ist“ (Mt 16,17). Aber doch besteht zwischen der Art und dem Inhalt der beiden Offenbarungen ein bemerkenswerter Unterschied. Die erste geschah an Petrus: Gott offenbarte ihm seinen Sohn. Bei Paulus aber gefiel es Gott wohl, „seinen Sohn in ihm zu offenbaren“. So gering der Unterschied auf den ersten Blick erscheinen mag, so bedeutungsvoll wird er bei näherer Betrachtung. – Wieder eines der zahlreichen Beispiele dafür, dass wir das siebenmal geläuterte Wort Gottes nie zu genau lesen können, wohl aber oft nicht genau genug lesen.

Wir haben weiter oben bereits darauf hingewiesen, dass Paulus schon bei seiner Bekehrung in die wunderbare Wahrheit von der Einheit des Gläubigen mit Christus eingeführt wurde, deren Kenntnis durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes sich in ihm vollenden, und die er dann Juden und Heiden verkündigen sollte. Diese Wahrheit ist Petrus und den übrigen Aposteln nicht anvertraut worden. Sie war ein Geheimnis, dessen Verwaltung Paulus übertragen war. Darum redet er auch wiederholt von „seinem Evangelium“; nicht als ob er ein anderes, auf neuer Grundlage aufgebautes Evangelium verkündigt hätte – das war ja unmöglich – wohl aber ein Evangelium, dem eine neue, bis dahin nicht offenbarte Wahrheit hinzugefügt war, eben jene Wahrheit von der Einheit Christi und der Versammlung, seines Leibes. Diese Wahrheit wird in der vorliegenden Stelle freilich nur angedeutet; aber ohne Zweifel stand sie vor dem Geist des Schreibers, als er davon redete, dass es Gott gefallen habe, seinen Sohn in ihm zu offenbaren.

Bei dieser Gelegenheit sei daran erinnert, dass Paulus die ihm anvertraute Botschaft auch das „Evangelium der Herrlichkeit des Christus“ nennt (2. Kor 4,4). Es ist das Evangelium von einem Heiland, der nicht nur gestorben und auferweckt, sondern auch zur Rechten Gottes droben verherrlicht und nun als Haupt über alles seinem Leib, der Versammlung (Gemeinde), geschenkt ist (Eph 1,20–23). Von dieser Verherrlichung des Sohnes des Menschen und den damit verbundenen Ratschlüssen Gottes reden die anderen Apostel nicht. Deshalb konnte Paulus auch den Kolossern schreiben, dass er durch die Mitteilung der ihm offenbarten Dinge als Diener der Versammlung „das Wort Gottes vollendet“, d. h. das noch Fehlende ihm hinzugefügt habe. Mit der Offenbarung des Geheimnisses von Christus und der Versammlung, das von den Zeitaltern und den Geschlechtern her verborgen war, ist der Kreis der Mitteilungen Gottes geschlossen worden. Darüber hinaus gibt es nichts mehr.

Wenn wir alles das bedenken, verstehen wir noch besser, dass das Evangelium des Paulus weder „nach dem Menschen“ war, noch „von einem Menschen empfangen“ werden konnte, sondern nur durch eine unmittelbare Offenbarung seitens des Herrn. Nun, als es Gott wohlgefiel, so seinen Sohn in unserem Apostel zu offenbaren, damit er Ihn unter den Nationen verkündige, war er „nicht mit Fleisch und Blut zu Rate gegangen, auch nicht nach Jerusalem zu denen hinaufgezogen, die vor ihm Apostel waren“ (V. 16. 17). Er besprach sich nicht mit Menschen, weder mit sich noch mit anderen, ging aber auch nicht nach Jerusalem, um den dort weilenden Aposteln seine Berufung mitzuteilen und von ihnen eine Bestätigung derselben zu empfangen. Gott hatte ihn berufen, und Ihm überließ er nun auch die Ordnung seines ganzen weiteren Weges. Gottes Gedanken sind nicht unsere Gedanken, unsere Wege nicht seine Wege. Er führte seinen Knecht, nachdem dieser einige Tage in der Synagoge von Damaskus gepredigt hatte, dass Jesus der Sohn Gottes ist (Apg 9,19.20), in die Stille nach Arabien. Hier verweilte er drei Jahre. Nichts anderes ist uns über diese lange Zeit mitgeteilt. Wir werden aber nicht fehlgehen, wenn wir sie als eine ernste Vorbereitungszeit, als Gottes Schule für seinen Knecht und dessen ferneren Dienst betrachten. Wir begegnen diesem Tun Gottes ja bei manchem seiner Knechte (Joseph, Moses, Elia usw.), die Er in hervorragender Weise benutzen wollte. Ehe Er sie in die Öffentlichkeit stellte, führte Er sie beiseite in die Einsamkeit, um sie dort nicht nur in eine nähere Erkenntnis seiner Gedanken, sondern auch ihres eigenen Nichts einzuführen.

Wer ist ein Lehrer wie Er?

„Darauf, nach drei Jahren (einschließlich. eines zweiten kurzen Aufenthaltes in Damaskus) ging ich nach Jerusalem hinauf, um Kephas kennenzulernen, und blieb fünfzehn Tage bei ihm. Ich sah aber keinen anderen der Apostel, außer Jakobus, den Bruder des Herrn“ (V. 18.19). Der Apostel betont wohl ausdrücklich die Kürze seines Aufenthaltes in Jerusalem, nur fünfzehn Tage, um von vornherein jeden Gedanken auszuschließen, als habe er dort eine Art Lehrkursus durchgemacht. Dass er Petrus, den bekannten Apostel der Beschneidung, gern kennenlernen wollte, ist mehr als begreiflich. Aber außer ihm hatte er nur noch Jakobus, den Bruder des Herrn, gesehen. Nachdem er dann noch feierlich bezeugt hat, dass er „vor Gott schreibe und nicht lüge“, fährt er fort:

„Darauf kam ich in die Gegenden von Syrien und Zilizien. Ich war aber den Versammlungen von Judäa, die in Christus sind, von Angesicht unbekannt; sie hatten aber nur gehört: Der, der uns einst verfolgte, verkündigt jetzt den Glauben, den er einst zerstörte. Und sie verherrlichten Gott an mir“ (V. 21–24). Der einfache Inhalt dieser Verse bedarf keiner näheren Erklärung. Auch die Galater werden die beschämende Unterweisung, die in ihnen lag, wohl ohne Mühe verstanden haben. Die Versammlungen in Judäa, denen der Apostel von Angesicht unbekannt war – sie hatten nur gehört, dass der einstige Verfolger der Jünger Jesu jetzt den Glauben verkündige, den er einst zerstörte –, hatten Gott an ihm verherrlicht. Dankbar hatten sie die Gnade anerkannt, die Gott diesem Mann geschenkt hatte, und mit inniger Freude hatten sie sich von ihm weiter einführen lassen in das Verständnis der Gedanken und Ratschlüsse Gottes.

Und die Versammlungen in Galatien, die durch Paulus in anhaltender, mühevoller Arbeit gegründet worden waren, denen er unter vielen Leiden und Gefahren das kostbare Evangelium von der Gnade gebracht hatte, die den unermüdlichen Fleiß, die selbstverleugnende Liebe und Treue dieses Knechtes Jesu Christi persönlich kennengelernt hatten? Ach!, sie waren irre an ihm geworden, fanden allerlei an ihm auszusetzen, verwundeten sein Herz, indem sie sich von den jüdischen Verführern „bezaubern“ ließen und wieder umwandten, um den armseligen und schwachen Elementen der Welt von neuem zu dienen. Wie glückselig waren sie einst gewesen, als Paulus ihnen Jesus Christus so lebendig vor Augen und Herzen gemalt hatte, als wäre Er in ihrer Mitte gekreuzigt worden! Und jetzt? O wie musste die feierliche Beteuerung des Apostels im 20. Vers, mit der nachfolgenden Erinnerung an die Versammlungen in Judäa, ihr Herz erreichen und ihr Gewissen treffen! Werden sie nicht zur Besinnung gekommen sein, sich geschämt und wieder angefangen haben, Gott an seinem Knecht zu verherrlichen?

Fußnoten

  • 1 oder „verschiedenen“; es ist bekanntlich nicht dasselbe Wort wie im nächsten Vers.
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